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E-Book

Hannah Arendt

AutorWolfgang Heuer
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644405967
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Hannah Arendt (1906 - 1975) war Jüdin, Weltbürgerin und Antifaschistin. Sie wurde zu einer radikalen Kritikerin totalitärer Herrschaft und beschrieb aus eigener Anschauung die «Banalität des Bösen». Mit ihrer unbestechlichen politischen Urteilskraft propagierte sie den Geist der Aufklärung und setzte Maßstäbe für ein humanistisches Denken auch in finsteren Zeiten. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Wolfgang Heuer, Politologe an der Freien Universität Berlin, Gastprofessor an Universitäten in Brasilien, Kolumbien und Chile, Mitherausgeber der Online-Zeitschrift HannahArendt.net, zahlreiche Veröffentlichungen zu Hannah Arendt, Kokurator der internationalen Kunstausstellung «Hannah-Arendt-Denkraum» in Berlin 2006.  www.wolfgang-heuer.com www.hannaharendt-denkraum.com

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Leseprobe

Das Leben


Kindheit und Jugend


Am 14. Oktober 1906 wurde Johanna Arendt als einziges Kind von Paul Arendt und Martha Cohn in Linden bei Hannover geboren. Die Eltern stammten aus Königsberg, waren seit ihrer Jugend in der sozialdemokratischen Bewegung aktiv und von den damaligen Ideen der Jugendbewegung und fortschrittlichen Erziehung geprägt. Sie hatten einige Jahre in Berlin gelebt, bevor der Vater als Ingenieur eine Anstellung bei einer Elektrizitätsgesellschaft in Hannover fand.

Zwei Jahre später musste er jedoch wegen einer beginnenden Syphilis seine Arbeit aufgeben; die Familie zog nach Königsberg zurück. Hier verbrachte Hannah Arendt ihre Jugend bis zum Studium.

Die Großeltern und Vorfahren entstammten jüdischen Familien, die das Klima der Königsberger Aufklärung seit der Zeit Mendelssohns genossen. Martha Cohns Vater Jacob war 1838 im russischen Litauen geboren und 1852 gerade noch rechtzeitig mit seinen Eltern nach Königsberg ausgewandert, um der zaristischen Klassifizierung der Juden in «nützliche» und «nutzlose» zu entgehen und nicht als «nutzlose» in den Krim-Krieg geschickt zu werden.

Jacob Cohns Vater eröffnete als Kaufmann ein kleines Teeimport-Unternehmen, das bald eines der bedeutendsten Teehandelszentren des Kontinents und unter der Leitung Jacobs mit dem Namen «J.N. Cohn & Co.» das größte Unternehmen Königsbergs wurde.

Als Jacob 1906 starb, hinterließ er drei Kinder aus erster Ehe und vier aus der zweiten mit Fanny Eva Spiro, einer russischen Emigrantin mit hartem sprachlichem Akzent und bäuerlicher Kleidung. 1874 gebar sie Hannahs Mutter Martha. Bis zum Ersten Weltkrieg lebten die sieben Kinder und zwölf Enkelkinder in wirtschaftlichem Wohlstand.

Wie die Familie Cohn gehörte auch die Familie Arendt dem Reformjudentum an. Hannahs Urgroßeltern waren, von der Aufklärung angezogen, aus Russland nach Königsberg gekommen, und Großvater Max, den Hannah sehr verehrte, war Mitglied des «Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens», Präsident der liberalen jüdischen Gemeinde und Stadtverordneter Königsbergs. Er verteidigte wie auch die anderen Familienmitglieder die Ziele der Aufklärung auch noch nach ihrem Scheitern sowohl gegenüber den orthodoxen Juden als auch gegenüber den Zionisten, deren späterer Vorsitzender und Freund Hannah Arendts, Kurt Blumenfeld, häufig bei den Arendts zu Gast war.

