Was bedeuten Trennung und Scheidung für die Kinder?
Auch wenn Scheidungen heute quasi als «normal» gelten, stellen sie für die betroffenen Kinder keine Bagatellereignisse dar, sondern erfordern oft hohe Anpassungsleistungen. Auf den folgenden Seiten finden Sie Ergebnisse aus der Scheidungsforschung und bekommen Tipps dazu, was Ihr Kind nach einer Trennung oder Scheidung für ein gesundes Gedeihen braucht.
Die Zahl der Ehescheidungen hat sich in der Schweiz in den letzten 30 Jahren nahezu verdoppelt, mit einem Höchststand von 22 081 Scheidungen im Jahr 2010. Im Jahr 2017 wurden 15 906 Scheidungen ausgesprochen. Gemäss Einschätzungen des Bundesamts für Statistik liegt die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung heute bei 40 Prozent – zwei von fünf Ehen werden also geschieden.
Der Anteil der Scheidungen, bei denen minderjährige Kinder betroffen waren, lag in den letzten Jahren relativ konstant bei knapp 45 Prozent. Bei fast der Hälfte aller Scheidungen müssen also auch Kinder mit den Folgen fertig werden (siehe Grafik).
Ein Blick in die Statistik
Zwischen 1950 und 2017 ist die Zahl der Kinder, die eine Scheidung ihrer Eltern erlebten, in der Schweiz von 4000 auf rund 11 500 angestiegen, was einer Steigerung von fast 300 Prozent entspricht. In anderen westlichen Industrieländern zeigt sich ein ähnlicher Trend. Entsprechend gross ist die Forschungsaktivität zum Thema Scheidungsfolgen für Kinder (siehe Kasten auf der nächsten Seite). Eine der wichtigsten Fragen dieser Scheidungsforschung ist: Welche Folgen hat das Ereignis «Scheidung» für die Kinder und wie passen sie sich an die veränderten Lebensbedingungen an?
Vergleich von Scheidungskindern mit Nicht-Scheidungskindern
Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass es für ein Kind belastend ist, wenn seine Eltern sich trennen – auch heute noch. Das Kind muss sowohl die direkten als auch die indirekten Folgen der Trennung oder Scheidung bewältigen.
SCHEIDUNGEN UND SCHEIDUNGSHÄUFIGKEIT
Quelle: Bundesamt für Statistik, 2017
FORSCHUNGSAKTIVITÄT ZU DEN SCHEIDUNGSFOLGEN FÜR KINDER
■60er-Jahre: Erste Studien werden in den USA durchgeführt.
■80er-Jahre: In unterschiedlichen Ländern wird intensiv zum Thema Scheidungsfolgen für Kinder geforscht.
■90er-Jahre: Verschiedene Studienergebnisse können repliziert werden, was ihre Aussagekraft bestätigt.
■Meta-Analysen (Zusammenfassung und Auswertung früherer Forschungsarbeiten). Die zwei bekanntesten Meta-Analysen sind:
–Amato & Keith (1991) für die Jahre 1960–1990 mit 92 Studien und einer Gesamtstichprobe von 13 000 Kindern
–Amato (2001) für die Jahre 1990–2000 mit 67 Studien
■Zu den direkten oder primären Folgen der Trennung oder Scheidung gehören zum Beispiel:
–Konflikte der Eltern
–Trennung der Eltern
–Einschränkung des Kontakts zu einem Elternteil
■Zu den indirekten oder sekundären Folgen gehören Dinge wie:
–Veränderung des Wohnorts
–schlechtere finanzielle Verhältnisse
–mehr Berufstätigkeit des hauptsächlich betreuenden Elternteils
–mehr Fremdbetreuung
–Verlust des Freundesnetzes
Verschiedene Studien zeigen, dass Kinder aus Scheidungsfamilien eine schlechtere Befindlichkeit aufweisen als Kinder aus intakten Familien. Die gute Nachricht ist aber, dass diese Effekte nicht sehr stark ausfallen. Anders ausgedrückt: Die Unterschiede sind zwar nachweisbar, aber nur gering ausgeprägt.
