1 Geschichte der heil- und sonderpädagogischen Institutionen im schulischen Bereich
Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt
- Vorbemerkung
- 1.1 Die Anfänge in der europäischen Aufklärung
- 1.1.1 Die Idee der Bildsamkeit Behinderter
- 1.1.2 Institutionalisierung
- 1.1.3 Inhalte und Methoden
- 1.2 Institutionalisierung und weitere Ausdifferenzierung im 19. Jahrhundert
- 1.2.1 Bildung für alle: ein langer Weg
- 1.2.2 Pädagogische Antworten auf die Industrialisierung
- 1.2.3 Professionalisierung und Interessenvertretung behinderter Menschen
- 1.3 Eine deutsche Besonderheit: die Hilfsschule
- 1.3.1 Die Vorläufer
- 1.3.2 Hilfsschulpädagogik im Wilhelminischen Kaiserreich
- 1.3.3 Zeitgenössische Kritik an der Hilfsschule
- 1.4 Demokratischer Aufbruch und neue Entwicklungen in der Weimarer Republik
- 1.4.1 Allgemeine Schule und Sonderschule
- 1.4.2 Heilpädagogik und Reformpädagogik
- 1.4.3 Internationalität
- 1.5 Das Sonderschulwesen in der Zeit des Nationalsozialismus
- 1.5.1 Die Ideologie
- 1.5.2 Das Sonderschulsystem
- 1.5.3 Die Sonderpädagogen
- 1.6 Restauration und Reform nach 1945
- 1.6.1 Wiederaufbau und Expansion in der BRD
- 1.6.2 Die Entwicklung in der DDR
- 1.6.3 Die „Integrationsbewegung“ seit den 1970er Jahren
- Ausblick
- Literatur
Vorbemerkung
Wenn gegenwärtig in der Debatte um die „richtige“ Beschulung behinderter Schüler die VN-Behindertenrechtskonvention von 2006 (VN-BRK) zitiert wird, dann dient diese vorrangig als Referenzmodell für die Forderung nach einer Schule für alle, d.h. für eine inklusive Schule. Die VN-BRK hat aber noch eine zweite Dimension, die im weltweiten Maßstab ungleich bedeutsamer ist: die Forderung nach einer Schule, d.h. Bildung für alle, also auch für Behinderte und Benachteiligte. Das ist eine Idee, die mehr als 200 Jahre alt ist und die diesen langen Zeitraum benötigte, um zumindest im europäischen und nordamerikanischen Raum gesellschaftliche Realität zu werden – wobei Schule und Bildung für alle nicht einmal überall in Europa Wirklichkeit ist, von den unterentwickelten Ländern ganz zu schweigen.
Zentraler Begriff der Pädagogik, auch der Sonderpädagogik, ist der der Bildsamkeit, und der universalistische Anspruch auf Bildung gilt im Grundsatz für alle. Die Pädagogik der Moderne ist allerdings gekennzeichnet durch Ambivalenzen und Widersprüche, denn in ihrer praktischen Wirksamkeit führte die Idee der Bildsamkeit zu Besonderheiten, zur Partikularität, sei es durch spezifische Methoden, besondere Bildungsorganisationen oder aber eigene Professionsgruppen (vgl. Tenorth 2006 u. 2010). In ähnlicher Weise argumentierte Bleidick (1978, 52 f.) in seiner „Pädagogik der Behinderten“, wenn er, unter Rekurs auf Störungen der Bildsamkeit, auf die Besonderheiten einer differenziellen Pädagogik verwies.
Dieses Phänomen der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit ist konstitutiv für den Charakter der Pädagogik seit ihrem Entstehen als Disziplin im 18. Jahrhundert, und sie gilt damit auch für das pädagogische Spezialgebiet der Heil- und Sonderpädagogik. Ungeachtet des verbindlichen, universalen, gemeinsamen Bezugspunkts von Bildsamkeit geht es in der Heil- und Sonderpädagogik mit Blick auf Partikularität daher stets auch um Differenz und Differenzierungsprozesse (vgl. Hofer 2004; Möckel 2007; Ellger-Rüttgardt 2008).
Der Fokus auf die Differenz offenbart das amibivalente Spannungsverhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen in der Pädagogik. Die in der modernen Pädagogik liegenden Tendenzen von Universalität und Partikularität, von Inklusion und Exklusion, von Gleichheit und Differenz haben in verschiedenen Epochen zu unterschiedlichen Resultaten geführt. Hiervon soll im Folgenden die Rede sein.
