Haydn-Betrachtungen
| Vorwort |
Das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts war für Europa eine Zeit des gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchs. Aus England kommend, überfluteten neue gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Ideen den Kontinent. In Frankreich errichteten die Enzyklopädisten ihr neues Lehrgebäude der Wissenschaften, Voltaire predigte unablässig sein gesellschaftliches Credo: »Je aufgeklärter die Menschen sind, umso freier werden sie sein.« Vor allem aber war es Jean-Jacques Rousseau, der mit seinen Ideen von den Vorzügen des einfachen Lebens, seiner schwärmerischen Bewunderung für die Natur, wie auch mit seiner Ästhetik des Gefühls seine Zeitgenossen zu beeindrucken verstand. Von England und Frankreich ausgehend, verlor die bis dahin allgemein geltende feudalistisch-hierarchische Gesellschaftsordnung mehr und mehr an Boden. Ein ebenso aufgeklärtes wie selbstbewußtes Bürgertum prägte dem gesellschaftlichen Leben zunehmend seinen Stempel auf.
Eine wichtige Rolle bei dieser Entwicklung nahmen die sogenannten Hommes des Lettres ein, zu denen nicht nur Dichter und Literaten aller Art, sondern auch Philosophen, Juristen und die Angehörigen des neuen Berufsstandes der Journalisten gehörten. Wie es in der Zeit einer sich mit zunehmender Geschwindigkeit verändernden Gesellschaftsordnung nicht anders sein konnte, begegnen wir darunter auch so mancher obskuren Existenz, wie etwa dem »Grafen« Cagliostro, dem legendären Abenteurer und Frauen-verführer Casanova, dem »Wunderheiler« Mesmer oder Mozarts kongenialem Librettisten, Lorenzo da Ponte; als Sohn jüdischer Eltern geboren, konvertierte er zum Katholizismus, wurde zum Geistlichen ohne Amt, nahm den Namen seines Paten, eines italienischen Bischofs, an und mutierte in Wien zum angesehenen Hofdichter, der Mozarts beste Opernlibretti schrieb, um wenig später, weitgehend verarmt, im kulturellen Niemandsland der Neuen Welt zu entschwinden.
Auch Giuseppe Carpani, der 1752 – also knapp vier Jahre vor Mozart – im oberitalienischen Städtchen Vilalbese das Licht und wohl auch die Düsternis der Welt erblickte, erwartete eine vielseitige und oft wechselhafte Karriere. Nach seinen Studien am Jesuitenkolleg und später an der juristischen Fakultät von Mailand machte er sich bald einen Namen als Dichter und vielbeschäftigter Librettist. Er verfaßte seine Texte sowohl in der italienischen Hochsprache als auch im spezifischen Mailänder Idiom. 1780 wurde sein Libretto zur Oper Gli antiquari in Palmira ein so durchschlagender Erfolg, daß er danach mit Aufträgen zu Opernlibretti förmlich überschüttet wurde. Durch zahlreiche Übersetzungen aus dem französischen Repertoire unternahm er auch den Versuch einer Versöhnung zwischen dem italienischen und dem französischen Opernstil. Seine Leidenschaft gehörte der Musik nicht weniger als der Literatur. In Monza, der Sommerresidenz des österreichischen Erzherzogs Ferdinand, der damals Statthalter in Mailand war, wirkte Carpani an der Inszenierung zahlreicher Theaterstücke und vor allem Opern mit. Dabei erwiesen sich seine offenbar nicht unbeträchtlichen Kenntnisse der Musik als äußerst nutzbringend. Er muß selbst ein guter Pianist gewesen sein – gut genug, um während seiner späteren Bekanntschaft mit Joseph Haydn gemeinsam mit diesem vierhändig am Klavier zu musizieren. – Auch als Komponist trat er mehrmals in Erscheinung. Von 1792 bis 1796 war er Herausgeber der Gazetta di Milano, in der er sich vehement gegen die Französische Revolution und deren Folgen wandte. Als Mailand 1796 von französischen Truppen besetzt wurde, übersiedelte er nach Wien, kehrte aber nach dem Frieden von Campoformio nach Italien zurück und hatte mehrere Jahre lang das Amt eines Zensors und Theaterdirektors in Venedig inne, ehe er sich 1804 endgültig in Wien niederließ. Dort wurde er mit dem Titel eines Hofdichters ausgezeichnet. Über alle Wechselfälle der Politik hinweg hielt er dem Haus Habsburg die Treue, was so weit ging, daß er sich während des Wiener Kongresses als habsburgischer Geheimagent betätigte.
Seine besondere Liebe aber gehörte der Musik und dem Musikleben seiner Zeit, an dem er zeitlebens regen Anteil nahm. Seine Bekanntschaft mit dem von ihm hochverehrten Haydn veranlaßte ihn schließlich, ein Buch über dessen Leben und Kunst zu verfassen, das er Le Haydine ovvero lettere sulla vita e le opere del celebre maestro Giuseppe Haydn nannte und das 1812 in Mailand veröffentlicht wurde.
