Einleitung: Grundzüge und Aufbau des KTC-Handbuchs
„Ich probiere Geschichten an wie Kleider.“
(Max Frisch)
Was bringt Menschen dazu, sich in einem freiwillig vereinbarten Rahmen mit vertrauten Fremden zu öffnen, sich kritische Freunde zu suchen, die ihnen helfen ihre Situation umfassend wahrzunehmen und den eigenen „blinden Fleck“ zu überwinden? Wo ist der Ort, der es möglich macht, dem eigenen Ringen um Identität in wechselnden Kontexten, der Suche nach Lebensqualität unter divergierenden Ansprüchen, der Entscheidung unter diversen Risiken, dem Streben nach Wirksamkeit unter zahlreichen Beeinträchtigungen, der Entfaltung des Lebenssinns unter starken Ambivalenzen, der Gewinnung von Perspektiven unter den Bedingungen der Unsicherheit und der Bereitschaft zur Verantwortung im Füreinander nachzugehen?
Im Kollegialen Teamcoaching (KTC) geschieht genau dies. Menschen schließen einen Kontrakt und werden füreinander Gefährten, Zeugen, soziale Spiegel, kritische Freunde, Lernpartner, Entwicklungsbegleiter und Coachs. Sie entscheiden sich, füreinander bedeutsam zu werden und überwinden so die postmoderne Welt der „Flaneure, Spieler und Touristen“ (Baumann 2007). Ausgestattet mit dem normalen Sinn an Verständnis, Einfühlung, Resonanz, Mitmenschlichkeit und Ideen, erleben sie das Phänomen und Faszinosum einer kollektiven Intelligenz und Weisheit gepaart mit einer Resonanz und Schwingungsfähigkeit, die sich auf intuitives Erfassen von Wirklichkeit gründet. Die Vielfalt heterogener Perspektiven in dialogischen Formen der Resonanz kommuniziert, kommt den inneren Themen und persönlichen Spannungsfeldern der Akteure auf der KTC-Bühne so nahe, dass diese sich getragen, verstanden und ermutigt fühlen, ihre innere Ambivalenz anzuschauen und zu überwinden.
Das Kollegiale Teamcoaching geht von Situationen aus, die einzelne Akteure mitbringen. Das können Probleme, Entscheidungen, Enttäuschungen, Erwartungen, Überforderungen, Erschöpfungen, Wünsche, Erfolge, Programme, Ideen, Kooperationen sowie jede Art von persönlichem Anliegen und Erleben sein. Es bedarf nur einer Ausgangslage, Geschichte oder Perspektive, die erzählt werden kann. Niemand muss sich fragen, ob sein Thema sich für ein KTC eignet. Er muss es nur schildern und offen darlegen. In bestem Sinne verwandt mit dem „Storytelling“ (Frenzel, Müller & Sottong 2006) geht es um ein Abenteuer.
Auf das Teamcoaching lassen sich damit auch Menschen ein, die sich nicht in einem klassischen Verständnis als beratungsbedürftig mit Problemen und Schwächen verstehen würden. Vielmehr spüren die Akteure ein deutliches Unbehagen an der eigenen Indifferenz, an der Verharrung in alten Mustern, an einem Gefühl des Ungenügens gegenüber schwer fassbaren Ansprüchen, an einem Gefühl der Irritation, der Leere oder der Überlastung. Sie nutzen die besondere Form der kollegialen Beratung, die keine Probleme als Ausgangspunkt benötigt, sondern vielmehr Situationen als umfassende Lebenslagen mit Merkmalen, Herausforderungen, Schwierigkeiten und Chancen, die bewältigt und genutzt werden können. Dieser dem situativen Lernen entlehnte Ansatz der Arbeit mit Personen in systemischen Kontexten und Umgebungen wird im vorliegenden Handbuch dargelegt, detailliert begründet und in Anwendung und Auswertung ausgeführt.
Das Kollegiale Teamcoaching hat sich im Umfeld von Menschen und Situationen entwickelt, in denen sie sich als Berater, als Lehrer, als Projektleiter, Führungskräfte, Eltern, Forscher, Techniker, Künstler, Sozialarbeiter, Doktoranden, Berufseinsteiger, Entwickler, Dienstleister und Kreative mit Aufgaben und Anforderungen konfrontiert sahen, die für sie neu, überraschend, fordernd und komplex waren, sodass sie daran zweifelten, ob es ihnen gelingen könne, sie zu lösen. Der Auswahl von Situationen liegt häufig ein Differenzerleben zugrunde, ein Gefühl der Inkonsistenz, Inkohärenz und Unstimmigkeit.
Mehr und mehr Menschen erleben sich in Verantwortung für Entscheidungen und Entwicklungen, die weitreichend, bedeutsam und partiell unberechenbar und komplex sind. „Wie verantworte ich etwas, das ich nicht verantworte? Wie vertrete ich Entscheidungen und Entwicklungen, von denen ich ein Teil bin, die ich jedoch weder gewollt noch intentional herbeigeführt habe? Wie entkomme ich dem Dramadreieck, das nur Opfer, Verfolger und Retter kennt?“ Chronisch unterinformiert über alle mitzudenkenden Aspekte, Wirkungen und Nebenwirkungen, sind wir darauf angewiesen, Annahmen über eine entstehende Zukunft zu formulieren und in unserem Handeln darauf zu bauen. In der Fülle von Aufgaben, die nie ganz erledigt scheinen, in Situationen permanenter Erreichbarkeit, in Konstellationen wachsender Ansprüche gerät das Identitätserleben unter Spannung und Druck. Autonomie, Selbstbestimmung, Positionierung, Abgrenzung fällt schwer in den neueren Welten der Verantwortung, der Vernetzung und allseitigen Verbundenheit.
