Bremen
Wüsste man es nicht anders, man wäre zu glauben versucht, Bremen sei eine Insel gewesen, vom Festland getrennt durch einen Meeresarm. So einmalig war dieser Stadtstaat in Wesen, Eigenart und Geschichte, so ganz verschieden von den Städten der Nachbarländer, ganz er selbst, «geprägte Form, die lebend sich entwickelt».
Die Menschen dieser Stadt, deren Umgebung wenig fruchtbar war, wandten ihre Blicke der See zu, mit der sie der Weserstrom verband. Um die Angelegenheiten des Binnenlandes kümmerten sie sich nicht mehr als unbedingt nötig. Im zwiefachen Sinne des Wortes wollten sie für sich sein. Im Mittelalter war die Stadt Mitglied der übermächtigen Hanse, aber nur widerwillig. Charakteristisch für ihren Hang zur Isolierung ist die Tatsache, dass sie sich erst 1888 dem allgemeinen deutschen Zollgebiet anschloss. Die Bremer, die sich später gern «Wi Borgers» nannten, blieben bis in die neueste Zeit hinein entschiedene Individualisten und zogen es vor, im eigenen Hause zu wohnen, in einiger Distanz von den Nachbarn statt in gemieteten Räumen.
Kampf war von je das Lebenselement dieser Stadt. Kämpfen musste sie gegen den Strom und die Moore, gegen Seeräuber, gegen nordische Eindringlinge, gegen die Friesen, gegen Grafen und Herzöge, gegen die Ritter und die Heiligen, vor allem gegen die Erzbischöfe von Bremen, die zugleich Reichsfürsten waren, später gegen Schweden, Kaiserliche und Franzosen. Sie siegten nicht immer, aber sie behaupteten sich; was sie nicht umbrachte, machte sie stärker. Als die Kriegsknechte des geistlichen Zwingherrn ihr Wahrzeichen, den hölzernen Roland, verbrannt hatten, errichteten sie auf dem Markt, gegenüber dem erzbischöflichen Palast, den steinernen Roland mit dem grimmigen Gesicht. Sein Schild trägt die Inschrift: «Vryheit do ick ju openbar.»
Der Freiheitssinn war in den Bremern immer lebendig, Kaiser und Könige bedeuteten ihnen nicht viel, gegen den Adel hatten sie eine historisch begründete Abneigung. Als reiche Bürger ihrer Vaterstadt ein Denkmal des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf schenkten, erhob sich heftiger Widerstand dagegen, einem Monarchen ein Denkmal zu errichten. Kaiser Wilhelm II. wurde trotz der vierundzwanzig Besuche, die er der Stadt abstattete, niemals dort populär. Die Bremer waren keineswegs militärgläubig und preußenfreundlich. Bei den stürmischen Septenatswahlen von 1887 siegte in Bremen ein Gegner der Machtpolitik Bismarcks. Die Sedan-Feier wurde 1895 abgeschafft. Während der Zeit des Kaiserreiches glaubten die Bremer, ihr kleiner Stadtstaat sei den Idealen der Demokratie und Selbstverwaltung nähergekommen als irgendein anderer deutscher Staat.
Im Norden Deutschlands gab es mächtigere und volkreichere Städte als Bremen, aber keine andere Stadt hat vielleicht die Einbildungskraft so angeregt wie Bremen. Das Märchen von den Stadtmusikanten ist in Bremen angesiedelt, und Dichter, die fern von Bremen geboren waren, ließen ihre Phantasien im Bremer Ratskeller spielen, wo die erlauchtesten Weine des Abendlandes ausgeschenkt wurden. Kämpfer waren die Bürger Bremens und zugleich Genießer. Die Ärmeren nährten sich von Stockfischen, Stinten und Labskaus, einem Gericht, das aus Pökelfleisch, Kartoffelmus und Gurken gemischt wird. Die Wohlhabenden genossen das reichhaltige Bremer Frühstück, tranken Bordeauxweine und rauchten Brasil-Zigarren. Es gab Schlemmer-Clubs, wo sechzehn Gänge und zwanzig Sorten Wein gereicht wurden.
