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Hegel, der Mensch und die Geschichte

AutorGeorges Bataille
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl331 Seiten
ISBN9783957575036
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Georges Batailles hier erstmals auf Deutsch vorliegende Essays zu Hegel sind nur der sichtbare Teil einer lebenslangen, oft unterschwelligen Beschäftigung mit dessen Philosophie. Es sind Bruchstücke eines ununterbrochenen Dialogs, denn Hegel war einer von Batailles ständigen philosophischen Wegbegleitern, ohne den sich sein Denken nur bedingt verstehen lässt. Noch ein Jahr vor seinem Tod schreibt er an Alexandre Kojève, dass er etwas der Introduction à la lecture de Hegel Vergleichbares schaffen möchte, 'aber das müsste unendlich willkürlicher sein und hauptsächlich auf dem Bestreben beruhen, das zu interpretieren, was Hegel nicht gewusst oder unbeachtet gelassen hat (so die Vorgeschichte, die Gegenwart, die Zukunft etc.).'

Georges Bataille, 1897 in Billom, Puy-de-Dôme geboren, war von 1922 bis 1942 als Bibliothekar an der Bibliothèque Nationale tätig, in der er Walter Benjamins Manuskripte versteckte und so vor der Vernichtung rettete. Von den Surrealisten, wie auch von Kojève beeinflusst, verfasste er ein in seiner Bandbreite einmaliges Werk. Er starb 1962 in Paris. Ein großer Teil seines Werks ist bei Matthes & Seitz Berlin erschienen, zuletzt Die innere Erfahrung. Rita Bischof, 1948 in Fulda geboren, studierte Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaften in Frankfurt und Berlin und lehrte und forschte in Paris und Florenz. Sie veröffentlichte Schriften zu Walter Benjamin und Georges Bataille. Zuletzt erschienen: Nadja revisited (Brinkmann & Bose, 2013)

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Leseprobe

Kritik der Grundlagen der Hegel’schen Dialektik1


Die marxistische Auffassung der Dialektik ist oft angefochten worden. Zuletzt hat Max Eastman sie als eine Form des religiösen Denkens charakterisiert. Allerdings war die marxistische Dialektik bislang immer nur Gegenstand einer negativen Kritik2, und jene, die sie kritisierten, haben sich wie simple Abrissarbeiter aufgeführt. Sie wollten nicht sehen, dass sie einem Körper das Blut entziehen, wenn sie der Ideologie des Proletariats die dialektische Methode nehmen, und sie gingen darüber hinweg, weil die Hegel’sche Philosophie, unter welcher Form auch immer, mit ihren gewöhnlichen Vorstellungen nicht zu vereinbaren ist. Daher wurde die marxistische Dialektik im Allgemeinen auf dieselbe Weise behandelt wie auch die Hegel’sche Dialektik, nämlich mit Widerwillen zurückgewiesen.

Mit Nicolai Hartmann3, bei dem man die Elemente einer wirklichen positiven Kritik finden kann, beginnt jedoch eine neue Weise, die Hegel’sche Dialektik zu verstehen. Die Hinweise, die von diesem deutschen Professor in einem Artikel der Revue de métaphysique et de morale4 gegeben werden, sprechen für sich: Sie drücken in kurzer Form eine Richtung aus, die unseres Erachtens von größtem Interesse für marxistische Studien ist. N. Hartmann hat es sich zur Aufgabe gemacht, nacheinander die verschiedenen, in der Hegel’schen Philosophie entfalteten dialektischen Themen zu untersuchen und sie sowohl hinsichtlich ihrer Grundlage als auch ihrer Form zu vergleichen. Er unterscheidet zwischen solchen, die in der Wirklichkeit begründet und durch Erfahrung gerechtfertigt sind, und anderen, die nur eine rhetorische Bedeutung besitzen. Als Beispiel der Letzteren führt er das berühmte Thema von Sein und Nichtsein an. »Im Laufe einer solchen Untersuchung«, sagt Hartmann, »setzt sich die Hegel’sche Logik auf schwerwiegende Weise dem Verdacht aus, im Wesentlichen nur in einer Dialektik zu bestehen, die in keiner Realität begründet ist. Das gilt noch viel mehr«, fügt er hinzu, »für die Naturphilosophie (eine Evidenz, die in diesem Bereich allerdings nicht neu ist und die man bereits von ihren Ergebnissen her kennt).«5

