Speicher der Freiheit
Integration durch Verfassung? Dazu braucht es Orte und Rituale. Deutschland übt sich hier in Memorialaskese.
Von Hans Vorländer
Vor 40 Jahren, am 23. Mai 1979, veröffentlichte Dolf Sternberger in dieser Zeitung eine Würdigung des Grundgesetzes. Der Leitkommentar von Seite eins war überschrieben: »Verfassungspatriotismus«. Sternberger hatte diesen Begriff bereits vorher geprägt, aber das Licht der Öffentlichkeit erblickte er erst zum dreißigsten Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes. Sternberger schrieb, dass die Verfassung aus der »Verschattung« gekommen sei, in der sie einst entstanden war: »In dem Maße, wie sie Leben gewann, wie aus bloßen Vorschriften kräftige Akteure und Aktionen hervorgingen, wie die Organe sich leibhaftig regten, die dort entworfen, wie wir selbst die Freiheiten gebrauchten, die dort gewährleistet waren, wie wir in und mit diesem Staat uns zu bewegen lernten, hat sich unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotismus ausgebildet.« Mit diesem »zweiten Patriotismus« meinte Sternberger die Liebe zur Verfassung, wobei er weniger das Dokument, auch nicht allein die abstrakten Rechtsprinzipien meinte, sondern die »lebende Verfassung, an der wir täglich mitwirken« und der sich die Bürgerinnen und Bürger verbunden wissen. Verfassungspatriotismus war also etwas anderes als nationalstaatlicher Patriotismus, etwas anderes auch als ethnischer oder völkischer Nationalismus. Es sollte das soziokulturelle Substrat einer durch die Verfassung integrierten politischen Gemeinschaft sein. In der »Verbindung des Gedankens der Verfassung mit dem Gedanken des Patriotismus« lag, wie Richard von Weizsäcker später formulierte, »die Selbstverständlichkeit einer Wahrheit«.
Das war ein erstaunlicher Befund. Denn von »Verfassungspatriotismus« konnte in den 1950er und 1960er Jahren keineswegs die Rede sein. Im Vordergrund stand zunächst der ökonomische Wiederaufbau. Das »Wirtschaftswunder«, dann auch die Etablierung des Sozialstaates mit den kollektiven Sicherungssystemen gaben der zweiten deutschen Demokratie Rückhalt und ein soziales Fundament. Zugleich machte der »Systemkonflikt« mit dem Sozialismus des anderen deutschen Teilstaates den Antikommunismus zur Staatsräson. Das wurde 1952 deutlich, als das Bundesverfassungsgericht eine Nachfolgepartei der Nationalsozialisten, die Sozialistische Reichspartei, ebenso verbot wie vier Jahre später die Kommunistische Partei Deutschlands. Damit war aus dem Grundgesetz eine Verfassung des Anti-Totalitarismus geworden, welche einen Kontrapunkt zu dem sich in der DDR zur gleichen Zeit verfestigenden System des Kommunismus setzte.
Zum zentralen Bezugspunkt wurde das Grundgesetz in den 1970er Jahren, in einer Phase starker parteipolitischer Polarisierung, als nahezu alle großen gesellschaftlichen Reformvorhaben der Koalition aus SPD und FDP in den Strudel verfassungspolitischer Auseinandersetzungen gerieten. Die Reform des Abtreibungsverbotes, des Ehe- und Scheidungsrechts, die Novelle zum Kriegsdienstverweigerungsrecht, die Neufassung unternehmerischer Mitbestimmung sowie die Neugestaltung der Deutschlandpolitik durch den Grundlagenvertrag mit der DDR waren nicht nur politisch umkämpft, sondern sie landeten vor dem Bundesverfassungsgericht.
Das Grundgesetz war zu einer Konfliktverfassung geworden. In diesem »Kampf um das Grundgesetz«, in dem politische Kontroversen zur Alternative von Verfassungsvollzug oder Verfassungswidrigkeit stilisiert wurden, zeigte sich aber zugleich das Bestreben aller politischen Kräfte, »auf dem Boden des Grundgesetzes« zu agieren. Dieses – nur auf den ersten Blick – paradoxe Verhalten ließ den Eindruck entstehen, als seien die Bundesdeutschen ein »Volk von Grundgesetzbekennern«, wie seinerzeit Peter Graf Kielmansegg formulierte. Dass damit der Konflikt um das Grundgesetz das Grundgesetz selbst stärkte, weil es zum Bezugspunkt aller politischen Akteure geworden war, konnte während der zum Teil erbittert geführten Auseinandersetzungen der 1970er Jahre kaum erwartet werden, gehörte aber, gleichsam einer List der Konfliktvernunft gehorchend, zu den die Verfassungskultur der westdeutschen Demokratie nachhaltig bestimmenden Begleiteffekten. Das Grundgesetz war damit stärker als frühere Verfassungen der deutschen Geschichte zu einem Identifikationspunkt, letztlich zu einer integrierenden Verfassung geworden – was auch in Befragungen der bundesdeutschen Bevölkerung zum Ausdruck kam. Die Verfassung war symbolisch in die Leerstelle eines unbesetzt gebliebenen identitätsstiftenden Zentrums der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft eingerückt.