In der Stadt tummelten sich Originale und Käuze aller Art. Da gab es den verbummelten Studenten Christian Wagenfeld, der die Gelehrten Europas durch eine gefälschte Handschrift in griechischer Sprache über die Urgeschichte der Phönizier jahrelang mystifizierte, da gab es einen Arzt Dr. Thulesius, der, höchst moderne Heilmethoden vorwegnehmend, Patienten durch sein Violinspiel zu heilen versuchte.
Die Bürger liebten Humor, die Gescheiteren unter ihnen auch dann, wenn sie selbst Gegenstand humoristisch-spöttischer Beurteilung wurden. An der Seitenfront des Gerichtsgebäudes wurde die Figur eines Ausbrechers angebracht mit der Unterschrift: «Es lebe die Freiheit.» Gern erzählten sich Juristen und Kaufleute Geschichten vom volkstümlichen Richter Smidt, deren Pointen nicht immer dezent sind.
In einer Gemeinschaft, wo Schifffahrt und Handel allmächtig dominierten, konnten Kunst und Wissenschaft keine bedeutende Rolle spielen; an Verständnis aber für geistige Größe hat es den Bremern nie gefehlt. Zu den ersten Anhängern und Freunden des damals noch sehr umstrittenen Beethoven gehörten Menschen aus der Hansestadt, und als Goethe im Jahre 1823 schwer erkrankte, wurde ihm einer der ältesten Weine zugesandt, der nur mit Bewilligung des Bremer Senats ausgeführt werden durfte.
Die Epoche vom Sturz Napoleons bis zum Ersten Weltkrieg war Bremens glücklichste Zeit; in diesem Jahrhundert schufen die Wagemutigen Bremerhaven an der Wesermündung und den Norddeutschen Lloyd. Für die Häfen und die Regulierung der Unterweser wurden einstimmig riesige Summen bewilligt, aber über Bagatellen wurde im Stadtparlament der «Bürgerschaft» jahrelang und erbittert gestritten. Rechtsgefühl entartete manchmal zur Rechthaberei. Michael Kohlhaas, der aus beleidigtem Rechtsgefühl einer Lappalie wegen die Welt in Flammen setzen wollte, hätte auch ein Bremer sein können.
Der Gemeinschaftsgeist aber und die Liebe zur Stadt waren stärker als die Lust am Zank. Die Bürger bewiesen sich durch ihre Leistung. Im Jahre 1913 stellte Bremen ein Drittel der gesamten deutschen Handelsflotte. Den Liebhabern der Statistik sei mitgeteilt, dass die Bremische Handelsflotte sich im Jahre 1914 auf 1400000 Bruttoregistertonnen belief.
Der Bürgerpark, eine der schönsten Gartenanlagen im nördlichen Deutschland, war wirklich ein Park der Bürger, denn er verdankte sein Entstehen nicht staatlicher Initiative, sondern dem Eifer und der Gebefreudigkeit der Einzelnen. Wo anders, abgesehen von der Schweiz, wäre das möglich gewesen?
In Bremen schuf sich die Gesellschaft, die sich für die gute hielt, ein ungeschriebenes Gesetzbuch der Konvention. Die Redensart: «Das schickt sich nicht», konnte man nirgendwo so oft hören wie in dieser Patrizierstadt; aber es liegt in der Natur der Dinge, dass Regelzwang Rebellen und Outsider schafft.
