IM DSCHUNGEL DER
CHANGE KONZEPTE
„Wenn wir den Befund ernst nehmen, dass Change Management in seiner wachsenden Vielfalt und Bedeutung eine neue Komposition erfordert, brauchen wir eine ‚Landkarte‘ in der wir unterschiedliche ‚Change-Typen‘ positionieren können.“
Unterschiedliche Change-Situationen und -bedarfe haben jeweils andere Change-Ziele im Blick. Sie erzeugen unterschiedliche Dynamiken im Unternehmen und verlangen jeweils nach spezifischer Architektur und Steuerung.
Eine der Schwierigkeiten, vor die sich Manager gestellt sehen, liegt darin, jenen Ansatz zu finden, der der eigenen Fragestellung am angemessensten ist. Orientierung ist gefragt.
1. Eine Landkarte gibt Orientierung
Die nachfolgende Landkarte unterscheidet bei Change-Vorhaben nach zwei Dimensionen. Die erste: Wie groß ist die Veränderungsnotwendigkeit des Unternehmens in Relation zu seinem Markt? Systemisch geht es um die Einschätzung des Veränderungsbedarfes in der Außenrelation zum Markt hin.
Die zentrale Frage ist: Brauchen wir in unserem Unternehmen eine evolutionäre Veränderung (step by step) oder aber eine radikale Veränderung (eine Transformation)?
Die zweite Dimension beschreibt das Veränderungsvermögen des Unternehmens. Systemisch geht es um die Einschätzung der Fähigkeit zu Selbststeuerung und Selbstentwicklung des Systems. Dieses Vermögen umfasst dreierlei: erstens Kompetenz in der Diagnose – nach außen: Markt, Wettbewerber, Wertschöpfungspartner, Kunden – und nach innen, wie etwa zu Strategie, Strukturen und Prozessen, zu Führung, zu Ressourcen, Kernkompetenzen, Innovationspotenzialen und Change-Mustern. Zweitens umfasst dieses Veränderungsvermögen die Fähigkeit zu entscheiden, wo auf „Stabilhalten“, wo auf evolutionäre Weiterentwicklung und wo auf Transformation zu setzen ist. Drittens gehört Change Management Kompetenz im engeren Sinn dazu – die persönliche, inhaltliche und soziale Kompetenz Veränderungsprozesse zu gestalten, das zum Unternehmen jeweils passende Steuerungsrepertoire und die Veränderungsfreundlichkeit der Organisation. Ist das Veränderungsvermögen gering, bedarf es starker direktiver Top-Down-Steuerung im Veränderungsprozess. Im Gegensatz dazu geht es bei hohem Veränderungsvermögen eher darum, indirekt zu steuern, nämlich Rahmen (Architektur und Prozesse) und Anreize für Selbstinitiative und -entwicklung zu setzen (Bottom-Upund Quervernetzungen). Das folgende Bild zeigt die Positionierung typischer Change-Ziele und -Konzepte in der Kombination beider Dimensionen, der Veränderungsnotwendigkeit und des Veränderungsvermögens.
Was leistet diese Landkarte für Initiatoren und Verantwortliche von Veränderung?
Sie macht unterschiedliche Einschätzungen geplanter Projekte auf der Landkarte in einer sehr frühen Phase deutlich und führt zur notwendigen Diskussion über Diagnose, Ziele und Konsequenzen für Architektur und Steuerung. Damit schafft sie eine gemeinsame Ausrichtung unter den Initiatoren der Veränderung.
Sie hilft zu konkretisieren, welches Change Management Konzept (Architektur, Rollen, Prozess) jeweils am besten passt. Sie bewahrt Manager davor, bereits erfolgreich angewandte Konzepte und Methoden vorschnell auf neu auftauchende, möglicherweise anders gelagerte Problemstellungen zu übertragen, weil sie für jeden Typ grundsätzliche Gestaltungsstrategien bereithalten.
Sie ist als „Portfolio-Landkarte“ gut geeignet, die laufenden Veränderungsprojekte im Unternehmen in ihrer Relation zueinander zu positionieren und damit ein Bild über Veränderungsintensität und -richtungen des Unternehmens zu geben. Das ist wichtig für die Gesamtsteuerung dieser Veränderungen. Wenn sich im Laufe eines Projektes seine Positionierung verschiebt, kann die Landkarte die Notwendigkeit der „Veränderung der Veränderung“ verdeutlichen („moving target“).
2. Welche Veränderungsrichtungen gibt es?
Überleben
In Sanierungsprojekten geht es ums Überleben, ums Gesunden und darum, wieder in ruhiges Fahrwasser zu kommen. Es gilt, die akute Krise zu meistern und dadurch die aktuelle Veränderungsnotwendigkeit zu verringern, das Unternehmen zu stabilisieren.