1.1 Die Anfänge in der europäischen Aufklärung
1.1.1 Die Idee der Bildsamkeit Behinderter
Allen, die als Menschen geboren werden – also auch Behinderten – das Lebens- und Bildungsrecht zuzuerkennen, sie zu erziehen und zu unterrichten – dieses Ziel findet sich schon bei dem großen Pädagogen Comenius im 17. Jahrhundert und hat seine Aktualität bis in die Gegenwart nicht eingebüßt. Es sollte seit Erscheinen der Amsterdamer Ausgabe der „Didacta Magna“ (1657) allerdings noch mehr als ein Jahrhundert vergehen, bis im Zeitalter der europäischen Aufklärung einzelne Persönlichkeiten Überlegungen und praktische Unterrichtsversuche für jene erdachten, entwarfen und umsetzten, die „anders“ waren und die als Blinde, Taubstumme und „Blödsinnige“, vornehmlich als Angehörige der unteren Stände, von Bildung und Erziehung ausgeschlossen waren. Dieser Impetus, Bildungsanstrengungen für die im ökonomischen Sinne armen Behinderten zu unternehmen, ist besonders hervorzuheben, denn in den höheren Gesellschaftsschichten hatte es zu allen Zeiten pädagogische Anstrengungen für Sinnes- und Köperbehinderte gegeben. Nach Jürgen Oelkers war „die Verschulung der ‚unteren Stände‘ der ‚Testfall‘ der pädagogischen Aufklärung“ (2004, 102), und die wesentlichen Innovationen der Aufklärung waren notwendige Bedingungen für die ersten planvollen Erziehungsversuche für junge Menschen mit einer Behinderung.
Auch wenn es bereits in früheren Jahrhunderten Bildungsbemühungen um behinderte Menschen gegeben hat, so kann von einem planvollen Beginn jedoch erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Rede sein. Die „Entdeckung der Bildbarkeit Behinderter“ (Ellger-Rüttgardt; Tenorth 1998) war möglich geworden, weil mit den Ideen der europäischen Aufklärung das allgemeine Bildungsrecht für jeden und damit auch für den Menschen mit Behinderung proklamiert wurde. Weil jeder Mensch auf Lernprozesse angewiesen ist, weil Bildung und Erziehung den „neuen Menschen“ schaffen können, der in der Lage ist, sich seines Verstandes zu bedienen, wird das 18. Jahrhundert immer wieder als das „pädagogische Jahrhundert“ bezeichnet (Herrmann 1981; 1993; Tenorth 1992; Hammerstein & Herrmann 2005). Bedeutsam für die Pädagogik der Aufklärung waren vor allem die Ideen des englischen Philosophen John Locke, der als Sensualist die Bedeutung der Sinne für Wahrnehmung, Denken und Erkenntnis als zentral hervorhob. Die Aussage, dass Ideen nicht etwa göttlichen Ursprungs, also angeboren seien, sondern durch sinnliche Erfahrungen entwickelt und aufgebaut werden, eröffnete eine radikal neue Sicht auf die Entwicklungsfähigkeit eines jeden Menschen und unterstrich zugleich die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung. Locke beeinflusste vor allem die Vertreter der französischen Aufklärung, wie etwa die Enzyklopädisten d’Alembert und Diderot, aber auch Rousseau, Condorcet und Condillac (vgl. Hofer-Sieber 2000).
Diderots „Brief über die Blinden“ von 1779 (Möckel 2006) gewann entscheidenden Einfluss auf eine gewandelte Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen. Indem Diderot eine Sinnesbehinderung nicht mehr unter dem Aspekt eines Defizits betrachtete, sondern sich für Kompensationsleistungen durch andere Sinne, wie etwa den Tastsinn als „Vikariatssinn“ interessierte, bescheinigte er auch den in ihren Sinnen eingeschränkten Personen prinzipielle Bildungsfähigkeit. Folglich existierte nach Auffassung der Sensualisten kein grundlegender anthropologischer Unterschied mehr zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen.
Schließlich liegen auch die Anfänge der Bildung und Erziehung geistig Behinderter im Zeitalter der Aufklärung, auch wenn die institutionalisierten Erziehungsversuche zeitlich deutlich später als die der Gehörlosen und Blinden erfolgten. Im deutschsprachigen Raum war es Johann Heinrich Pestalozzi, auch er ein Kind der Aufklärung und anfänglicher Bewunderer seines Landsmannes Rousseau, der bis in die Gegenwart als Urvater einer Pädagogik gilt, die in Theorie und Praxis auch jene einschließt, die nicht zu den Musterbildern an Stärke, Schönheit und Klugheit gehören. Damit zählt Pestalozzi mit seiner Theorie der allgemeinen Menschenbildung zugleich zu den Mitbegründern der Heilpädagogik. Pestalozzis Erziehungsversuch auf dem Neuhof von 1777, wo er sich verwaister, verwahrloster und auch behinderter Kinder annahm, gibt davon Zeugnis....