Kapitel 1
Entwicklungsgeschichte
und Verhalten des Pferdes
1.1 Entwicklungsgeschichte des Pferdes
Das Pferd hat sich, wie jede Tierart, im Laufe der Entwicklungsgeschichte durch natürliche Selektion an bestimmte Lebensräume angepasst.
Der älteste bekannte Vorläufer des Pferdes ist der Eohippus, das Pferd des Eozäns (siehe Abbildung 1). Es lebte vor ca. 60 Mill. Jahren, war etwa 25 bis 45 cm groß, hatte einen vierzehigen Vorderfuß, einen dreizehigen Hinterfuß und das Gebiss eines Laubfressers.
In den folgenden Entwicklungsstufen, die Millionen Jahre dauerten, wurden die Tiere allmählich größer und entwickelten sich vom Wald- zum Steppentier. Die Nahrungsumstellung von Blättern auf die härteren Gräser führte zu einer Veränderung des Gebisses.
Der Wechsel des Lebensraumes vom Wald zur Steppe machte sowohl Wanderungen zur Nahrungssuche erforderlich als auch die Fähigkeit, mit großer Geschwindigkeit vor Feinden fliehen zu können. So entstand ein hoch spezialisiertes Lauf- und Fluchttier, das nur noch mit der mittleren behornten Zehe den Boden berührte, dem Huf. Deshalb nennt man die pferdeartigen Tiere (Equiden) auch Einhufer (Einzeher). Dazu gehören die echten Pferde, die Zebras, die Esel und die Halbesel.
Schneller, ausdauernder Lauf erfordert eine gute Durchblutung der Muskeln und daher viel Sauerstoff, weshalb sich Atmung und Kreislauf der Pferde auch auf diese Anforderungen eingestellt haben. Ebenso stieg die Überlebenschance vor dem Feind durch die Entwicklung hochsensibler Sinnesorgane für Sehen, Hören und Riechen.
Ein weiterer Aspekt der Arterhaltung ist eine ausgeprägte Rollenverteilung im Herdenverband. Daraus resultiert die Entwicklung eines immer weiter verfeinerten Sozialverhaltens und des Herdentriebs.
| Das Pferd ist ein hoch spezialisiertes, in Herden lebendes Lauf- und Fluchttier. In Einzelhaltung, getrennt von den Artgenossen sowie bei nicht ausreichender Bewegung, fühlt es sich nicht wohl. |
Abbildung 1: Die Evolution des Pferdes
1.2 Verhaltensbiologie des Pferdes
Die Entwicklungsgeschichte des Pferdes ist als ein Prozess andauernder Auseinandersetzung mit der Umwelt anzusehen.
Die Zuchtauswahl betrieb in diesem Falle die Natur; nur wer sich anpassen konnte, überlebte. Durch die Domestikation änderte sich das. Der Mensch betreibt Zuchtauswahl auf seine Leistungsziele hin und verändert die Wildart.
„Domestikation ist ein generationsübergreifender Prozess, bei dem durch die mehr oder weniger gezielte Auswahl von besonders umgänglichen Tieren für die Zucht durch den Menschen die genetische Veranlagung der Tiere verändert wird. Mit dieser Selektion auf Zahmheit gehen neben der verringerten Flucht- und Aggressionsbereitschaft auch typische, körperliche Veränderungen einher. So sind bei domestizierten Tieren im Vergleich zu den entsprechenden Wildtieren ein verringertes Gehirnvolumen, eine Reduzierung des Verdauungstraktes und eine gesteigerte Fortpflanzungsrate zu erkennen – Begleiterscheinungen der durch den Menschen vereinfachten Lebensbedingungen vor allem durch die Bereitstellung von Futter“1 sowie der Schutz vor natürlichen Feinden.
Dennoch ist zum Verständnis jeder Haustierrasse die Kenntnis der Wildart unerlässlich, weil der Mensch davon ableiten muss, wie er das Pferd hält und nutzt. Er muss das Verhalten des Pferdes kennen, um das Pferd richtig zu behandeln und um dessen Lebensansprüche zufriedenstellend erfüllen zu können.
„Wichtig ist dabei auch zu beachten, dass Verhaltensweisen grundsätzlich nicht durch die Domestikation aus dem Verhaltensrepertoire verloren gehen oder neu dazukommen, sondern dass es nur zu Schwellenwertveränderungen kommt.
Das heißt: Nur die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verhalten gezeigt wird, und die Intensität, in der es ausgeübt wird, kann durch Domestikation abweichen. Daher besitzen auch unsere heutigen, seit etwa 5000 Jahren domestizierten Pferde noch die gleichen, wenn auch leicht schwächer ausgeprägten, für das Überleben der Wildpferde jedoch wichtigen Instinkte, wie beispielsweise eine hohe Fluchtbereitschaft.
Aufgrund der vergleichsweise geringen Änderung im Verhalten des Hauspferdes gegenüber dem ursprünglichen Wildpferd können Hauspferde auch ohne Betreuung durch den Menschen in entsprechenden Lebensräumen überleben“1.
Weil der Mensch die Verantwortung für das Pferd übernommen hat, muss er Bedingungen schaffen, die dem Pferd die Erfüllung seiner arttypischen Lebensbedürfnisse ermöglichen.
Das Pferd ist ein Steppentier, Herdentier, Fluchttier, Dauerfresser und besitzt ein gutes Anpassungsvermögen an Klimaveränderungen.