Der grundlegende Unterschied zwischen der Kritik Hartmanns und der marxistischen Kritik manifestiert sich von Anfang an. Für Marx und Engels ist die Dialektik immer noch das allgemeine Gesetz einer fundamentalen Wirklichkeit, wie sie es bereits für Hegel war. Zwar haben sie die Logik durch die Natur oder die Materie ersetzt, doch darum ist für sie das Universum als Ganzes nicht weniger der antithetischen Entwicklung ausgeliefert. Für Hartmann handelt es sich dagegen nur noch darum, den Wert dialektischer Überlegungen an besonderen Fällen zu erweisen. Nicht nur bleibt die Universalität außer Betracht, auch die Natur wird, mehr als jedes andere Element, von Anfang an als ein verbotener Bereich angesehen. Die dialektischen, von Hartmann gerechtfertigten Themen sind weder der Logik noch der Naturphilosophie entlehnt, sondern entstammen der Rechtsphilosophie, der Philosophie der Geschichte und der Phänomenologie des Geistes. Das erste Beispiel, das er anführt, um seine Auffassung zu begründen, hat nichts mit dem Gerstenkorn oder der Bestellung des Bodens zu tun, sondern ist der Klassenkampf und damit das Hegel’sche Thema von »Herr und Knecht«. Es ist also eine marxistische Erfahrung, auf die sich ein moderner Philosoph, der die Dialektik in der Wirklichkeit zu begründen sucht, unmittelbar bezieht.6

Man muss übrigens anerkennen, dass Marx und Engels selber die Notwendigkeit einer ähnlichen Arbeit, wie sie Hartmann in unseren Tagen unternommen hat, verspürt haben – wenn auch nur in ihrem elementaren Prinzip. Dass sie einen anderen Untersuchungsbereich als Hartmann wählten und den Ehrgeiz hatten, den dialektischen Vorstellungen den Charakter allgemeiner Naturgesetze zu geben, steht zwar nicht in Widerspruch zu der Tatsache, dass Engels versuchte, diesen Gesetzen in einer langen Studie über die Naturwissenschaften einen Erfahrungswert zu geben. Aber wir können nicht umhin, von Anfang an zwischen dem von Hartmann a posteriori zugelassenen Bereich und demjenigen zu unterscheiden, den sich Engels a priori vorgenommen hat. Hartmann hat methodisch zu erkennen versucht, welche der dialektischen Themen als Ausdruck gelebter Erfahrung verstanden werden können, während Engels es sich zur Pflicht machte, diese Gesetze in der Natur zu finden, das heißt in einem Bereich, der auf den ersten Blick jeder vernünftigen Auffassung einer antithetischen Entwicklung verschlossen scheint.

Hartmanns indifferente Haltung hinsichtlich der Naturphilosophie entspricht der aller Vertreter der Naturwissenschaften seit Hegel. Diesen Letzteren musste eine dialektische Konstruktion der von ihnen untersuchten Beziehungen als unvereinbar mit der Wissenschaft erscheinen: Die Wissenschaft sollte so weit wie möglich ohne die Intervention eines Elements auskommen, das ihr so fremd wie der systematische Widerspruch ist, und es zeigte sich, dass sie tatsächlich mühelos ohne ein solches Element auskam. Der Einwand gegen die Einführung der Dialektik drängte sich den Gelehrten mit solcher Notwendigkeit auf, dass sie ihn nicht einmal mehr formulieren mussten.