Mit diesem Großvater war Hannah besonders in der Zeit, als ihr Vater bettlägerig wurde, oft zusammen. Seine Fähigkeit des Geschichtenerzählens hinterließ bei ihr einen bleibenden Eindruck, und sie entwickelte nicht nur sehr früh einen unerschöpflichen Wissensdurst, sondern auch eine immense Leidenschaft für Geschichten, die sie selber gern und fesselnd erzählte.

Eine Zeitlang kam mehrmals wöchentlich der Reformrabbiner Hermann Vogelstein (1870–1942) zu den Arendts, um der Tochter Religionsunterricht zu geben. Er war wie die Eltern Sozialdemokrat und Sohn des für seine Predigten und tiefe Religiosität berühmten Rabbis von Stettin, der sich mit seiner Frau aufopfernd für die ostjüdischen Flüchtlinge eingesetzt hatte. Mit seiner wesentlich jüngeren Schwester Julie, der Frau des Sozialpolitikers Heinrich Braun, blieb Hannah Arendt ihr Leben lang befreundet.

Hermann Vogelstein und die gelegentlichen Besuche mit den Großeltern in der Synagoge waren Hannahs einzige Begegnungen mit dem religiösen Judentum. Ihre Eltern waren zwar nicht religiös, aber ihre Mutter war selbstverständlich Jüdin. Sie würde mich nie getauft haben! Ich nehme an, sie würde mich rechts und links geohrfeigt haben, wäre sie je dahintergekommen, daß ich etwa verleugnet hätte, Jüdin zu sein. Kam nicht auf die Platte, sozusagen … Aber das Wort Jude ist bei uns nie gefallen, als ich ein kleines Kind war. Es wurde mir zum ersten Mal entgegengebracht durch antisemitische Bemerkungen von Kindern auf der Straße. Daraufhin wurde ich also sozusagen «aufgeklärt» … Ich wußte zum Beispiel als Kind – als etwas älteres Kind jetzt –, daß ich jüdisch aussehe. Das heißt, daß ich anders aussehe als die anderen. Das war mir sehr bewußt. Aber nicht in der Form einer Minderwertigkeit; sondern das war eben so. Deshalb hat sie sich später auch immer nur als Deutsche im Sinne der Staatszugehörigkeit und nicht der Zugehörigkeit zum deutschen Volk verstanden.

Zugleich wurde damit Hannahs Selbstbewusstsein durch ihre Mutter gestärkt, der sie vor allem eine Erziehung ohne alle Vorurteile und mit allen Möglichkeiten verdankte und die immer auf dem Standpunkt stand: Man darf sich nicht ducken! Man muß sich wehren! Bei antisemitischen Äußerungen des Lehrers war ich angewiesen, sofort aufzustehen, die Klasse zu verlassen, nach Hause zu kommen, alles genau zu Protokoll zu geben. Dann schrieb meine Mutter einen ihrer vielen eingeschriebenen Briefe; und die Sache war für mich natürlich völlig erledigt … Wenn es aber von Kindern kam, habe ich es zu Hause nicht erzählen dürfen. Das galt nicht. Was von Kindern kommt, dagegen wehrt man sich selber … Es gab Verhaltensmaßregeln, in denen ich sozusagen meine Würde behielt und geschützt war, absolut geschützt, zu Hause. Es war für sie das einfache Erlebnis einer Kindheit, in der wechselseitige Achtung und uneingeschränktes Vertrauen, eine allumfassende Menschlichkeit und eine echte, fast naive Verachtung für alle sozialen und nationalen Unterschiede als Selbstverständlichkeit betrachtet wurde.

Das Elternhaus lag in dem wohlhabenden Hufen-Viertel, Tiergartenstr. 6, das durch den Pregel von den ärmlichen Wohnvierteln der ostjüdischen Immigranten getrennt war. Für Max Fürst, der dort aufwuchs, war Hannah Arendt in seinen Erinnerungen «schön und klug, ein Kind aus einer ganz anderen Welt». Die Freunde der Eltern waren Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer und Musiker. Die Mutter, die drei Jahre lang in Paris Französisch und Musik studiert hatte, legte großen Wert auf die musikalische und sprachliche Ausbildung der Tochter und las mit ihr Proust im Original. Der Vater besaß eine kleine Bibliothek, die Hannah mit zunehmendem Alter immer intensiver nutzte.