Le Haydine, Carpanis »Haydngeschichte«, unterscheidet sich in besonderer Weise von den beiden anderen wesentlichen zeitgenössischen Haydnbiographien. Sie ist zum einen ein literarisches Meisterwerk und enthält nicht nur Biographisches zum Leben und zur Musik des Meisters, sondern bietet darüber hinaus auch einen umfassenden Überblick über die musikästhetischen Strömungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
Wie bei einem musikbegeisterten Italiener nicht anders zu erwarten, betrachtete Carpani die Melodie als das vorherrschende Element der Musik und gab ihr – darin mit Rousseau völlig einig – den Vorrang vor jeder Harmonik. Er verweist in seinem Buch immer wieder auf den Unterschied zwischen italienischer und »deutscher« Musik und stand dieser mehr oder weniger skeptisch gegenüber, weil durch die »harmonischen Exzesse« der Deutschen die Reinheit der Melodie getrübt worden sei, ein Vorwurf, von dem er auch Mozart nicht ausnahm.
Vieles von Carpanis musiktheoretischen Ansichten mag dem Leser heute unrichtig und oft sogar skurril erscheinen, doch zeichnet er damit immerhin ein deutliches Bild der Musikästhetik seiner Zeit. Wir erfahren daraus viel über das künstlerische Umfeld, in dem sich Haydns Spätstil entwickeln konnte, aber auch über die sich immer rascher wandelnde Weltsicht, in die dann der junge Beethoven hineinwachsen sollte.
Auch Bücher haben ihre Schicksale, und das von Carpanis Le Haydine mutet besonders seltsam an.
Im besetzten Wien ließ der französische Kulturbeauftragte und Generaldirektor der französischen Museen, Vivant Devon, für Haydn, der sich in Napoleons Frankreich besonderer Wertschätzung erfreute und als eine Zelebrität an der Académie française gefeiert worden war, in der Schottenkirche eine pompöse Trauerfeier veranstalten. Sie hinterließ, wegen der Anwesenheit zahlreicher französischer Militärs, sehr zum Verdruß der Wiener und sehr unpassend für einen so friedfertigen Menschen wie Haydn, einen durchaus martialischen Eindruck, gegen den sich selbst die ergreifenden Klänge des Mozart-Requiems nur schwer durchzusetzen vermochten. An dem Ereignis nahm auch ein junger Beamter der französischen Militär-Intendantur, Henri Beyle, teil. Jahre später sollte er unter seinem Künstlernamen Stendhal zu einem Stern am Pariser Literatenhimmel werden. Der empfindsame junge Mann, der ganz und gar ein Kind der Romantik war, verstrickte sich, hingerissen von der Musik des Verstorbenen wie von dem wenigen, was er über Haydns Person in Erfahrung bringen konnte, mehr und mehr in den Wunsch, ihm ein Buch zu widmen. Als 1812 Carpanis »Haydngeschichte« in seine Hände geriet, muß das für den literarischen Schwärmer wie eine Offenbarung gewesen sein, die er völlig für sich vereinnahmte. Er nahm das Buch und machte es kurz entschlossen zu seinem eigenen, indem er es weitgehend für sich adaptierte und unter dem Pseudonym Louis Auguste César Bombet in französischer Sprache veröffentlichte. Er übernahm darin selbst die Rolle des späten Haydn-Freundes, obwohl dies schon aus zeitlichen Gründen völlig absurd erscheinen mußte.
Nun war freilich die Vorstellung von geistigem Eigentum im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts längst nicht so ausgeprägt, wie dies heute der Fall ist, doch dieser mehr als dreiste literarische Beutezug erboste nicht nur Carpani selbst, der vehement auf seiner Urheberschaft beharrte und den obskuren Bombet eine »räuberische Ratte« nannte, sondern löste auch eine lange Kontroverse aus, durch die der schamlose Räuber förmlich in die Welt der Hommes des Lettres hineinkatapultiert wurde. Er begriff, daß Schreiben sein Schicksal sein würde, und weil er genug Eigenes zu sagen hatte, ließ sein späterer Ruhm die aus schwärmerischer Begeisterung erwachsene frühere Entgleisung bald vergessen.
Carpani verfaßte sein Werk in der damals sehr beliebten Form von Briefen an einen offenbar fiktiven Adressaten. Dadurch sollte dem Leser zum einen eine gewisse Intimität suggeriert werden, zum anderen bot sich durch diese lockere Schreibweise immer wieder die Möglichkeit zu Abschweifungen in alle möglichen künstlerischen Überlegungen. Wir erfahren aus dem Buch viel über die Arbeitsweise Haydns, aber auch zahlreicher anderer Komponisten. Manches davon mag in den Bereich der Anekdote gehören, doch im großen und ganzen scheint die Skepsis, die die Musikwissenschaft Carpani lange entgegengebracht hat, wohl...