GUT IST UNS NICHT GUT GENUG
... so lautet nicht nur ein bekannter Werbeslogan, an diesem Motto richten viele Menschen ihr Leben aus. Hohe Ansprüche, Konkurrenzdruck und Stress bestimmen unseren Alltag, unsere Freizeit, unseren Urlaub.
Selbstverständlich lassen wir uns das spannende Projekt nicht entgehen, auch wenn wir uns an das letzte freie Wochenende nur dunkel erinnern. Effizient schicken wir eben noch eine E-Mail raus, obwohl der Kindergarten in dreißig Minuten schließt. Routiniert vergleichen wir Renditen und feilschen um Rabatte, ehe wir uns für einen Fonds zur privaten Altersvorsorge entscheiden.
Nach den Feiertagen wird es ruhiger, trösten wir uns. Im Urlaub tun wir mal was für uns, nehmen wir uns vor. Heute Abend machen wir es uns gemütlich, denken wir. Doch wenn es so weit ist, müssen wir einsehen, dass auch die Freizeit keine freie Zeit mehr ist. Zweimal die Woche Fitness ist Pflicht, ständige Erreichbarkeit Ehrensache, die Teilnahme am Nachbarschaftsfest schon aus Gründen der Höflichkeit ein Muss. Mal einen Nachmittag zu vertrödeln scheint für uns ein Luxus zu sein wie für unsere Eltern ein Urlaub in der Karibik.
Uns geht es gut, aber wir fühlen uns nicht wohl
Uns geht es gut, unverschämt gut. Die meisten von uns haben eine bessere Ausbildung, eine größere Wohnung und einen interessanteren Job als ihre Eltern. Keine Generation vor uns war so wohlhabend, so weit gereist, so aufgeklärt, so gut informiert, so gesund, so frei in ihren Entscheidungen und Entschlüssen. Keine Generation vor uns hatte eine so hohe Lebenserwartung. Allerdings hat auch keine Generation vor uns so viel vom Leben erwartet.
Uns geht es gut. Aber wir fühlen uns nicht wohl. Wir kommen voran, aber wir kommen nicht zu uns. Wir rasen durch die Tage, die Wochen, das Jahr, aber das Leben läuft an uns vorbei. Unsere Terminkalender sind voll, aber statt Erfüllung zu finden, fühlen wir uns leer, gereizt und ausgebrannt.
Wiedersehen mit Hans im Glück
Dabei tun wir wirklich alles, um aus dem Leben das Beste zu machen. Vergnügt wie Hans im Glück tauschen wir das gute Arbeitsklima in der alten Firma ein gegen den Dienstwagen in der neuen, die pflegeleichte Mietwohnung gegen die Doppelhaushälfte im Grünen, die Zeit für Partner, Kind und Hund gegen den großen TV-Roman, das Tastentelefon gegen die hochkomplizierte ISDN-Anlage mit Rufumleitung und eigener Telefonnummer für jedes Familienmitglied. Arglos wie Hans im Glück berauschen wir uns an unseren Entscheidungen, Errungenschaften und Erfolgen.
Das Märchen hat ein Happy End: Hans im Glück betrachtet sich als den glücklichsten Menschen unter der Sonne. Jede seiner impulsiven Entscheidungen deutet er als Erfolg um. Ob er seine zweifelhaften Tauschgeschäfte nicht eines Tages doch bereut, bleibt offen. Hans im Glück wird mit den Konsequenzen seiner Gedankenlosigkeit nie konfrontiert.
Im wahren Leben kommen wir nicht so leicht davon: Dort ereilt uns über kurz oder lang die Realität. Wir beginnen zu ahnen, was wir uns mit der Jagd nach dem immer besseren Leben einhandeln: dass wir unsere Seele dem Job verschreiben, und unsere besten Jahre der Abzahlung von Eigenheim und Zweitwagen. Dass wir gestresst und gehetzt sind, ungeduldig, unleidlich und schnell gelangweilt. Dass unser Spielraum im Lauf der Jahre eher kleiner als größer wurde. Dass wir weniger sensibel und fantasievoll sind als früher. Dass Wohlstand und Erfolg ihren Tribut einfordern.
Schneller, höher, weiter
Auf der ganzen Welt sind Stresserkrankungen auf dem Vormarsch. In den USA leiden 43 Prozent aller Erwachsenen unter stressbedingten Beeinträchtigungen ihrer Gesundheit. Ein Grund dafür ist neben dem alt bekannten Zeitdruck eine neue Zeitangst: ein Gefühl, im Leben nicht all das erreichen und erleben zu können, was wir erreichen sollen und erleben wollen. Je größer der Wohlstand, je höher die Bildung, desto gespannter ist unser Verhältnis zur Zeit. »Wir sind stets der Meinung, zu wenig davon zu haben«, schreibt der amerikanische Autor James Gleick in seinem Buch Schneller. Eine Zeitreise durch die Turbo-Gesellschaft. »Das ist einer der Mythen, mit denen wir heute leben.«
Die Folge: Um mit der Dauerbeschleunigung, der Informationsflut, den Konsum- und Erlebnisversuchungen um uns herum wenigstens ansatzweise Schritt zu halten, treiben wir uns immer mehr an – ernähren uns von Fast Food, zappen uns durch dreißig Fernsehkanäle, üben uns im Speed Reading, erledigen mehrere Aufgaben zugleich wie ein Hochleistungscomputer im Multi-Tasking-Betrieb.
