2. Die Entwicklung von Kindern
2.1 Mit wem haben wir es zu tun?
Jedes Alter des Menschen hat seine spezifischen Besonderheiten, seine »Lernziele«. Aus den Erfahrungen einer Altersstufe gewinnt das Kind wiederum Einsichten und Kräfte, die für die Bewältigung der nächsten Lebensphase wichtig sind. Jede Altersstufe hat ihre eigene Aufgabe und ihren eigenen Sinn.
Die Psychologie spricht im Zusammenhang mit dem Entwicklungsprozess von so genannten »Fälligkeiten«. Bestimmte biologische und psychische Fähigkeiten und Entwicklungen bilden die Voraussetzung für die sich anschließende Lebensphase, z. B. auf biologischer Ebene: Laufen lernen, Zahnwuchs, Feinmotorik (Schreiben lernen, Instrumentalspiel) oder auf psychischer Ebene: Vertrauen entwickeln können, Bezugsperson loslassen können usw.
Ein Ziel der musikalischen Arbeit mit Kindern soll sein, die Kinder dort abzuholen, wo sie sich entwicklungsmäßig befinden. Inhalte und Vorgehensweise sollen der Altersgruppe und ihren Fähigkeiten entsprechen. Kinder sollen in ihrer Entwicklung unterstützt, gefördert und gefordert werden. Für die Arbeit als Chorleiter bedeutet dies:
–Erkennen Sie, wozu Kinder in ihrer jeweiligen Lebensphase fähig sind.
–Erleben Sie Musik mit Kindern über unterschiedlichste Sinne.
–Kinder sind »fertige Menschen«. In jeder Lebensphase können sie – altersentsprechend – ernst zu nehmende Musik produzieren.
–Altersunabhängig ist ihr Umgang mit Musik über die Sinne. Altersabhängig ist die Auswahl der Inhalte und die Methoden zur Vermittlung von Musik.
Die Entwicklung von Kindern ist ein kontinuierlicher Prozess, der sich in Entwicklungsschüben, Früh- und Spätentwicklungsphasen abspielt. Zum besseren Verständnis für den Umgang mit Kindern ist die folgende Übersicht gedacht. (Die Darstellungen sind stark vereinfacht.)
–Die Geburt: Der Mensch ist nach der Geburt hilflos und abhängig. Da sein Verhalten zur Zeit der Geburt wenig festgelegt ist, wird es im Laufe seiner Entwicklung umso mehr durch die Umwelt beeinflusst werden.
–Das 1. Lebensjahr: In diese Lebensphase fällt vor allem die Unterscheidung zwischen dem eigenen Körper und der Umwelt. Der Körperteil, der in dieser Entwicklungsphase eine besonders große Rolle spielt, ist der Mund. Gefüttert zu werden ist für das Baby eine Hauptquelle von Zufriedenheit. Gleichzeitig dient der Mund zur Erforschung der Umwelt (Orale Phase). Des Weiteren erkennt das Kind in diesem Alter, dass jemand anderes für die volle Befriedigung seiner Bedürfnisse zuständig ist. Es erfährt die Abhängigkeit von einem anderen Menschen, in der Regel von der Mutter. Daraus resultiert die Angst, diesen »Jemand« zu verlieren (Trennungsangst).
–Das 2. und 3. Lebensjahr: Im zweiten und dritten Lebensjahr fährt das Kind fort, sich und seine Umwelt zu entdecken. Nach der Nahrungsaufnahme rückt nun auch die Ausscheidung des Essens in den Mittelpunkt seines Interesses (Anale Phase). Das Kind lernt, sich so zu kontrollieren, wie die Umwelt – die Mutter – es von ihm erwartet. Die Grundeinstellung zum eigenen Selbst entwickelt sich. (Was bin ich? Was gehört mir?)
–Das 4. und 5. Lebensjahr: Wie weit kann ich im Umgang mit anderen gehen? Wo haben meine Geschwister, Eltern oder sonstige Bezugspersonen ihre Grenzen? Ein Aktionsradius wird festgelegt. Es ist das Alter der Neugierde und der Warum-Fragen. Das Kind lernt immer besser, Erlaubtes und Unerlaubtes zu unterscheiden. All dies geschieht über den Prozess der »Identifikation«. Verschiedene »Rollen« (Vater – Mutter, Arme – Reiche) werden mit ihren Wertvorstellungen (ehrlich – unehrlich, stark – schwach, treu – untreu) im Spiel ausprobiert.
–Das 6. bis 11. Lebensjahr: In diesen Jahren erlebt das Kind entwicklungsmäßig ruhigere Zeiten. Bis zum Alter von ca. zwölf Jahren steht die Meisterung der Außenwelt (Latenzperiode) auf dem Lebensprogramm. Das Kind lernt lesen und schreiben, Rad fahren, schwimmen usw. Dieser Lebensabschnitt verdient wohl am ehesten den Namen »goldene Kindheit«.
–Die Pubertät und das Heranwachsen: In der Zeit des Heranwachsens bricht bei Kindern oft die Harmonie der vergangenen Lebensjahre zusammen. Fragen nach der eigenen Identität »Wer bin ich? Was will ich?« werden immer wichtiger. Diese Zeit der Identitätsfindung wird begleitet von einem schmerzhaften, aber lebensnotwendigen Ablösungsprozess von den bisherigen Bezugspersonen, der nicht ohne Reibungsverluste abläuft.