Das KTC bietet demgegenüber einen Ort des Entschleunigens, einen Raum der Besinnung, eine Denkwerkstatt, ein Labor für Entwicklungsprozesse, ein Atelier für Entwürfe und eine Bühne für die Erprobung der Rollen und Auftritte. Im wechselnden Spiel der Akteure wird jeder zum Teilgeber. Wir nutzen dabei das Potential, die soziale Phantasie und Empathie einer Gruppe, die in ihrer Heterogenität die Chance hat, die Themen hinter den Themen zu erfassen und von Ratschlägen zu Entwicklungsaufgaben und Musterwechseln vorzudringen.
Die Philosophie dieser systematisch entwickelten und methodischen Form der Partizipation und Aktivierung, ihre theoretischen wie methodischen Hintergründe, aber auch Formen des variierten Einsatzes und die darin enthaltenen Chancen für Vernetzung und Kulturwandel werden in dem vorliegenden Handbuch beschrieben.
Was macht den enorm großen Beratungs- und Klärungsbedarf der Menschen in der heutigen Zeit aus? Was hat sich gesellschaftlich gewandelt? Das KTC hat sich in einem gesellschaftlichen Umfeld entwickelt, das Beweglichkeit und Entwicklung fordert und zugleich Sicherheit entzieht. Das alte Muster der Selbstbewusstheit, das sich auf Sicherheit und Stabilität gründet, hat sich verändert. Die Befindlichkeit des Lebens hat sich fundamental gewandelt. Unsicherheit, das Gefühl im Dunkeln zu tappen, sich im Kreis zu drehen, am Eigentlichen vorbei zu leben, hat sich ausgebreitet. „Lebe ich oder finde ich nur noch statt?“, hat sich eine Akteurin in ihrem KTC gefragt. Der feste Boden und der sichere Halt sind verloren gegangen.
Die Wirklichkeit wird als unsicher empfunden, Strukturen sind offener geworden, Prozesse sind fließend, Perspektiven wechseln, Bedeutungen wandeln sich, Informationen steigern sich exponentiell und beschleunigt. Erreichbarkeit und Verfügbarkeit haben erträgliche Dimensionen bereits überschritten, Entscheidungen sind unsicher. Menschen müssen lernen, während sie bereits laufen, der Boden ist Treibsand. Das Gefühl für Richtig und Falsch hat sich verflüchtigt, alles scheint möglich. Rationale Analysen helfen nicht weiter. Situationen werden gerade nicht als logisch, vielmehr als paradox erlebt. Ich muss diese erst einmal entschlüsseln. Die Aufforderung, dennoch stimmig, authentisch und situationslogisch zu handeln, setzt einen Situationsblick und eine Perspektive aufs Ganze einer Situation voraus, die jeweils zu entwickeln wären. Sich selbst in seiner Umgebung wahrzunehmen, die auf sich selbst wirkenden Kräfte zu erspüren und zu erfassen und zu erkennen, was die auf einen zukommende, sich auf einen zu bewegende Zukunft für Entwicklungsherausforderungen enthalten mag, das ist neu. Zugleich situationsbewusst und mit Aufmerksamkeit für die inneren Dialoge zu handeln, dabei aufmerksam für die äußere und achtsam gegenüber der inneren Realität zu bleiben, das braucht Zeit und einen Ort, sich zu besinnen. Und gerade daran mangelt es grundlegend.
Menschen erleben sich in der heutigen Zeit in zunehmend ambivalenten, komplexen und überraschenden Situationen. Nichts scheint mehr sicher. Der Arbeitsplatz nicht, die Zukunft nicht und auch nicht die Vergangenheit. Die Erfahrungen verlieren ihren Wert in immer schnellerer Halbwertszeit des Wissens. Strategie wird definiert als Möglichkeit von Organisationen Chancen für Weichenstellungen zu nutzen und die Gegenwart potenziell in jedem Moment als Beginn einer neuen Geschichte zu begreifen. „Organisationen leben gleichsam von dieser Form der eigenen Reproduktion. Sie sind dazu da, im Prozess des Entscheidens Ungewissheit in Gewissheit zu verwandeln“ (Nagel/Wimmer 2009, 14).
Viele suchen Rat, wenn sie nicht weiterkommen, wenn sie sich entscheiden müssen, wenn sie keine Ideen für anspruchsvolle Aufgaben haben, wenn sie Fehler vermeiden wollen oder wenn sie Angst haben zu scheitern, wenn sie spüren möchten, was für sie gut ist, wenn die Antriebe unklar sind und unbewusste Treiber im Nacken sitzen und überhaupt unbewusste Dynamiken Regie führen und alte Muster die Wahrnehmung und das Handeln bestimmen. Ein grundlegendes Differenzerleben bestimmt...