UNTERSCHIEDE VON SCHEIDUNGS- UND NICHT-SCHEIDUNGSKINDERN
Es kristallisieren sich sieben Bereiche heraus, in denen Kinder, deren Eltern getrennt oder geschieden sind, schlechter abschneiden als Nicht-Scheidungskinder:
1.Schulleistungen: schlechtere Noten, negativere Bewertung durch die Lehrperson
2.Sozialverhalten: schlechteres Benehmen, aggressiveres Verhalten
3.Emotionales Befinden: Stimmungsschwankungen, Ängste, weniger Lebensfreude
4.Selbstbild: niedrigeres Selbstbewusstsein, negativere Selbstwahrnehmung, geringere eigene Kompetenzüberzeugung
5.Soziale Anpassung: niedrigere soziale Beliebtheit, schlechtere Integration, Isolierung
6.Mutter-Kind-Beziehung: weniger Affektivität (Gefühlsleben) und schlechtere Qualität der Interaktion
7.Vater-Kind-Beziehung: weniger Affektivität (Gefühlsleben) und schlechtere Qualität der Interaktion
Quelle: Amato & Keith (1991) und Amato (2001)
Nicht überraschend ist übrigens, dass in älteren Studien aus den 60er-Jahren grössere Unterschiede in der Befindlichkeit von Scheidungskindern und Nicht-Scheidungskindern gefunden wurden als in neueren Untersuchungen. Der Grund ist, dass damals eine Scheidung gesellschaftlich verpönt war und die betroffenen Kinder sozial stigmatisiert wurden. Im Zuge der zunehmenden Akzeptanz von Scheidungsfamilien haben die Unterschiede zwischen Scheidungs- und Nicht-Scheidungskindern abgenommen – bis in die 90er-Jahre. Doch in den letzten 20 Jahren haben sie wieder zugenommen, ist die Befindlichkeit von Scheidungskindern verglichen mit anderen Kindern wieder schlechter geworden. Wie ist das zu erklären?
Je stärker der Konflikt der Eltern, desto grösser die Folgen für die Kinder
Kinderpsychologisch ist es unumstritten, dass nicht die Trennung oder Scheidung per se das Kind beeinträchtigt, sondern die Auswirkungen einzelner Aspekte: Der schädigendste Einzelfaktor ist dabei die Heftigkeit des elterlichen Konflikts während und nach der Trennung oder Scheidung. Dabei gibt es zwei Situationen:
■Hohes Konfliktniveau vor der Scheidung/niedriges Konfliktniveau danach: Es gibt Situationen, in denen ein Kind durchaus von einer Trennung oder Scheidung der Eltern profitieren kann. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn während des Zusammenlebens destruktive Konflikte zwischen den Eltern an der Tagesordnung waren und das Kind schädigten. Dann bedeutet die Trennung oder Scheidung das Ende einer schlimmen Situation.
■Niedriges Konfliktniveau vor der Scheidung/hohes Konfliktniveau danach: In der «modernen» Scheidungsfamilie ist es aber oft so, dass die Konflikte erst mit respektive nach der Trennung entbrennen. Die Kinder fragen sich dann: Warum kommt es zur Trennung, obwohl wir alles richtig gemacht haben? Gestern sagte doch Mama noch, dass sie Papa liebe, und heute trennt sie sich?
Ist das Konfliktniveau zwischen Ihnen und Ihrem Partner, Ihrer Partnerin nach der Trennung höher als vorher, werden Ihre Kinder stark verunsichert. Sie erleben die Trennung als nicht vorhersehbar, nicht nachvollziehbar und nicht beeinflussbar. Wenn dann auch noch vor allem um Kinderfragen gestritten wird, kann die elterliche Trennung zum kindlichen Trauma werden.
TIPP Tun Sie zum Wohl Ihrer Kinder alles dafür, dass Ihre Trennung oder Scheidung nicht destruktiv abläuft und dass das Konfliktniveau zwischen Ihnen als Eltern möglichst bald absinkt.
DIE «MODERNE» SCHEIDUNGSFAMILIE
■Kaum offene Konflikte vor der Trennung, die Konflikte beginnen mit und nach der Trennung.
■Die Trennung kommt überraschend und kann von den Kindern nicht nachvollzogen werden.
■Ein Elternteil ist gegen die Trennung.
■Die Väter sind engagierter als früher.
■Das Kind verliert ohne Vorwarnung einen engagierten Elternteil.
■Gestritten wird oft um Kinderthemen: Sorgerecht, Obhut und Betreuung, Kontakt zum Kind.
Die Rolle des Geschlechts
Der Forschungsstand zu diesem Thema ist klar: Trennung und Scheidung haben für Jungen negativere Folgen als für Mädchen. Jungen reagieren stärker und zeigen mehr Verhaltensauffälligkeiten. Sie entwickeln häufiger externalisierende Störungen, tragen also ihre Probleme nach aussen mit Wutausbrüchen, Regelverstössen, Schulproblemen oder Hyperaktivität. Mädchen neigen eher zu internalisierenden Störungen, «fressen» die Probleme in sich hinein und entwickeln zum Beispiel Angststörungen und Depressionen.
RAMONA UND PATRICK G. haben sich vor zwei Jahren getrennt. Für die Kinder (Melanie, 13 Jahre, und Dominik, 9 Jahre) kam die Trennung sehr überraschend, da es aus ihrer Sicht keine aussergewöhnlichen Konflikte zwischen den Eltern gegeben hatte. Jetzt ist alles anders: Papi und Mami streiten seit der Trennung eigentlich nur noch. Dabei geht es oft um das Kontaktrecht. Der neunjährige Dominik agiert seine psychische Belastung aus....