VINCENT KLINK
Der große Vordenker der wohlüberlegten Nahrungsaufnahme:
Alexandre Balthazar Laurent Grimod de la Reynière (1758–1837)
Es war ein besonderer Tag, dieser 20. November 1758. Ein Romanautor würde Blitz, Donner und schwarze Wolken in die Szene schieben. Aber die Sonne ging trotzdem auf über Paris, und es ließ sich alles gut an – bis zum Zeitpunkt der Niederkunft. Als der Säugling unmittelbar nach der grauenvollen Quergeburt der Mutter gezeigt wurde, schrie diese gellend und hörte nicht mehr damit auf. Angeekelt stieß sie das Kind von sich. Suzanne Françoise Élisabeth de Jarente de Sénac, hochwohlgeborene Nachfahrin des Bischofs von Orléans, bewegte sich in einer Welt der Schönheit und war selbst ein ganz bezauberndes Wesen. Der Anblick ihres Sohnes schockierte sie zutiefst: Der kleine Grimod hatte verkümmerte Gliedmaßen, seine kurzen Armstummel endeten in Krallen, die an einen jungen Hahn erinnerten.
Das Kind wurde in der Öffentlichkeit verleugnet und in die Fürsorge von Mademoiselle Quinault gegeben, die an der Comédie Française tanzte und schauspielerte. Das hatte der Großonkel, der Bischof von Orléans, eingefädelt. Grimod wuchs also in Theaterluft auf. So erklärt sich auch seine Vorliebe für die Bühne, für die Oper und das Spektakel.
Der Großvater hatte schon unter Ludwig XIV. jede Menge Louis-d’or angehäuft. Er amtete als Generalpächter und trieb die Steuern für die Krone ein. Davon reichte er längst nicht alles an die königliche Administration weiter. Im Stadtpalais der Reynières konnten es sich deshalb auch die Nachfahren noch leisten, nicht über Geld zu reden, denn es gab genügend davon.
Neider gab es ebenfalls genügend. Üble Gerüchte über die «Gottesstrafe», wie die Geburt Grimods genannt wurde, sickerten in die Öffentlichkeit. Eines Tages schritt der Vater zur Tat und suchte mit dem missgebildeten Knaben einen berühmten Schweizer Uhrmacher auf. Zwei Metallhände wurden in Auftrag gegeben und diese mit ziselierten Goldapplikationen versehen. Das Ergebnis konnte man durchaus als Wunder der Feinmechanik loben. Jeder Finger ließ sich einzeln bewegen. Es gestaltete sich anfangs jedoch als schwierig, die kindlichen Klauen in ihr Eisengefängnis zu drücken. Grimod litt Höllenqualen, und was der Vater als Fortschritt erachtete, befreite die Familie nicht vom Stigma des verstümmelten Sohnes. Grimod lebte weiterhin im Verborgenen und stand unter der Fuchtel eines bösartigen Privatlehrers, der ihm aber zumindest umfassend und wirkungsvoll den klassischen Bildungskanon verpasste.
Grimod stellte sich beim Gebrauch der Metallhände geschickt an, und la Reynière senior vermachte dem Uhrmacher zum Dank eine lebenslange Rente. Wenig später steckten die Eltern den Heranwachsenden mit elf Jahren in ein Internat, wo er sich in kurzer Zeit zu einem glänzenden Schüler entwickelte. Immer mehr gewöhnte sich der Bub an seine Eisenhände und konnte mittlerweile gut damit zeichnen und schreiben. Später galt er sogar als gefürchteter Duellant, als glänzender Fechter und als geradezu virtuoser Trancheur bei Tisch.
Die Familie residierte an den Champs-Élysées, Ecke Place de la Concorde. Schon damals galten sie als die prächtigste Straße der Welt und sind es bis heute geblieben. Der Arc de Triomphe teilte noch nicht die Sichtachse von der Place de la Concorde, die an der Seinebrücke nach Neuilly im Westen endet. Dieses Denkmal für die Siege Napoleons wurde erst ab 1806 errichtet.
Das schlossartige Stadtpalais seiner Eltern schätzte der erwachsene Grimod über alle Maßen. Schon als Kind erlebte er dort «großes Kino». Die Eltern festeten exquisit und häufig. Sie richteten opulente Soupérs aus, um die sie von vielen Zeitgenossen beneidet wurden. Der Hang zur Wollust war in der Familie mehr als stark ausgeprägt, und eines Tages erstickte der Großvater an einem zu monströs geratenen Gänseleberbrocken. Er hinterließ seine Familie in Würde, mit reichlich Vermögen und einem gesegneten Appetit.
Grimod studierte später in Reims die Juristerei. Doch es hielt ihn nie lange an einem Ort. Als Student bereiste er ausgiebig Frankreich und die Schweiz. Beim Besuch des Klosters Chartreuse in den Savoyer Alpen überkam ihn plötzlich die Anwandlung, dem Kartäuserorden beizutreten. Sie legte sich jedoch recht schnell wieder, als er wenig später die Schweiz durchstreifte. Viele Adelige, auch Geldadelige, suchten damals das politisch neutrale Land auf, weil die Französische Revolution sie aus ihren gesicherten Existenzen gerissen hatte. Grimod erzählte später, er habe in Lausanne die schönsten Jahre seines Lebens genossen. Es war also damals schon so, dass die Schweiz einen wunderbaren Zufluchtsort für Leute darstellte, denen das Kleingeld nicht ausging.
