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E-Book

Jetzt ist es genug!

Leben ohne Alkohol

AutorViktor Sommer
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783423412315
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Der trockene Alkoholiker Viktor Sommer zeigt, wie der Abschied von der Droge Alkohol gelingen kann. Der Missbrauch von Alkohol macht vor keiner sozialen oder intellektuellen Schranke Halt. Zwar fällt den meisten Betroffenen das ultimative Eingeständnis »Ich bin Alkoholiker« in der Regel sehr schwer, aber nahezu jeder Fünfte hat zumindest von Zeit zu Zeit das Gefühl, zu viel zu trinken. Anders gesagt: Alkoholmissbrauch ist zu einer regelrechten Volkskrankheit geworden.   Viktor Sommer, selbst »trockener« Alkoholiker, zeigt auf sehr behutsame und zugleich, ohne zu beschönigen, klare Weise, wie scheinbar harmloser und gesellschaftlich durchaus tolerierter Missbrauch von Alkohol über längere Zeit zu schwersten psychischen und physischen Leiden führt. Und er beschreibt, wie der Abschied von der Droge Alkohol möglich ist: welche durchaus unangenehmen Entzugserscheinungen auftreten können, wie Betroffene damit umgehen lernen, welche Hilfen es dabei gibt und welche enormen Belohnungen der Verzicht auf Alkohol schließlich mit sich bringt.  

Viktor Sommer, geboren 1962 in Frankfurt, studierte Pädagogik, Geschichte und Anglistik. Er lebt mit seiner Familie in Berlin und ist im Bereich der Erwachsenenbildung tätig.

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Leseprobe

Das Versteckspiel


Es gibt überraschend wenige trockene Alkoholiker, die ganz klar sagen können, wann sie Alkoholiker geworden sind, warum sie zu trinken angefangen haben, und wie das alles überhaupt so weit kommen konnte. Das macht den Alkohol bedrohlich, weil der Eindruck entsteht, es hier mit etwas Unfasslichem zu tun zu haben. Alkohol ist irgendwann einfach in unser Leben getreten, und wenn wir daran erkrankt sind, dann bestimmt er dieses Leben, nimmt uns in die Zange.

Das Versteckspiel des Alkohols im Leben hat in hohem Maße mit unserer Vergesslichkeit zu tun. Niemand kommt als Alkoholiker auf die Welt – abgesehen von den Kindern, denen ihre dauernd alkoholisierten Mütter schon im Mutterleib einen Dauerrausch verschaffen. Aber das ist in den seltensten Fällen wirklich so. Alkoholiker muss man erst werden, deshalb hat jede Alkoholkrankheit auch eine Geschichte, und diese Geschichte fängt meistens so harmlos an, dass man sie vergisst. Der Anfang ist in aller Regel nicht mehr rekonstruierbar. Irgendwann haben wir wie alle anderen auch einmal mit dem Trinken von Alkohol begonnen – und zwar ganz »normal«. Es kann aber sein, dass wir schon damals etwas dabei entdeckt haben, was wir mittlerweile vollständig vergessen haben: Alkohol hat uns damals unbeschreiblich gut getan, hat uns in eine euphorische Stimmung versetzt. Er hat uns vielleicht sogar aus einer schlechten Stimmung herausgeholt, glücklich und fröhlich gemacht. Genau an diesem Punkt beginnt die Alkoholkarriere.

Zunächst handelt es sich noch um Alkoholmissbrauch. Der Stoff dient in diesem Fall als Mittel. Alkohol wirkt bei fast allen Menschen entspannend und hebt die Stimmung. Bei Alkoholikern kommt die Entdeckung dazu, dass sie Missstimmungen oder Spannungszustände kurzfristig aufheben können, wenn sie Alkohol trinken. Damit wir uns richtig verstehen: Es geht hierbei nur um ein befristetes psychisches Wohlbefinden. Es geht um jenen Bereich, in dem der Alkohol zunächst positiv wirkt. Negative Auswirkungen wie herumzuwanken, die Treppe herunterzufallen, eventuell den Führerschein zu verlieren, seine Sozialkontakte letztlich zu zerstören oder die Familien zu zerrütten, werden nicht in die Überlegungen miteinbezogen. Niemand wünscht derartige Konsequenzen, aber der Alkoholiker nimmt sie in Kauf. In diesem Stadium liegt dann kein Missbrauch mehr vor, sondern es ist bereits eine wirkliche Abhängigkeit eingetreten. Warum nimmt der Alkoholiker derartige Konsequenzen in Kauf? Weil ihn die Krankheit zu einem Abhängigen gemacht hat. Die anfänglichen positiven Auswirkungen, die euphorische Stimmung und die angenehmen Seiten des Alkoholmissbrauchs haben sich in die Leidensgeschichte der Alkoholabhängigkeit verwandelt. Für den Abhängigen ist der Alkohol zum dominanten lebensbestimmenden Faktor geworden, die Sache, um die sich alles dreht – wirklich alles. Die Flasche hat sich zum Lebenszentrum entwickelt.