2.2 Kinder der 1. bis 3. Klasse
Das Baby und Kleinkind lernt Mutter und Vater als Bezugspersonen kennen. Der Eintritt in den Kindergarten ist oft mit Trennungsängsten verbunden, z. B. wenn die Mutter das Kind in der Gruppe zurücklässt. Neue Bezugspersonen kommen hinzu.
Mit dem Wechsel vom Kindergarten in die Schule lernen Kinder wieder andere Bezugspersonen kennen. Nun ist es der/die Lehrer/in, mit dem/der sich das Kind identifiziert, von dem/der es geliebt werden will. Diesbezüglich haben Kinder in dieser Altersstufe noch viel mit einem Kleinkind gemeinsam, das von den Zuwendungen seiner Bezugspersonen abhängig ist.
Besonders in den ersten Schuljahren gibt es viele Einzelgänger, die von niemandem als Freund gewählt werden und deren eigene Wahl von Freunden sehr zufällig ist: »Er ist mein Freund, weil er neben mir sitzt, weil er denselben Weg hat wie ich« usw. Man findet Kettenbeziehungen: Marc nennt Philipp seinen Freund, Philipp nennt Daniel seinen Freund usw.
Hier unterscheiden sich die älteren Kinder im Kindergarten und die Kinder der ersten beiden Schuljahre nicht grundsätzlich voneinander. Das Neue des Schulalters ist das Sich-Öffnen zur Gemeinschaft der Gruppe, das »Sich-bewusst- Werden« dieser Gemeinschaft und damit der Wunsch nach Bewährung innerhalb der Gruppe und nach einer möglichst angesehenen »Rolle«.
Im Kindergarten und auch noch in der 1. Klasse sagen Kinder häufig: »Frau Müller ist meine Kindergärtnerin / Lehrerin.« Für Kinder dieser Altersstufe sind die anderen Kinder der Gruppe noch nebensächlich. Erst mit der Fähigkeit zur Wahrnehmung des Klassenverbandes, ab ca. der 2. Klasse, sagen Kinder dann: »Frau Müller ist unsere Lehrerin.« Die Kinder fangen an, sich als Teil der Gruppe zu verstehen.
Die Regeln in dieser Gruppe müssen von der jeweiligen Bezugsperson vorgegeben werden. Die Kinder sind auf die Führung durch den Lehrer angewiesen. Die Beziehung zum Lehrer ebnet den Weg in die Gruppe, denn der Lehrer ist zur neuen Bezugsperson geworden.
Wie gehen Kinder miteinander um?
Die Möglichkeit des Zusammenspielens, der Zusammenarbeit und der selbstständigen Organisation von Spielen beschränkt sich im Alter zwischen sechs bis acht Jahren auf Gruppen von fünf bis sechs Kindern. Die Kinder finden sich meist zu Rollenspielen zusammen, die durch feste Regeln charakterisiert sind: Die Wahl der Akteure sowie der Ausgang des jeweiligen Spieles werden vom Zufall bestimmt und lassen der Eigeninitiative wenig Spielraum. Die Kinder lernen durch die Spiele in diesem Alter dreierlei:
–die Partnersituation: das In-Aktion-Treten, wenn man an die Reihe kommt (und nicht früher), das Zurücktreten, wenn ein anderer an der Reihe ist;
–den Verzicht auf regelwidrige Aktionen, welche das Spiel zugunsten der eigenen Person entscheiden sollen, d. h. den Verzicht auf das Schwindeln;
–das Verlieren-Können. Unterlegenheit im Spiel ist auf dieser Altersstufe gleich bedeutend mit Prestigeverlust. Mit »Würde« zu verlieren, ohne Aggressionen zu zeigen oder aus dem Spiel zu gehen, muss erst allmählich gelernt werden. In dem Konflikt zwischen dem Bedürfnis, die Frustration abzureagieren, und der Gefahr, ausgeschlossen zu werden, entscheidet sich das Kind für angepasstes Verhalten.
Durch Beobachtungen und Untersuchungen kann belegt werden, dass sich im Laufe des ersten Schuljahres Ansätze einer Rangordnung im sozialen Ansehen herausbilden. Eines der wichtigsten menschlichen Bedürfnisse und zugleich eine der mächtigsten Motivationen erwacht: Das Streben nach Prestige, nach einem Rangplatz in der Gruppe. Eine Rangordnung findet sich nicht nur in jeder Gruppe von vergesellschaftet lebenden Tieren (Hühnern, Menschenaffen), sondern auch bei jeder Gruppe von Menschen. In den ersten Schuljahren zeichnen sich bereits einige Positionen ab:
–die der »Stars«, deren Beachtung von vielen gesucht wird;
–die der »Abgelehnten« am anderen Ende der Skala. Das sind vor allem die Kinder, die gegen die gesetzten Werte und Ordnungen der Gruppe verstoßen, die Aggressiven, die Störer, die Spielverderber, aber auch Kinder, die leistungsmäßig schlecht abschneiden...