Grimods Lerneifer ließ nicht nach, er traf auf berühmte Gelehrte wie Johann Caspar Lavater und auf Voltaire; und sein unruhiger, wacher Geist ruhte nie. Keine Frage, die Natur ist immer um den Ausgleich bemüht, und eine Einschränkung gibt Kräfte für anderes frei. In zahlreichen Fällen kann man behaupten, dass mangelnde körperliche Gesundheit umso mehr geistige Regheit hervorruft. Man denke nur an den buckligen Georg Christoph Lichtenberg. Grimod litt zwar unter seinem Handicap, hatte sich aber an ein isoliertes Leben gewöhnt. Er mied die Öffentlichkeit und beschäftigte sich folglich ausgiebig mit sich selbst. Er las viel und verschaffte sich eine immer weiter reichende humanistische Bildung. Ab und an wechselte er jedoch vom rein Geistigen zur Erholung in eine andere Disziplin: die Verfeinerung seiner Zunge. Man kennt den Römer Apicius, den antiken Küchenphilosophen, der sich nicht nur um das Wie, sondern auch um die Voraussetzungen des Kochens kümmerte, also um die Erzeugung und die Veredlung von Nahrungsmitteln. Grimod tat es ihm nach. Dabei begleitete ihn ein übersteigertes Geltungsbedürfnis, von dem wir annehmen dürfen, dass es eine Reaktion auf die Ablehnung war, die ihn umgab.
Grimods Exzentrik trieb im Laufe seines Lebens immer tollere Blüten. Vater Reynière spendierte seinem Sohn eine Jahresrente von 15000 Livres, was heute einer Summe von ungefähr 215000 Euro entspricht. Eigentlich ein etwas knappes Budget, wenn man an die vielen ausufernden Tafelrunden denkt, die Grimod ausrichtete.
Außerdem lud Grimod zweimal in der Woche zu einem «Jour fixe» ein, und zwar freitags und samstags. Diese Treffen firmierten unter dem Titel «Déjeuners Philosophiques», und die Dichter und Denker der Zeit gaben sich hier die Türklinke in die Hand. Dabei kann bei diesen Mittagstreffen von unbeschwerter Tafelei nicht gesprochen werden. War der letzte geladene Gast im Haus eingetroffen, wurde ein schweres Gitter geschlossen, und es gab für niemanden mehr ein Entkommen. Kein Alkohol kam auf den Tisch. Dafür sollten große Mengen Kaffee die Gehirne der Beteiligten in Gang halten. Es ging dem Gastgeber um intellektuellen Austausch, um Gespräche über Kunst, Literatur, die Welt der Oper und humanistische Themen aller Couleur. Damit man sich nicht im Diffusen verlor, setzte Grimod stets ein bestimmtes Thema auf die Tagesordnung. Gegen die Leere der rumpelnden Mägen häufte sich auf dem runden Tisch eine Pyramide von Butterbroten. Die Teilnehmer mussten mindestens achtzehn Tassen Kaffee trinken. Wer diese Menge als Schnellster in sich hineinschüttete, qualifizierte sich für das nächste Treffen als Präsident, der bei Disputen sozusagen als Schiedsrichter wachte.
Das Geld, das Grimod für sein Mäzenatentum und das Leben in der Haute Volée zur Verfügung stand, reichte hinten und vorne nicht, und der Vater musste dem edlen Spross häufig unter die Arme greifen. Im Aufzehren des Erbes wuchs der Großpächtersohn zu einsamer Subtilität heran. Bei dem riesigen Vermögen der Familie konnte von Neureichtum nicht die Rede sein. Aber die Diskriminierungen infolge seiner Missbildungen dürften trotzdem zu Minderwertigkeitsgefühlen geführt haben. Grimod begegnete ihnen nach denselben Mustern, mit denen sich Neureiche gegen Abstiegsängste zu unteren Bevölkerungsschichten gerne absetzen. Er hatte die Absicht, ein monumentales Dasein zu führen, und es wurde ständig gewaltig über die Stränge geschlagen. Den Höhepunkt bildete ein Abendessen, wie es die Welt seit den Römern nicht mehr gesehen hatte.
Seinem Vater gegenüber erwähnte er nur, er wolle ein kleines Festchen geben, allerdings mit einem deftigen Feuerwerk. Er war sehr darauf bedacht, dass der Senior diesem Spektakel fernblieb, und da Vater Reynière unter der Vorstellung litt, Geknalle, Gewitter und insbesondere der Donner könnten ihn ins Jenseits befördern, musste unbedingt ein Feuerwerk her. Tatsächlich verzog sich der Vater ängstlich aufs friedfertige Land. Am 1. Februar 1783 kam es dann zu einer kulinarischen Monsterparty, einem bis in die heutige Zeit berühmten Gastmahl.
Die Einladungsbilletts gestaltete Grimod nach dem Muster von Todesanzeigen. Die morbide Festkarte erreichte auch König Ludwig XVI. und beeindruckte ihn dermaßen, dass er sie sogar einrahmen ließ. Ob der König, den man getrost als verfressen und faul bezeichnen darf, an dem Diner auch teilnahm, ist nicht überliefert.
Gegessen wurde von Särgen. In einem Lexikon der Zeit findet man folgenden Hinweis: «Damals gab er ein fast berühmt gewordenes großes Gastmahl wozu niemand kam, der nicht bewies, dass er ein Bürgerlicher sey. Ein anderes mal lud er sehr vornehme Leute zu sich ein, wo jeder in einem schwarz ausgeschlagenen Saale seinen Sarg hinter sich hatte.»
Die Tagesbefehle wurden aber noch ausgeweitet: «Sie sind gebeten, an einem...