Zwischen Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit liegen oft Jahre. Das Versteckspiel der Droge besteht darin, dass wir erst allmählich zu Alkoholikern werden. Irgendwann haben wir den ersten Kontakt zum Alkohol aufgenommen, aber dieser Kontakt verlief für lange Zeit ganz normal. Irgendwann kam jener Zeitpunkt, an dem der Alkohol zum Problem geworden war. An diesen Zeitpunkt können wir uns manchmal erinnern. Jetzt versteckt sich der Alkohol nicht mehr, er ist schon sehr dominant geworden und beansprucht einen Teil unseres Lebens. Scheinbar tritt Alkohol dabei ganz plötzlich in unser Leben und das verleiht ihm aus unserer Sicht eine gewisse dämonische Eigenschaft. Die Krankheit hat einen Verlauf, der in den meisten Fällen lange Zeit verdeckt erfolgt und unbemerkt bleibt. Deshalb verläuft das Leben zunächst normal. Man kann hinterher nicht genau angeben, wann man zum Alkoholiker geworden ist. Das Bedrohliche besteht im scheinbar plötzlichen Auftauchen, weil wir uns nicht an die banale und unauffällige Einstiegsphase erinnern können. Wir haben das einfach vergessen, weil es so harmlos war.

Es gibt eine ganze Reihe von Strategien, mit denen wir uns den »halbversteckten Alkohol« noch für lange Zeit schmackhaft machen. Halbversteckt nenne ich eine Phase, in der uns langsam dämmert, dass etwas nicht stimmen könnte. Wir verfügen freilich über sehr raffinierte Formen der Selbsttäuschung: Wir können Probleme verdrängen, und wir können uns selbst immer wieder kunstvoll überlisten, indem wir uns selbst zum nächsten Gläschen überreden. Wir tun das freilich verdeckt, keinesfalls offen, denn sonst würden wir das Spiel ja schon durchschaut haben, und es gäbe keine chronischen Alkoholiker in der Endphase.

Eine Strategie der Selbstüberredung hatte ich Ihnen bereits vorgestellt: Das so genannte kontrollierte Trinken. Sie beweisen sich dabei, dass Sie für eine gewisse Zeit nichts trinken können und deshalb trinken dürfen. Ziemlich raffiniert und ziemlich verrückt! Alkoholiker verfolgen bei ihrer eigenen Selbstüberlistung auch oft die Belohnungsstrategie: Nach harter Arbeit erfolgt die berechtigte Belohnung. Nicht jeder ist deshalb Alkoholiker. Es könnte aber sein, dass sich diese Taktik bei Ihnen automatisiert hat. Irgendwann können Sie sich vielleicht nicht mehr entspannen, ohne Alkohol getrunken zu haben. Vielleicht tritt auch schon eine Schlafstörung ein. Es gelingt nur dann problemlos einzuschlafen, wenn Sie etwas getrunken haben. Sie setzen in jedem Fall den Alkohol bereits wie ein Medikament ein.

Am deutlichsten können Sie es bei der Schlafstörung erkennen. Um einschlafen zu können, erfolgt der Griff zur Flasche. Leider entwickelt Ihr »Hilfsmittel« eine Art Eigenleben, denn es handelt sich um einen Suchtstoff. Tabletten können im Übrigen einen ähnlichen Effekt hervorrufen. Die besondere Gefahr liegt wieder in dem allmählichen Verlauf, bei dem im Nachhinein nur sehr schwer festzustellen ist, wann die ganze Angelegenheit zur Krankheit entartet ist. Man fängt irgendwann an, den Alkohol systematisch als Entspannungsmittel einzusetzen oder als Schlafmittel zu benutzen. Dann ist es im Grunde bereits zu spät, der Alkohol hat Sie schon gepackt. Aber man bemerkt diesen Punkt eben erst hinterher, weil es sich um einen langsamen Verlauf handelt. Der Alkohol stiehlt sich über eine weite Strecke unbemerkt in unser Leben hinein. Niemand trinkt wegen einer Schlafstörung sofort regelmäßig Alkohol.