Daraus ergeben sich verschiedene arttypische Verhaltensweisen und Ansprüche, die bei der Haltung, Fütterung und dem Umgang mit dem Pferd beachtet werden müssen.
Dabei handelt es sich im Wesentlichen um folgende Verhaltenskomplexe:
- Sozialverhalten (+ Spielen)
- Fortbewegungsverhalten
- Ruheverhalten
- Ernährungsverhalten (Futter- und Wasseraufnahmeverhalten)
- Komfortverhalten
- Erkundungsverhalten
- Ausscheidungsverhalten
- Fortpflanzungs-/Sexualverhalten
1.2.1 Sozialverhalten
■ Sozialleben in der Herde
Pferde leben in freier Wildbahn in Familienverbänden von bis zu 20 Tieren, geführt von einer Leitstute und einem Leithengst. Hierzu gehören Altstuten und deren Fohlen bis zu einem Alter von drei Jahren.
Die Leitstuten führen die Herde zu neuen Wasser- oder Futterstellen, während der Hengst die Gruppe zusammenhält und sie gegen Angriffe von außen verteidigt.
Mit Beginn des zweiten oder dritten Lebensjahres verjagt er Hengstfohlen, die dann eine Junghengstgruppe bilden. Die Gestütspraxis, Hengst- oder Stutfohlenjahrgänge getrennt zu halten, entspricht also dem arttypischen Verhalten. Allerdings ist es tierschutzwidrig, Fohlen einzeln aufzuziehen, sei es auch mit der Mutter zusammen. Es ist für das spätere Leben des Fohlens unabdingbar nötig, im Sozialverband aufzuwachsen, um die Grundregeln der sozialen Einordnung zu erlernen. Zwar ist das Sozialverhalten angeboren, dennoch müssen die entsprechenden Strategien geübt werden können.
Das einzelne Tier findet seine Sicherheit innerhalb des sozialen Verbandes. Ruhen inmitten der sozialen Gruppe ist für Pferde besonders entspannend, weil immer einer der Artgenossen aufpasst. Fohlen liegen behütet inmitten der Herde. An insektenreichen windstillen Tagen dient der Schweif als Ventilator und Fliegenwedel zugleich. Das gegenseitige Fellkraulen dient der sozialen Hautpflege und auch dem Abbau sozialer Scheu. Dabei werden die Ohren seitab gestellt, die Nüstern sind eingekniffen, damit kein Staub eindringt (Putzgesicht).
Pferde fühlen sich nur sicher in der Gesellschaft von Artgenossen oder anderer Lebewesen, die sie als Partner akzeptieren. So erfolgt z.B. bei naturnaher Haltung ein Ortswechsel meist im engen Verband; als es noch Fressfeinde gab, war dieses Verhalten lebenserhaltend.
Einem Pferd außerhalb eines Gruppenverbandes Sicherheit zu vermitteln bedarf daher ständiger, geduldiger Zuwendung.
■ Ausdrucksverhalten und Kommunikation
Das Ausdrucksverhalten der Pferde richtig zu deuten ist eine besonders schwierige Aufgabe, die nur demjenigen gelingt, der sich intensiv mit dem ihm anvertrauten Pferd auseinandersetzt, es also beobachtet und einschätzen lernt. Pferde zeigen sowohl aufgrund ihres Ranges in der Herde als auch aufgrund ihres Geschlechts unterschiedliche Ausdrucksmerkmale, die es richtig zu deuten gilt. Das Ausdrucksverhalten beinhaltet Gesichtsausdruck, Lautäußerungen, Körperhaltung (z.B. Schweifhaltung) und Form der Fortbewegung (siehe Abbildung 2).
Gesichtsausdruck
- Ungerichtet: Dösen, Gähnen, Flehmen, Rossigkeitsgesicht
- Gerichtet: Unterlegenheitsgebärde des nicht erwachsenen Pferdes, Putzgesicht bei der sozialen Hautpflege, Drohgesicht, Schmerzgesicht
Akustisches Ausdrucksverhalten
- Wiehern
- Stöhnen
- Blasen
- Schnauben
- Quieken oder Quietschen
Körperhaltungen
- Die Palette reicht von absoluter Entspannung (Ruhestellung) bis zur höchsten Anspannung (Achtungstellung).
Abbildung 2: Ausdrucksverhalten von Pferden
Fortbewegung als Ausdrucksverhalten
- Hengst gegenüber Stuten: Imponiertrab, Umkreisen einer Stutengruppe, Treiben von Einzeltieren zur Gruppe hin, Nick-Droh-Treiben
- Hengst gegenüber Hengsten: Steigen, Beißen und Schlagen mit der Vorhand, begleitet von Wiehern, Schreien, Grunzen und Trompeten
- Stuten gegenüber Stuten: Anlegen der Ohren, Beißen, Schlagen mit der Hinterhand
- Hengst zur Feindmeidung: Im Gefahrenfall stellt sich der Hengst zwischen die Gefahrenquelle und die Pferdegruppe und treibt diese weg, falls er die Gefahrenquelle vorher durch Umkreisen als definitiv gefährlich erkannt hat.
attraktiv (anziehend; freundschaftlich aufeinander zukommend) | kohäsiv (zusammenhaltend; freundschaftlich beieinander... |