Du musst dir dein Frühstück verdienen
Ich hörte sie, bevor ich sie sah, es wäre also Zeit gewesen, umzudrehen. Doch sagte nicht schon Albert Einstein, er habe keine besondere Begabung, sondern sei nur leidenschaftlich neugierig? Das trifft auch auf mich zu. Mit leidenschaftlicher Neugier kann man sich in Los Angeles aber schnell eine blutige Nase holen. Doch zum lange Überlegen blieb keine Zeit mehr, ich stand den Jungs schon gegenüber: Eine halbe Kompanie Weiße, Schwarze, Hispanos, Asiaten, gekleidet in schwarze Kung-Fu-Hosen und schneeweiße T-Shirts. In der Regel –das war Lektion Nummer Eins, seit ich meine Unterkunft in West Hollywood bezogen hatte – ist der Nationenmix unter den Gangs verpönt. Die Mexikaner bleiben unter sich, die Puertoricaner bleiben unter sich, die Chinesen, die Afroamerikaner – in diesem Teil von Los Angeles ist die Idee vom Melting Pot der amerikanischen Nation nicht angekommen.
Die Gang stoppte wie ein Mann. Das muss ja aussehen, dachte ich, ein Schwarzwälder gegen 50 Typen, von denen jeder ein Bizeps hat so dick wie mein Oberschenkel. Ihr Anführer herrschte mich an. Was er sagte, und wie er es sagte, war im Englischunterricht nicht vorgekommen. Aber ich verstand „in the hood“ und „doing there?“, also gab ich Auskunft, dass ich zu Besuch bei meinen Freund Jonas war, der da drüben wohnte, keine zwei Minuten von hier. Mein Akzent tat das übrige.
„You're from Germany?“, fragte der Anführer, und war auf einmal ganz relaxt. Ich bestätigte, yes, yes, from Germany, from the Black Forest, denn das finden Amerikaner immer ganz dufte. Black Forest, Black Forest Cake, davon hat jeder schon gehört. Das war auch in Gangland Los Angeles nicht anders. Der Anführer machte mich darauf aufmerksam, dass ich es ihm zu melden habe, sollten sich fremde Drogendealer rumtreiben, dann zogen die Jungs weiter. Ich atmete durch. Heiß war es heute, verdammt heiß, aber das war wohl nicht der einzige Grund, weshalb ich schweißgebadet war. Den Rest des Wegs legte ich im Laufschritt zurück. Zweimal hörte ich Schüsse, einmal kreischte eine Frau, dann erreichte ich Jonas’ Haus. Es lag hinter hohen Mauern und wurde von Kameras überwacht. Solche Festungen kenne ich aus Vororten afrikanischer Städte, wo reiche Weiße wohnen, die ihr Vermögen gegen Leute verteidigen müssen, die nichts haben. Mein Freund Jonas ist zwar ebenfalls weiß, aber gewiss nicht reich. Und wenn auch West Hollywood wenig mit seinem protzigen Nachbarn Beverly Hills gemeinsam hat, ist es doch kein Ghetto. Der Hollywood Boulevard mit dem berühmten Walk of Fame ist nur ein Katzensprung entfernt, und mitunter verirrt sich sogar ein Tourist hierher. Nein, West Hollywood ist ein normales Wohnviertel, das zwar die besten Zeiten lange hinter sich hat, aber mal ehrlich, gehts uns nicht allen so? Wenn durch ein normales Viertel von Los Angeles regelmäßig Schüsse peitschen, die nicht von einem Filmset kommen, wer braucht dann noch Kino? Seit den letzten großen Unruhen in der Stadt, unter dem Namen Rodney King Riots weltweit bekannt geworden, waren einige Jährchen ins Land gezogen, doch der Vulkan brodelte noch immer. Damals wurden vier Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King misshandelt hatten, was auf Videofilm festgehalten worden war, von einem Gericht freigesprochen. Die Empörung unter der nichtweißen Bevölkerung hatte bürgerkriegsähnliche Folgen. Am Ende waren 53 Tote zu beklagen, einige tausend Verletzte, und Sachschäden in einer Höhe von einer Milliarde Dollar.
Jonas lachte nur, als ich ihm von meinen neuen Kumpels erzählte. Er arbeitete als Dozent für E-Gitarre am Musician Institut, und als wir uns in einer Künstlerkolonie in Australien kennenlernten, sagte er ganz nebenbei, wenn du mal in L.A. bist, schau vorbei.
Ein paar Monate später stand ich vor seiner Tür.
„Ist 'ne besondere Truppe“, sagt er, und reichte mir ein Beruhigungsbier. „Besteht aus ehemaligen Mitgliedern anderer Gangs. Deshalb ist sie gemischt. Die Leute treten für den Frieden ein.“
Ich verschluckte mich.
„So ähnlich wie Blauhelme“, sagte Jonas. „Nein, der Vergleich hinkt. Die Gang hat ihre Waffen abgegeben. Freiwillig.“
Das will was heißen in Amerika. Erst kürzlich bestätigte der Oberste Gerichtshof das Recht aller Bürger auf den Besitz von Waffen. So kommen auf 100 Amerikaner 90 Waffen, was 30000 Menschen pro Jahr das Leben kostet. Ein unbewaffnetes Gangmitglied in LA ist wie ein Taucher ohne Sauerstoffflasche. Da kann einem schnell die Luft ausgehen.
„Weshalb?“, fragte ich.
„Sie wollen ein Zeichen setzen“, antwortete Jonas.