Amerikanische Wissenschaftler haben dem Gefühl, nur einmal zu leben und auch das viel zu kurz, bereits einen Namen gegeben: Hurry-Sickness nennen sie die Getriebenheit, die den Betroffenen oft nicht einmal auffällt – weil andere sich genauso abhetzen wie sie.
Die rasende Gesellschaft bremst sich aus
Wir geben es nicht gerne zu, aber wir spüren es wohl: Die Ansprüche, die wir an uns stellen und die an uns gestellt werden, zehren an uns – an unserer Leistungskraft und Lebensqualität, an unserer Gesundheit, Freundlichkeit und Genussfähigkeit. Mit unserer Sucht, Zeit zu gewinnen, bremsen wir uns selber aus.
Leistung: Das rasende Tempo führt zu Fehlern und zersetzt unsere Kreativität. Gute Ideen brauchen genau wie komplexe Projekte und durchdachte Entscheidungen Spielräume, Überschaubarkeit und Entspanntheit. Der zündende Einfall, die gelungene Formulierung, die überraschende Lösung stellen sich nur ein, wenn wir uns Zeiten der Muße gönnen. Wer pausenlos auf Hochtouren läuft, so der Kreativitätsforscher Mihaly Csikszentmihalyi, gibt seinen Gedanken keine Chance, zu reifen.
Lebensqualität: Ob Profit-Center-Leiter oder Familienmanagerin – Berufs- oder Erziehungsarbeit sind meistens ein Ganztagsjob. Das wäre verkraftbar – wenn das Wochenende und die Stunden nach 17, 18 oder 19 Uhr zum Musik hören, Spielen, Lesen, Reden, Träumen oder Eis essen blieben. Für viele Menschen aber beginnt um diese Zeit die »zweite Schicht«: die Steuererklärung will erledigt, die Matheaufgabe kontrolliert, das Heizöl bestellt, das Fitness-Programm absolviert, der Rasen gemäht, der Winterurlaub gebucht werden. Statt die Seele baumeln zu lassen, hängen wir die Wäsche auf die Leine.
Gesundheit: Im Stress zu sein gehört in unserer Hochgeschwindigkeitskultur zum guten Ton, gilt als Ausweis für Erfolg und Engagiertheit. Dass Stress nicht eben gesund ist, hat sich zwar herumgesprochen, dass Stress Gift für die Gesundheit ist, eher nicht. Die wenigsten Menschen machen sich klar: Auch der kleine Stress zwischendurch versetzt den Körper in erhöhte Erregungsbereitschaft. Selbst nichtige Ärgernisse – die morgendliche Parkplatzsuche, der ewig skeptische Kollege, der unerklärliche Programmabsturz – setzen Adrenalin frei, treiben den Blutdruck hoch, fahren das Immunsystem herunter und verstopfen die Arterien. Auf Dauer macht uns dieses Bombardement von Alarmen und Fehlalarmen krank, ernsthaft krank: Zu den stressbedingten Erkrankungen zählen unter anderem Herzinfarkt, Magengeschwür, Tinnitus, Schlaganfall, Krebs und Diabetes.
Freundlichkeit: Wer von Termin zu Termin jagt, in aller Eile die Präsentation für den Nachmittag vorbereitet, nebenbei die Attacken des Fieslings aus dem Controlling abschmettert und in der Mittagspause rasch die Einkäufe fürs Abendessen erledigt, dem stehen die anderen oft im Weg. Jeder Anruf wird zur Störung, jeder Small Talk auf dem Flur zum Zeitfresser, der Vordrängler an der Supermarktkasse zur persönlichen Bedrohung. Je höher das Tempo, je drängender die Zeit, desto schwerer fällt es uns, ruhig, freundlich und geduldig zu bleiben. Die rasende Gesellschaft hat für Höflichkeit und Rücksichtnahme keine Nerven übrig.
Genussfähigkeit: Wenn ich Zeitschriften nur noch überfliege und selbst der neue Grisham mich nicht fesselt, wenn ich allenfalls Kuschelklassik hören mag und Isoldes Liebestod als Tortur empfinde, wenn nicht einmal Pasta und Pralinen mich mehr glücklich machen – dann weiß ich sicher: Ich habe es mal wieder übertrieben. Mein Kopf ist so voll, mein Zeitplan so erdrückend, dass mir das Gespür für die schönen Dinge des Lebens abhanden gekommen ist.
Einfachheit als Lifestyle-Trend
Wir wagen es vielleicht nicht laut zu sagen. Aber immer mehr Menschen sind es leid,...