Nicht nur zeigt die Geschichte aller modernen wissenschaftlichen Untersuchungen, wie wenig Möglichkeiten die Natur der Dialektik bietet: Hegel hat selbst als Erster herausgestellt, dass die Natur gerade durch ihre Ohnmacht, den Begriff zu realisieren, der Philosophie Grenzen setze.7 Der Philosophie, das heißt: der dialektischen Konstruktion des Werdens der Dinge. Für ihn ist die Natur der [Ab-]Sturz der Idee, eine Negation, das heißt, gleichzeitig eine Revolte und ein Nichtsinn.

Selbst wenn er von seinen idealistischen Vorurteilen abstrahiert hätte, wäre Hegel nichts unvernünftiger erschienen, als die Gründe für die Objektivität der dialektischen Gesetze in der Natur zu suchen. Dieser Versuch kann de facto nur dazu führen, die dialektische Konstruktion auf ihren schwächsten Teil zu stützen, das heißt, zum Paradox des Kolosses auf tönernen Füßen. Gerade diejenigen Elemente, die bei Marx und Engels auf einmal zur methodischen Grundlage werden, haben der Anwendung der Methode den größten Widerstand entgegengesetzt, nicht nur per definitionem, sondern auch und vor allem in der Praxis: Wie groß auch die Mühe gewesen sein mag, die Hegel auf sich nahm, um die in der Naturphilosophie angetroffenen Schwierigkeiten zu lösen, dieser Teil seiner Arbeit hat ihn nicht zufriedengestellt. Selbst wenn man grundsätzlich anerkennt, dass Schwierigkeiten dieser Ordnung es nicht erlauben, Engels’ Versuch als an sich unhaltbar anzusehen, war sein Scheitern in den Prämissen bereits angelegt. Die Ersetzung der Logik durch die Natur ist nur die Charybdis als Scylla der nachhegelschen Philosophie.

Heute ist eine neue, auf der Erfahrung beruhende Rechtfertigung der Dialektik notwendig. Und wir werden sehen, aus welchem Grund ihre Ausführung nur auf dem eigentlichen Gebiet ihrer spezifischen Entwicklung, das heißt auf dem unmittelbaren Gebiet des Klassenkampfs, in der Erfahrung und nicht in den apriorischen Wolken universeller Auffassungen stattfinden kann.

Das Scheitern von Engels, der acht Jahre lang daran arbeitete, eine Dialektik der Natur vorzubereiten, und bis 1885 nur das zweite Vorwort zum Anti-Dühring8 zustande gebracht hatte, war bislang noch nicht Gegenstand von Untersuchungen, wie sie die beträchtliche Anstrengung des großen Pioniers der Revolution trotz allem verdient hätte. Viele Leute ziehen es vor, vom dialektischen Materialismus zu sprechen, als handele es sich um eine formulierte Doktrin und nicht um ein Projekt, das nicht verwirklicht wurde.9 Diese Fahrlässigkeit ist umso unangebrachter, als das Projekt weder aus Zeitmangel noch aus einem anderen, der Natur dieses Projekts äußerlichen Umstand aufgegeben wurde. Engels selbst hat sich zwar auf den Tod von Marx und die Notwendigkeit berufen, die unvollendet gebliebenen Werke seines Freundes abzuschließen. Dennoch hat er dieses zweite Vorwort geschrieben: In ihm hat er die Unzulänglichkeiten des Anti-Dühring in Bezug auf die Entwicklungen der Dialektik eingeräumt und die Dialektik in einer Weise definiert, die nur als Preisgabe seiner Ausgangsposition verstanden werden kann. Die ungeheure, die bewundernswerte Anstrengung von Engels, heute dank der Veröffentlichung durch Rjasanov bekannt, hat also doch ein Ergebnis erbracht: die Änderungen an der These des Anti-Dühring im zweiten Vorwort. Diese Zurücknahme genügt an sich selbst, um von der Tatsache Rechenschaft abzulegen, dass Engels eine Arbeit unvollendet ließ, der er, wie er selber sagte, acht Jahre lang den Großteil seiner Zeit gewidmet hatte.

Noch im Jahr 1881/82 hatte man in einer von Rjasanov10 veröffentlichten Anmerkung eine Bestätigung der dialektischen Auffassung in ihrer verräterischsten Form gefunden. Darin wird...

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