Karl-Werner Brand
„Zukunftsfähiges Deutschland“ im Kontext: Diskurse – Praktiken – Strukturen
In diesem Beitrag möchte ich die beiden vom Wuppertal Institut erarbeiten Studien „Zukunftsfähiges Deutschland“ I und II (BUND/MISEREOR 1996; BUND/Brot für die Welt/Evangelischer Entwicklungsdienst 2008) in mehrfacher Hinsicht in einen breiteren Diskussionskontext einbetten. Das betrifft erstens die Verortung der in beiden Bänden vertretenen Position im Gesamtdiskurs um „nachhaltige Entwicklung“. Diese Verortung bezieht sich nicht nur auf die aktuelle Debatte. Es lässt sich vielmehr zeigen, dass die in diesem Diskurs miteinander konkurrierenden Positionen in der seit über 100 Jahren laufenden Debatte um Naturschutz und Naturmanagement immer schon präsent sind, nur problembezogen jeweils neu aktualisiert werden. Das betrifft zweitens die Kontextualisierung des in den beiden Bänden propagierten Leitbilds der „Suffizienz“ in der empirischen Forschung zu Lebensstilen und Konsumpraktiken. Diese Analyse relativiert die Verallgemeinerbarkeit des Modells eines „suffizienten“ Lebensstils. Und das betrifft drittens die Kontextualisierung der in den beiden Studien verfolgten Transformationsstrategie in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatte über die Wandlungsdynamiken und Umbrüche der Moderne. Aus diesen drei Kontextualisierungen ergibt sich insgesamt eine etwas skeptische Sicht auf das in ZD I & II vertretene Transformationsmodell. Das heißt nicht, dass der geforderte tief greifende strukturelle Wandel in Richtung eines „öko-fairen“ Gesellschaftsmodells nicht erstrebenswert wäre. Die Frage ist nur, ob diese Transformation so verlaufen kann, wie das in den beiden Studien beschrieben und propagiert wird.
Basisannahmen und Transformationsmodell der Studien „Zukunftsfähiges Deutschland“
Die Grundannahmen der beiden Studien1 stützen sich zum einen auf globale Makrodaten zur Umwelt- und Klimaproblematik. Diese belegen, so die Autoren, dass die „Grenzen der Natur“ bereits überschritten sind und dass die drohenden Katastrophen zur Änderung unseres fossilen, an ständigem (materiellem) Wachstum orientierten Wirtschafts- und Lebensstils nötigen (ZD II, 19ff.). Sie beziehen sich zum anderen auf globale Makrodaten zur sozialen Verteilung der Umweltnutzung. Diese zeigen wiederum, dass (a) große globale Ungleichheiten in der Nutzung des „Umweltraums zwischen Nord und Süd“ bestehen und (b) das ressourcenintensive Wachstums- und Konsummodell des Nordens mit sozialer Ausbeutung und einer systematischen Verletzung von Menschenrechten im Süden einhergeht (ZD I, Kap. 3; ZD II, Kap. 5 und 6). Da dem globalen Süden aus Gerechtigkeitsgründen aber die gleichen Nutzungsmöglichkeiten zustehen wie den industrialisierten Ländern des globalen Nordens und da darüber hinaus ökologische Effizienzstrategien aufgrund von Reboundeffekten und technischen Grenzen der Entkoppelung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum keine grundsätzliche Lösung der steigenden ökologischen Belastungsproblematik bieten, sei ein Zivilisationswandel hin zu einem anderen, „öko-fairen“ Wohlstandsmodell nötig (ZD II, Kap. 4 und 8). Dieses beruht wesentlich auf „Selbstbegrenzung“ und „suffizienten“ Lebensstilen, die dem generellen Bedürfnis nach einem „guten“, zufriedenen Leben aber ohnehin entgegenkommen (109ff., 232ff.). Diese Zielperspektive wird seit einigen Jahren auch unter dem Stichwort der „Postwachstumsökonomie“ oder „Postwachstumsgesellschaft“ diskutiert.2
Insgesamt ist dies ein von der Dramatik der ökologischen Problembeschreibung und der moralischen Empörung über die soziale Ausbeutung im Nord-Süd-Verhältnis getragener emphatischer Bewegungsdiskurs, der als Konsequenz eine grundlegende Veränderung unseres material- und ressourcenintensiven Lebensstils einfordert. Ist dies die Basiserzählung der beiden Studien, so bieten sie im Einzelnen eine auf Daten und Bilanzen gestützte Begründung dieser Narration, eine Ausformulierung und Illustration der angestrebten Leitbilder sowie – zumindest in ZD II – eine detailliertere Diskussion der Gestaltungsperspektiven des angestrebten Zivilisationswandels.