Weil auch die Stadtverwaltung Zeichen setzte. Mit millionenschwerer Unterstützung soll das L.A. Bridges Anti-Gang-Program junge Leute von der Straße holen. Grund ist, dass Gangverbrechen in den letzten Jahrzehnten zur Epidemie wurden. Wer zwischen 30 und 35 Jahre ist und männlich, hat statistisch gesehen schlechte Überlebenschancen. 80 Prozent aller Mordopfer entsprechen diesem Profil. Zum Glück hatte ich schon ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel. Die Statistik sprach für mich, die Neugierde weniger.
„Ich würde gern mal mit denen um die Ecken ziehen“, sagte ich. „Meinst du, das lässt sich arrangieren?“
Nach einem kurzen nap – dem kalifornischen Äquivalent zur siesta – begleitete ich Jonas zum Tempel der Rockmusik. Das Musician Institute MI öffnete seine Pforten in den späten 70er-Jahren. Wer in diesem Business eine große Nase werden wollte, konnte hier Gitarre, Bass, Keyboard, Schlagzeug oder Gesang studieren. Es gab sogar einen Gitarren-Reparatur- Studiengang, obwohl mir Jonas versicherte, dass die Zeiten, als Leute wie Pete Townsend von The Who nach jedem Konzert ihr Instrument zertrümmerten, eigentlich vorbei waren.
„Eigentlich vorbei“ heißt, Spaß macht's aber noch immer. Und dann ist es gut zu wissen, wie man das Ding wieder zusammenschraubt.
Der Rocktempel lag am Hollywood Boulevard. Um dorthin zu kommen, mussten wir an einem nicht weniger erfolgreichen Tempel vorbei, der Church of Scientology Mission of Melrose.
Schnieke, schnieke, dachte ich, L. Ron Hubbards Hollywood-Residenz. Musste wohl sein, wenn man prominente Schauspieler wie Tom Cruise und John Travolta in den eigenen Reihen begrüßen konnte.
„Jedes Mal quatschen mich die Schlümpfe an, ob ich ihren bescheuerten Test machen will“, schimpfte Jonas, und ließ keinen Zweifel daran, was er von den Scientologen hielt.
„Die sehen halt, dass Gitarrenzertrümmerer wie du Beistand benötigen“, antwortete ich. „Da ist zuviel Dampf unterm Deckel.“
Jonas grinste. Dampf unterm Deckel ist eine Notwendigkeit für jemand, der in der Hall of Fame ankommen möchte. Wie viele Amerikaner glaubte auch mein Freund felsenfest an seinen Erfolg. Der Job als Dozent und die zahlreichen Bandprojekte waren lediglich das Sprungbrett dafür.
Wir schlenderten am Scientologytempel vorbei, und ein junger Mann fragte höflich, ob wir reinkommen wollten.
Wir wollten nicht. Wir sagten, dass wir lieber Gitarren zertrümmern. Das Gesicht des jungen Mann blieb unbewegt. Er wandte sich dem nächsten Passanten zu.
„Roboter!“, zischte Jonas. „Glaubst du, die Anmache hat Erfolg?“
„Scientology behauptet, sie haben 8 Millionen Mitglieder in Amerika“, antwortete ich.
Doch eine Untersuchung der City University of New York war zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen. Danach waren es bloß 55000.
„Aber denk mal nach“, fuhr ich fort. „Wie viele Gitarrenspieler gibt es auf der Welt, und wie viel Lärm machen die?“
Jonas boxte mich in die Seite. „Man sollte sich nie mit Schriftstellern anfreunden“, sagt er. „Die drehen einem ständig das Wort im Mund rum. Ich werde dir zeigen, was Lärm machen bedeutet.“
Sollte ich in meinem nächsten Leben als Stromgitarrenspieler reinkarniert werden, will ich auch am MI studieren. Jonas führte mich durch die Tonstudios, das Filmstudio für Musikvideos, die Übungskabinen, in denen Studenten mit Kopfhörern auf den Ohren ungestört von lärmempfindlichen Nachbarn üben konnten. Natürlich warfen wir auch einen Blick ins Gitarrenkrankenhaus. Dort arbeitete Joe Alonzo, und als ich ihn fragte, ob er immer gut zu tun habe, lachte er.
„Wir reparieren nicht nur, wir bauen customized guitars. Spezialanfertigungen. Die meisten lieben ihr Instrument zu sehr, um es kaputtzuschlagen. Zertrümmern ist schwer aus der Mode gekommen.“
Hatte Jonas also Recht gehabt. Nachdem er mir mit seiner Klasse noch eine Nachhilfestunde in Sachen Lärm gegeben hatte, überließ ich ihn seinem 120-Dezibel-Job. Mich zog es dahin, wo seit Jahr und Tag die starken Männer ihren Bizeps spielen lassen: An den Strand.
Los Angeles liegt am Meer, doch mitunter kann man das vergessen. Man kann das sogar sehr gut vergessen, weil Tag für Tag eine Smogglocke über der Stadt hängt. Eigentlich trägt die russische Industriestadt Dserschinsk den Titel der am meisten verschmutzten Metropole der Welt, aber meine Lungen waren anderer Meinung. An Smogtagen gibt es in LA nur eine Devise: Man setzt sich wie viele der knapp 18 Millionen Einwohner ins Auto – gerne einen Hummer, der mit 30 Litern Spritverbrauch auf 100 Kilometer bei 470 Gramm CO2-Ausstoß seinen Beitrag zur grauen Suppe leistet – und kachelt runter zum Strand. Bevorzugt nach Muscle Beach, ein Viertel südlich von Santa Monica. Dort bläst meist ein ordentlicher Wind, und der Smog hat keine Chance. Deshalb konnte man in...