Um die Jahrhundertwende wurde die Stadt, in der das religiöse Interesse immer wach war, zum «Freihafen aller Meinungen». Liberale Geistliche, die irgendwo von orthodoxen Behörden vertrieben waren, fanden eine Zuflucht in Bremen; hier hatten sie wirklich Rede- und Gewissensfreiheit, und sie konnten, unbedroht von Strafmaßnahmen, mit ihrem Gotte ringen, der nicht mehr der Gott der Überlieferung war. Tief unter ihnen standen auf der gesellschaftlichen Stufenleiter die schlecht bezahlten Volksschullehrer, pflichttreu und rebellisch zugleich. Manche von ihnen nährten ihr Herz von dem verzehrenden, dem ewigen Traum der Gerechtigkeit für alle.
Im Wappen der alten Stadt ist ein Schlüssel zu sehen; es ist, so sagt Anton Kippenberg, der Schlüssel, der die Tore zur Welt öffnet und das eigene Haus verschließt. In diesem Satz scheint die Doppelnatur der Stadt, die sich dem nur flüchtigen Beobachter nicht zu erkennen gibt, eingefangen.
Wo gab es noch so seltsame Straßennamen wie in Bremen? Sie hießen Domsheide, Fangturm, Bischofsnadel, Schüsselkorb, Schöppensteel, Sodenstich, Bindwams, Vogelsangsgang, Herrlichkeit, Adamspforte und Heißenbüttelsgang. Bremer Familien hießen Smidt, Gröning, Entholt, Sürig, Olbers, Focke, Schlotterhausen, Gildemeister.
Eine Familie hieß Rowohlt. Der Name Rowold, der oft auch Rowolt, Rohwoldt, Rodewold oder Rowohlt geschrieben wird, findet sich zuerst unter den Zeugen eines Kaufvertrages vom Jahre 1393, der im Oldenburger Landesarchiv aufbewahrt wird. In der «Stattsbeschreibung» von Schloifer, die sich auch im Oldenburger Landesarchiv befindet, heißt es: «Rowold wohnten zu Seggern im Amte Ape [Apen], woselbst 1494 Johann und Arend Rodewolt, Knapen [Edelleute] schon gelebet. Ihr Wapen [Wappen] ist gewesen 3 grüne Klevernblätter mit Stengeln im rothen Felde, aufm Helm dergl. Die Helmdecken roth, weiss und grün.» Im Jahre 1596 wird ein Johan Rohwolt im Verzeichnis der oldenburgischen Ritterschaft erwähnt. Er und andere Ritter gerieten in Streit mit dem Grafen Anton von Oldenburg, der die aufständischen Edelleute in einem Gefecht besiegte. Die Rowolds verloren ihren Adel und das meiste ihrer Habe. Als verarmte Bauern erscheinen sie dann wiederum in den Kirchenbüchern von Rastede und Oldenburg um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Später wurden viele Mitglieder der Rowold-Familien Zimmerleute. Manche Sprachforscher glauben, der Name Rowold bedeute «Waldroder», andere Forscher sind der Meinung, Rowold bedeute Ruhmwalter. Aus der Tatsache, dass es in Holland, westlich von Groningen, ein kleines Dorf Rowolderdiyk gibt, könnte man folgern, die Familie sei vielleicht holländischer Herkunft. Heute findet man den Namen, ob er nun Rowold oder Rowohlt geschrieben wird, ziemlich häufig in Norddeutschland, vor allem in Oldenburg und in Bremen, aber auch in der Harzgegend. Festzustellen, wie und in welchem Grade die verschiedenen Familien Rowold oder Rowohlt miteinander verwandt sind, bleibe der Familienforschung überlassen.
Der erste Vorfahr von Ernst Rowohlt, von dem wir etwas wissen, war sein Urgroßvater väterlicherseits. Er war ein urwüchsiges Original und Schafzüchter; sein Sohn, Ernst Rowohlts Großvater, zog vom Land in die Stadt, wo es ihm nicht leichtgemacht wurde. Er begann als Packer bei der für die Familie Rowohlt schicksalhaften «Weser-Zeitung», arbeitete sich empor und wurde später Expedient und Lokalreporter des damals mächtigen Blattes. Er fand ein...