Irgendwann können Sie sich vielleicht nicht mehr entspannen, ohne Alkohol getrunken zu haben.

Der ganze Vorgang könnte sich beispielsweise folgendermaßen entwickeln. Eines Tages entdeckt der zukünftige Alkoholiker das Entspannungsmittel Alkohol. Außerdem befindet er sich in einer besonders intensiven Arbeitsphase, und er muss schlafen, weil der nächste Tag wieder erhebliche berufliche Belastungen mit sich bringt. Das hält einen Monat an. In dieser Zeit greift der zukünftige Alkoholiker öfter zur Flasche. Die Mengen sind noch harmlos, und das angedeutete Beispiel muss auch nicht zu einer Suchterkrankung führen, aber die außerordentliche Belastungsphase tritt in Beruf jedes Jahr zur gleichen Zeit auf. Nach drei Jahren kommt eine Ehekrise mit anschließender Scheidung dazu. Der oder die Einsame trinkt nun etwas mehr, weil es für längere Zeit schlechter geht. Im nächsten Jahr sterben die Eltern oder eines der Geschwister und eine neue Beziehung stellt sich als schwierig heraus.

Das Beispiel erscheint gekünstelt und konstruiert, aber es ist nicht unwahrscheinlich. Das Leben besteht eben leider auch aus unangenehmen und manchmal sehr bedrückenden Ereignissen. In jedem Fall kann der Alkohol zunächst wie ein Heilmittel erscheinen, und es gibt ja nicht umsonst die schöne Bezeichnung des »Seelentrösters« für den Alkohol. Manche Kneipennamen sprechen auch deutlich aus, was gemeint ist: der »Sorgenbrecher« beispielsweise. Am Ende einer wie auch immer gearteten Folge von so genannten Schicksalsschlägen trinkt der Betreffende nicht mehr nur im Belastungsmonat, sondern immer dann, wenn Schwierigkeiten auftreten. Das hat er oder sie nun »gelernt« und ist zum Typ des Problemtrinkers geworden. Bei Schwierigkeiten oder Missstimmungen kommt der Griff zur Flasche, denn der Alkohol hilft anfangs sofort. Allmählich fällt das Einschlafen aber generell schwerer. Ein bisschen Alkohol gehört jetzt immer dazu – und zwar bereits übers ganze Jahr verteilt. Was unser Körper und unsere Psyche normalerweise ohne jedes Medikament und ohne jede Droge können, das gelingt jetzt nur noch mit Alkoholeinfluss einigermaßen.

Was unser Körper und unsere Psyche normalerweise ohne Droge können, das gelingt nur noch unter Alkoholeinfluss.

Es handelt sich allerdings um keinen natürlichen Schlafverlauf mehr, denn die Schlafphasen verlaufen unter Alkoholeinfluss anders. Der Schlaf des Trinkers verschafft weniger Erholung als der natürliche Schlaf. Zum Stress oder zu den Problemen tritt also noch zusätzlich die Belastung der unzureichenden Regenerierung in der Nacht hinzu. Die Betroffenen schlafen zwar unter Alkoholeinfluss rasch ein, aber sie schlafen außerordentlich schlecht, und langfristig wird ihre ganze Situation immer unerträglicher. Dabei droht zusätzlich die Gefahr der Dosiserhöhung, denn ein Gedanke liegt natürlich nahe: Was einmal geholfen hat, das könnte erneut helfen. Es liegt fast auf der Hand, die Dosis des »Hausmittels« zu erhöhen.

In der dargestellten Situation steigert sich der Alkoholkonsum, wobei es banal und harmlos angefangen hat. Der Alkohol nimmt an unserem Leben über weite Strecken weitgehend unbemerkt teil. Warum ich Ihnen diese Banalität überhaupt so ausführlich schildere? Sie wollen in diesem Abschnitt...

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