Die Krankheit des Vaters und sein früher Tod 1913 im Alter von 40 Jahren, kurz nachdem auch der Großvater gestorben war, ließen Hannah verschlossener werden. Ihre Mutter notierte in ihrem Tagebuch («Unser Kind») erstaunt die schweigende Hinnahme des Todes ohne sichtbare Trauer. Als im Jahr darauf das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg entfesselte, war Hannah für ihre Mutter «undurchsichtig» geworden. Die vorübergehende Flucht nach Berlin, der Tod des Onkels Rafael, mit dem sie soeben noch den Urlaub an der Ostsee verbrachte, und häufige Krankheiten vergrößerten ihre Angst vor der Trennung von der Mutter und jeder Reise.

Sie war viel mit ihrer Mutter, der Großmutter und den alleinstehenden Frauen der weitläufigen Familie Cohn zusammen, die sich gegenseitig in der Wirtschaftskrise der Nachkriegsjahre halfen. In den Revolutionsjahren 1918 und 1919 wurde ihr Haus zum Treffpunkt gemäßigter sozialdemokratischer Kreise der Bernstein-Richtung. Auch wenn ihre Mutter die linke Abspaltung der Spartakisten um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ablehnte, so bewunderte sie doch Rosa Luxemburg und hielt den Generalstreik von 1919 für einen «historischen Augenblick».

Hannah blieb aber von den politischen Ereignissen unberührt. Sie entwickelte stattdessen ein besonderes Interesse für Philosophie und las mit vierzehn Jahren zum ersten Mal Kants «Kritik der reinen Vernunft» und «Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft», die soeben erschienene «Psychologie der Weltanschauungen» von Jaspers, Kierkegaard und griechische Dichtung. Mit Schulfreunden richtete sie einen Griechisch-Zirkel ein, wie er sonst nur an den Universitäten üblich war, und lernte aufgrund ihrer großen Vorliebe für Lyrik eine Fülle von Gedichten auswendig, die sie gelegentlich vortrug.

Ihr enormes Gedächtnis und ihre rasche geistige Entwicklung kamen ihr aber erst später zu Bewusstsein. Das lag zum Teil an der häuslichen Erziehung. Es wurde nie darüber gesprochen. Es wurde nie über Zensuren gesprochen. Das galt als minderwertig. Jeder Ehrgeiz galt als minderwertig. Ihre Fähigkeiten wurden ihr allenfalls als eine Art von Fremdheit unter den Menschen, als Ausdruck ihrer besonderen Sensibilität bewusst.

Zu ihrem Stiefvater Martin Beerwald, den Hannahs Mutter 1920 heiratete, einem wilhelminisch anmutenden, wohlhabenden Eisenwarenhändler und Sohn eines aus Russland stammenden Geldverleihers, unterhielt sie nur eine lose Beziehung. Ebenso zu seinen beiden Töchtern Clara, die 1930 Selbstmord beging, und Eva, die nach den Novemberpogromen der Nazis 1938 nach England floh.

Kurz vor dem Abitur musste Hannah wegen Differenzen zu einem Lehrer die Schule verlassen. Sie lebte eine Zeitlang in Berlin und besuchte die Vorlesungen Romano Guardinis, dessen Buch «Vom Geist der Liturgie» (1918) einen großen Einfluss auf die Jugendbewegung ausübte. Dort begegnete sie Diskussionen über theologische und existenzielle Grundfragen der Angehörigen ihrer eigenen «verlorenen Generation», die durch Revolution, Inflation und Arbeitslosigkeit in die Welt eingeführt und so über die Brüchigkeit alles dessen belehrt wurden, was nach mehr als vier Jahren des Mordens in Europa noch intakt geblieben war. Sie fühlte sich wie in Brechts Selbstporträt «Der Herr der Fische» allen unbekannt und allen nah, war von Reserviertheit,...

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