Wer sind nun die Akteure und die treibenden Faktoren dieses Übergangs? In ZD II werden vor allem drei Akteure bzw. Faktorengruppen genannt, die den bereits in Gang befindlichen Transformationsprozess vorantreiben bzw. vorantreiben sollen:
a) die „Neue Internationale“ (ZD II, 601) der öko-sozialen Initiativen, Pioniere, Nischenmodelle und Protestbewegungen, die – quer zu den etablierten Kräften – durch ihre Überzeugungsarbeit und internationale Vernetzung die Leitbilder eines globalen, „öko-fairen“ Wohlstandsmodells verbreiten und alternative Praktiken in den verschiedenen Produktions- und Lebensbereichen erproben;
b) „externe Krisen“, Katastrophen und Knappheiten, die aufgrund der dadurch geschaffenen Zwangslagen und der veränderten öffentlichen Problemwahrnehmungen Gelegenheitsfenster für den Durchbruch solcher alternativen Praktiken schaffen (ZD II, 602);
c) die Politik, die diesen Durchbruch gestalten und die institutionellen Rahmenbedingungen für die Verbreitung und Stabilisierung nachhaltiger, öko-fairer Wirtschafts- und Lebensweisen schaffen muss. Dem Staat wird dabei die entscheidende Rolle als „Geburtshelfer des neuen Gesellschaftsvertrags“ zugesprochen, der nötig ist, um mit dem business-as-usual brechen und eine hinreichende „Selbstmobilisierung“ der Gesellschaft erreichen zu können (607). In Absetzung vom neoliberalen Regime der vergangenen Jahrzehnte wird so ein „neuer Vorrang der Politik“ propagiert, der es erlaubt, „das Übergewicht der Kapitalinteressen“ zugunsten „der Interessen der Natur und der Menschen, gleich welcher Herkunft“, zurückzudrängen (ebd.).
Neben den zivilgesellschaftlichen Pionieren und den unvermeidlichen katastrophischen Ereignissen wird somit der Politik die zentrale Rolle zugewiesen, die Wirtschaft global in „solar-effiziente“ und „öko-faire“ Bahnen zu lenken. Trotz aller Kritik an den ökologisch und sozial zerstörerischen Eigendynamiken einer neoliberal strukturierten Weltwirtschaft wird so ein erstaunlich idealistisches, an der klassischen Legitimationsfigur des Staates als dem „Repräsentanten des Gemeinwohls“ orientiertes Transformationsmodell verfolgt. Dieses spricht der Politik – auch das im Anschluss an klassisch-idealistische Staatsvorstellungen – die zentrale gesellschaftliche Steuerungsfunktion zu. Die Frage ist, ob diese Annahmen ein realistisches Bild der Möglichkeiten des sozial-ökologischen Transformationsprozesses moderner Gesellschaften zeichnen.
ZD im Kontext (1): Das diskursive Konfliktfeld „nachhaltiger Entwicklung“
Die in ZD I und II entwickelte Argumentation bezieht sich zwar auf aktuelle globale Problemlagen und Handlungszwänge. Ihre Basisnarration verweist allerdings auf eine typische Spannungs- und Konfliktlinie, die die moderne Naturschutz- und Umweltbewegung seit ihren Anfängen im späten 19. Jahrhundert durchzieht. Die Naturschutzbewegung entfaltet sich ja nicht nur als romantisch-ästhetischer Protest gegen die industrielle Zerstörung tradierter, identitätsstiftender Kulturlandschaften. Sie wird in großen Teilen auch von einem ganzheitlich-spirituellen Protest gegen das mechanistische Modell der Industrialisierung von Gesellschaft und Natur, von großstadtfeindlichen „Zurück-zur-Natur“-Strömungen getragen, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in verschiedenen Facetten der Lebensreformbewegung zum ersten Mal eine größere gesellschaftliche Mobilisierungskraft entfalten (Krabbe 1974, Linse 1986). Diese ganzheitlich orientierten Stränge der Naturschutzbewegung, die das Unbehagen an den Folgen der Industrialisierung in die Fluchtpunkte einer idyllischen oder einer wilden, unberührten Natur projizieren, kollidieren von Anfang an mit Strängen der Umweltbewegung, denen es vorrangig um ein rationales Natur- und Umweltmanagement ging. Diese beiden unterschiedlichen Varianten des Natur- und Umweltschutzes führen beispielsweise in der amerikanischen Naturschutzbewegung bereits sehr früh zu einer Polarisierung zwischen dem romantisch-spirituell am Erhalt von wilderness orientierten preservation movement und dem an einem wissenschaftlich basierten, nachhaltigen Naturmanagement orientierten conservation movement (Hays 1959, Nash 1967).
Neben der klassischen Frontstellung zwischen...