Erbsenprinzessin
Am Morgen wurde sie gefragt, wie sie geschlafen hätte.
»Oh, schrecklich schlecht!«, sagte die Prinzessin. »Ich habe kein Auge zugetan! Gott weiß, was in dem Bett gewesen ist!
Ich habe darauf so hart gelegen, dass ich braun und blau am ganzen Körper bin. Es ist entsetzlich!«
Hans Christian Andersen, »Die Prinzessin auf der Erbse«
Als Kind schämte ich mich, weil ich so schüchtern und ängstlich war. Ich wollte kein Angsthase, kein Feigling, keine alte Unke und kein Sensibelchen sein. Erst recht keine überzarte Prinzessin, die durch zwanzig Eiderdaunenbetten und Matratzen eine winzige Erbse spürt und bloß deshalb nicht schlafen kann. Ich wollte genauso stark und mutig sein wie die anderen Kinder. Immer fürchtete ich mich, nie traute ich mich. Manchmal braucht ein ängstliches Kind mehr Tapferkeit, um den Tag durchzustehen, als ein nervöser Aushilfsdompteur, der vor vollen Rängen erstmals einem brüllenden Raubtierrudel entgegentritt. Ängstliche Kinder sind mutig, denn nur wer Angst hat, kann mutig sein.
An meine Sensibilität und Ängstlichkeit habe ich mich nach über fünfzig Jahren gewöhnt. Sie gehören zu mir wie meine Freude am Schreiben und mein Humor. Ich verstehe sie als Wesensmerkmal, als Teil meiner persönlichen Art, die Welt wahrzunehmen. Sensibilität und Ängstlichkeit färben meine Empfindungen, Einstellungen, Sorgen und Hoffnungen. Manchmal ist die Ängstlichkeit hinderlich oder lästig, doch sie ist auch ein Geschenk, denn sie macht achtsam: für die eigene Person, für andere, fürs Leben. Ängstliche sehen und spüren oft mehr als Nichtängstliche. Ihnen fallen Dinge auf, die andere gar nicht bemerken: klitzekleine Erbsen und feinste Nadeln im Heuhaufen. Sie können zwischen den Zeilen lesen, Unsichtbares sehen und Ungesagtes hören.
Leider ist meine ängstliche Veranlagung auch eine Schwachstelle, eine offene Pforte für weitere, oft quälende Ängste. Im Angstbereich ist meine Psyche besonders verwundbar, hier reagiere ich am heftigsten. Oft nehme ich Dinge verzerrt wahr, schätze Gefahren falsch ein, befürchte gleich das Schlimmste, vermeide vieles, obwohl es gar nicht nötig wäre, und spüre den ganzen Stress auch noch körperlich. Als Kind war ich meinen Ängsten hilflos ausgeliefert, heute kann ich sie oft kreativ verwandeln. Dann schlüpft die Angst aus ihrem Kokon, fliegt als Schmetterling davon oder verwandelt sich in Geschichten und Bilder.
Ein wenig erinnert mich meine dünne Seelenhaut an meine empfindliche Körperhaut, die bei Stress mit Ekzemen reagiert, und an all meine Allergien und Unverträglichkeiten. Schon ein Tropfen Alkohol in einem Glas Wasser genügt, um bei mir unangenehme Symptome auszulösen! Inzwischen kenne ich die meisten Angstund Stressauslöser, die körperlichen Symptome und die Namen der kleinen und großen Störungen. Ich versuche vor allem, Ruhe zu bewahren. Akute Angstschübe bekomme ich am besten medikamentös in den Griff. Glücklicherweise gehöre ich nicht zu den Menschen, die leicht süchtig werden. Im Notfall sorgen die Tabletten zuverlässig dafür, dass mein System herunterfährt, ohne Angst machen sie mich nur müde.
Sobald die Erbsenprinzessin Brennnesseln berührt, spielt ihre Haut tagelang verrückt. Ähnlich reagiert meine Psyche, die leider eine Hotline zur Haut besitzt, wenn ich ein Krankenhaus betrete. Innerhalb von Sekunden läuft mein System auf Hochtouren. Ich werde zum schwitzenden Leuchtkörper mit roten Flecken an Gesicht und Hals. Es ärgert mich, dass meine Angst so sichtbar ist, was den Stress nur noch erhöht, doch ich versuche, tapfer Haltung zu wahren. Verwandte und Freunde werden selbstverständlich trotzdem im Krankenhaus besucht, auch wenn die Konfrontation für die Erbsenprinzessin schlimm ist. Dummerweise mutiere ich auch in Arztpraxen sofort zu einer Art Pocahontas mit Korallenhalsbändern. Das passiert mir sogar in Tierarztpraxen, wo ich oft übler dran bin als meine Katzen. Es kommt noch schlimmer: Der bloße Gedanke an operative Eingriffe versetzt mich in gefährliche Nähe eines anaphylaktischen Seelenschocks. Als Sorgenauslöser reichen OP-Standbilder oder Filmszenen. Krankenhausserien sind für mich tabu, selbst wenn Beaus wie George Clooney darin harmlos über den Flur schlendern. Ich gehe offensiv damit um: OP-Szenen schaue ich mir nicht an, und in Anamnesebögen trage ich vorsichtshalber sofort ein, dass ich eine Angststörung habe. Wenn ich einem Arzt meine Angst gestehe, verhält er sich hoffentlich einfühlsamer und erklärt mir genauer, was er als Nächstes tun wird. Leider klappt es nicht immer. Viele Ärzte schütteln verständnislos den Kopf, wenn sich das rotglühende Häufchen Elend vor ihnen auf dem Stuhl windet. Glücklicherweise habe ich nicht vor allen Ärzten Angst: Ich bin überaus glücklich mit einem Virologen verheiratet, und in unserer Verwandtschaft wimmelt es von Ärzten, die bei Familientreffen von ihrer Arbeit erzählen. Eine Härteprüfung, die ich inzwischen ganz gut bestehe.