Wie stark sich die Bundesrepublik in ihrem Grundgesetz und dem damit verbundenen Verfassungspatriotismus wiederfand, konnte auch beobachtet werden, als im Prozess der staatlichen Vereinigung von DDR und Bundesrepublik über eine neue, von einer verfassunggebenden Versammlung nach Artikel 146 zu beschließenden Verfassung diskutiert und bis auf wenige Ausnahmen von allen politischen und wissenschaftlichen Seiten der alten westdeutschen Bundesrepublik am »bewährten« Grundgesetz festgehalten wurde. Aus dem Provisorium war ein Definitivum geworden – just in dem Moment, als das Grundgesetz seine Funktion eigentlich erfüllt hatte und einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung hätte Platz machen müssen.
Dass damit 1989/90 nicht zu einem konstitutionellen Schlüsselmoment werden konnte, ist vielfach – bis auf den heutigen Tag – beklagt worden. Das Bedauern über die verpasste Gelegenheit betraf dabei weniger die technische Seite der durch die nationalstaatliche Einheit notwendig gewordenen Verfassungsänderungen, sondern es war grundsätzlicher Natur und beruhte auf einem Verfassungsverständnis, welches in Verfassungen mehr als nur Organisationsstatute, vielmehr auch Foren gesellschaftlicher Selbstverständigung sieht. Wenn es darum hätte gehen sollen, in einer möglichst breiten Verfassungsdiskussion auch Anfragen und Erfahrungen aus dem Bereich der DDR aufzunehmen, dann musste der Modus der Herstellung der Einheit Deutschlands über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik als verpasste Chance gesamtgesellschaftlicher Verständigungs- und Integrationsmöglichkeiten gesehen werden. Die Absicht von Bürgerrechtsgruppen und reformorientierten Kräften, über eine gesamtdeutsche Konstituante eine neue Republik zu gründen, scheiterte. Dieses Scheitern war nicht dramatisch. Auch die sensible Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welche Belange der Ostdeutschen zu berücksichtigen verstand (Wahlrecht, Bestand der Bodenreform, Abtreibungsregelung), trug entscheidend mit dazu bei, dem Grundgesetz auch im Osten Geltung und Anerkennung zu verschaffen – obwohl es keine neue gesamtdeutsche Verfassung gegeben hatte.
Das Grundgesetz hat in den 70 Jahren seiner Existenz politische und gesellschaftliche Integrationskraft entwickeln können. Aber die Umstände waren auch günstig, die politischen Kräfte haben es respektiert (wenngleich nicht immer die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes akzeptiert), die Gesellschaft hat mit ihm die grundlegenden Werte einer an Menschenwürde, Grundrechten, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit orientierten politischen Ordnung verbunden. In Zeiten starker gesellschaftlicher Spaltungen und politischer Polarisierungen wachsen jedoch Zweifel – weniger am Grundgesetz, sondern am gesellschaftlichen Zusammenhalt. Doch kann das Grundgesetz hier nur bedingt Abhilfe schaffen. Verfassungen sind Regelwerke, die helfen, Konflikte in einer zivilisierten und demokratischen Weise auszutragen. Sie helfen dabei, sie sind aber keine Garantien, dass das immer gelingt. Letztlich hängen Geltung und Stärke einer Verfassung davon ab, ob die Bürger und Bürgerinnen an die Verfassung »glauben«, sich mit ihr identifizieren, sie auch nutzen, um sie damit lebendig werden zu lassen.
Gefährlich wird es, wenn sich politische Kräfte, wie derzeit in und außerhalb Europas beobachtbar, die konstitutionelle Ordnung gefügig machen wollen, indem sie die Unabhängigkeit der Justiz und der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie die Freiheit der Medien, der Wissenschaft oder der Kunst und den Schutz von Minderheiten einzuschränken versuchen. Die Räson von Verfassungen besteht immer auch in der Hemmung von Machtausübung, in der Einhegung von Souveränitätsbehauptungen, auch wenn diese sich als vermeintlicher »Wille des Volkes« verkleiden. Der populistische Modus der Unmittelbarkeit, der direkten, ungehemmten, von keiner institutionellen Gegenmacht kontrollierten Form des Regierens aber zerstört den Kern dessen, was Verfassungen bezwecken: die Vereinbarkeit von kollektiver Selbstregierung und individueller Freiheit.
Was lässt sich tun, wie kann eine lebende Verfassung, von der Sternberger schrieb, gefestigt und von ihren Bürgern und Bürgerinnen dauerhaft, auch über momentane Krisenphänomene hinweg, wertgeschätzt werden? Die Antwort mag paradox erscheinen, ist es aber nicht: durch Verlebendigung ihrer Geschichte. Verfassungen sind Speicher politischer Wert- und Ordnungsvorstellungen – solcher, die tradiert, solcher, die als Lektion aus der Geschichte erlernt, und solcher, die erkämpft und errungen worden sind. Das war in Deutschland nach 1945 so, ebenso nach 1989, und auch solche großen gesellschaftlichen Konflikte, wie sie in den 1970er Jahren in Westdeutschland auf dem Boden der Verfassung ausgetragen wurden, graben sich in das kollektive Gedächtnis ein. Sie zu erinnern und zu erzählen wäre Aufgabe kultureller Verfassungssicherung. Dazu braucht es Orte, Rituale und Erlebnisse. Gedenktage sind Anlass zum Innehalten, aber auch zur Selbstvergewisserung. Ein offizieller Verfassungstag – der 23. Mai als...