Mobilisierung
Wenn das Ziel Mobilisieren ist, wollen die Change-Initiatoren in Phasen des Erfolges die Veränderungsfähigkeit von Personen und System erhöhen. Durch rechtzeitiges Lernen soll dem Entstehen von Krisen entgegengewirkt und das Veränderungsvermögen weiterentwickelt werden.
Radikale Neupositionierung
Radikales Neupositionieren hat in der Kombination von proaktivem Turnaround (eine zukünftige potenzielle Krise vorwegnehmen) und strategischem Redesign zum Ziel, sowohl wieder in stabilere Zonen zu kommen als auch die Veränderungsfähigkeit der Organisation zu stärken.
Erneuerung
Sich als Unternehmen zu erneuern bedeutet – ohne Krise am Horizont – innovative Wachstums- und Zukunftspotenziale zu finden, zu erproben und zu integrieren: die eigene Identität zu erneuern.
Lernende Organisation
In der lernenden Organisation geschieht Veränderung als Element des Tagesgeschäftes (emergent change). Markt, Anreiz- und Steuerungssysteme sowie die Kultur fördern Entwicklung und Innovation.
Beispiele
1. In der Niederlassung eines internationalen Unternehmens der Telekomindustrie sind mehrere anvisierte Großprojekte nicht zum Abschluss gekommen – das bedeutet ein 2. Quartal mit roten Zahlen. Das Top Management ruft die Krise aus.
2. Der Personalbereich eines internationalen Produktionsunternehmens, das gerade einen Merger hinter sich hat, ist intern völlig in Misskredit geraten, trotz kompetenter Experten. Seine Leistungen werden zum Teil zu Unrecht generell negativ bewertet. Die unterschiedlichen Produkte und eschäftsprozesse von HR haben sich verselbstständigt, sie sind nur teilweise miteinander verbunden und haben sich von der Gesamtentwicklung des Unternehmens abgekoppelt. Es steht an, die Wertschöpfung des Human-Resources-Bereichs zu fokussieren und sich mit einer neuen Strategie und einem erneuerten Selbstverständnis entsprechend der geänderten Situation des Gesamtunternehmens (Internationalisierung, Innovations- und Kostendruck) als Bereich neu zu positionieren und die Kosten drastisch zu senken. Ein neuer Manager übernimmt die Leitung des Bereiches.
3. Der neue Vorstand einer organisch und vielfältig gewachsenen Unternehmensgruppe im Handel, mit langer Tradition und im Familieneigentum, entscheidet ein Change-Projekt zu starten, das die strategische Repositionierung und in der Umsetzung die Neuordnung des Unternehmens zum Ziel hat. Das Unternehmen ist erfolgreich in den bestehenden Geschäftsmodellen. Nun geht es darum, die Innovationskraft zu stärken (Stichwort „E-Commerce und Value Chain“ zu Lieferanten beziehungsweise Kunden), Schwung ins Unternehmen zu bringen und Wachstumspotenziale durch das Web 2.0 zu erproben und zu nutzen.
4. Der etablierte, sehr strukturierte „Customer-Services/Maintenance“-Bereich eines Systemhauses bietet mehr und komplexere Dienstleistungen an als bisher und erwirtschaftet den größten Gewinnanteil im Unternehmen. Das Management Team entscheidet, einen TQM-Prozess zu etablieren, um den Erfolg in dieser qualitativen und quantitativen Wachstumsphase zu festigen.
5. Die Accountteams eines IT-Unternehmens, das komplexe Dienstleistungsprojekte anbietet, werden nach individuellen und teamorientierten Kennzahlen beurteilt, welche Ergebnisbeitrag, Kundenzufriedenheit und Innovationskraft messen. Auf internen Marktplätzen tauschen sie in informellen Settings Wissen und Erfahrung aus. Die Besten in einem Gebiet werden jeweils mit Aufgaben für alle betraut (Competence Center). Einmal jährlich findet ein Kundenparlament statt.
Fünf Beispiele – fünf ganz unterschiedliche Change-Situationen, die unterschiedliche Ziele verfolgen, andere Dynamiken im Unternehmen erzeugen und jeweils spezifische Steuerung und Architektur verlangen. Nehmen wir die zu Beginn skizzierten Beispiele, könnten die Positionierungen in etwa so aussehen:
Wenn wir uns in diesem Buch in weiterer Folge auf Change-Projekte mit harten Schnitten und neuem Wachstum konzentrieren, meinen wir damit solche der Erneuerung und des sich radikal Neu-Positionierens (im obigen Fall Beispiel zwei und drei). Bei beiden geht es um radikale Veränderung der bisherigen Unternehmensidentität (Transformation!), obwohl es keine akute existenzielle Krise gibt, sondern im Gegenteil, ausreichende Change-Ressourcen und -Kompetenzen bei den einzelnen Individuen und der Organisation vorhanden sind. Gerade diese Kombination erzeugt im Vergleich zu den anderen...