Es gibt viele unterschiedliche Ängste und Angststörungen, und manchmal denke ich, dass ich sie alle kenne. Einige habe ich ausgetrickst, andere sind von selbst verschwunden, bei wieder anderen habe ich resigniert. Manche Ängste bekam ich durch Übung in den Griff, andere durch kreative und kognitive Verwandlung, direkte Konfrontation oder therapeutische Hilfe. Die allgemeine Anfälligkeit wird mir wohl erhalten bleiben, doch inzwischen erhole ich mich nach den Angstschüben immer recht schnell. Ich stehe zu meiner Ängstlichkeit und zu meinen vergangenen und gegenwärtigen Ängsten. Sie machen mir zwar oft zu schaffen, einige waren echte Stolpersteine oder sogar Mauern auf meinem Lebensweg, aber ich habe auch viel von ihnen gelernt. Ich hoffe, dass meine persönlichen Erfahrungen und Lösungsstrategien auch anderen dabei helfen können, ihren Ängsten ins Gesicht zu blicken, sich besser in ihrer inneren Welt einzurichten, Auswege aus ihrem Angsterleben zu finden.
Es gibt Hilfe! Niemand sollte zulassen, dass seine Ängste ihn krank machen! Viele kann man lindern, manche sogar für immer los werden. Die Ängstlichkeit als Charakterzug kann man wohl nur liebevoll annehmen. Die Neigung, relativ leicht »auf alles« mit Angst zu reagieren, ist eine Eigenschaft, die einen zwar anfällig macht, mit der man aber trotzdem erfüllt und glücklich leben kann. Menschen völlig ohne Angst wären mir persönlich übrigens äußerst unheimlich. Natürlich können auch nicht ängstliche Menschen Angststörungen entwickeln, etwa während einer Lebenskrise, nach Katastrophen oder bei Dauerstress. Im Grunde kann es jeden jederzeit treffen. Wahrscheinlich gibt es mehr Menschen mit Angst als man glaubt. Der Angstforscher Borwin Bandelow hält unsere bewussten und unbewussten Ängste sogar für eine wichtige Triebfeder von Erfolg und Kreativität.
Dies ist kein Fachbuch, kein Ratgeber und auch kein Selbsthilfebuch. Ich bin weder Ärztin noch Psychologin. Bei mir gibt es keine Ausführungen über neurobiologische Prozesse im Gehirn, keine Tests zur Selbsteinschätzung, Anti-Angst-Programme oder Angaben über Medikamente. Ich bin keine Angstforscherin, sondern Schriftstellerin und Übersetzerin. Trotzdem bin ich Expertin für Ängste, denn sie haben mein Leben von klein auf begleitet. Als Übersetzerin von psychiatrischen Fachbüchern habe ich mich sogar jahrelang theoretisch mit ihnen beschäftigt. Ich habe mein Buch in einer für mich besonders schwierigen Lebensphase geschrieben, aber während ich sie hautnah erlebte, konnte ich die Angst besonders gut anschauen. Es ist ein ehrliches, persönliches Buch über mein Leben mit Ängstlichkeit und Angststörungen, Phobien, Panikattacken, Angstanfällen und Sorgenketten. Sie werden sehen, dass ich einige Ängste nicht ernst nehme, andere dagegen nur vorsichtig angehe. Ich habe dieses Buch auch als Vertreterin einer Generation geschrieben, deren Eltern die Zeit des Nationalsozialismus und des Holocausts erlebt haben, und als Tochter eines Mannes mit einer unbewältigten Posttraumatischen Belastungsstörung. Für meinen Vater ist der Krieg bis heute nicht zu Ende. Ich kenne viele Familien, in denen die Traumata mit nachhaltigen Folgen unbewusst an die Kinder weitergegeben wurden, selbst wenn die Eltern nicht über das Erlittene sprachen. Viele Söhne und Töchter tragen bis heute schwer an diesem Schweigen. Doch auch das Gegenteil, die Überschwemmung der Kinder mit Kriegserinnerungen, schafft oft Kinderleid. Meine »Kriegsängste« haben sich erst gebessert, seit ich sie mit eigenen Bildern bannen konnte.
Ich würde mir wünschen, dass mein Buch anderen dabei hilft, sich ihren Ängsten und deren Wurzeln zu nähern und neue Sichtweisen zu entwickeln. Es ist nicht immer leicht, den Zugang zu verschütteten und abgespaltenen Angstbereichen zu finden, doch es lohnt sich. Gehen Sie Ihre Ängste ruhig an! Verleugnete und verdrängte Ängste geben keine Ruhe, und so schrecklich, wie sie auf den ersten Blick scheinen, sind sie oft gar nicht. Manche sind nur »Scheinriesen«, je näher man ihnen kommt, desto kleiner werden sie. Andere lösen sich auf, wenn man sie mit Humor betrachtet oder sich mit ihnen anfreundet. Jeder Mensch hat starke innere Heilkräfte, die nur darauf warten, aktiviert zu werden. Haben Sie Mut, sich therapeutische Hilfe zu holen. Ich selbst habe mich dagegen viel zu lange gesträubt, weil ich dachte, ich könnte meine Probleme allein bewältigen. Ich hielt es früher für eine Niederlage, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Hätte ich damals gewusst, wie befreiend es ist, sich jemandem anzuvertrauen, bei dem man Schutz und Verständnis findet, wäre mein Lebensweg sicher anders verlaufen. Die mitfühlende Distanz eines...