Die Welt der Konventionen
Zu dieser Zeit stand der Wohlstand der Familie Heine bereits auf tönernen Füßen. Die Wirtschaftsblockade gegen England, die Napoleon seit 1806 verhängt hatte, führte 1810 zur Erhebung eines Wertzolls von vierzig bis fünfzig Prozent auf importierte englische Waren. Das traf Samson Heine empfindlich, denn seine Kollektion bestand zu einem hohen Prozentsatz aus Velveteen, das er in den besten Fabriken der englischen Midlands einkaufte. Er hatte einen Korrespondenten in Liverpool, Mr. Harry, nach dem er seinen erstgeborenen Sohn benannte. Er reiste selbst oft auf die Insel, aber er war doch mehr ein Liebhaber sorgfältig ausgewählter Qualitätsware als ein berechnender Kaufmann. So ging die Chance, die in diesem Schutzzollsystem lag und die zu einem sensationellen Aufschwung der maschinellen Baumwollspinnerei am Niederrhein führte, völlig an ihm vorbei, während sich um ihn herum die bergische Wirtschaft spürbar zu diversifizieren begann. Samson zeigte sich in dieser Umbruchszeit unfähig, die Mentalität eines auf Luxuswaren spezialisierten Handelsjuden abzulegen, und darüber hinaus verliefen seine Geschäfte ohnehin wenig zielgerichtet. Lange Zeit war das kein Problem, weil er als Edelboutiquier immer seine Kundschaft fand, doch nach und nach wurde die napoleonische Zollpolitik wegen der dadurch steigenden Preise zu einer Beschwernis. Seinem umfangreichen Warenvorrat standen dramatisch sinkende Absatzchancen gegenüber, Schuldner blieben säumig, und die eingelagerte Ware wurde täglich unmoderner. Seit 1811 ist er wiederholt illiquide.42 Im Juli 1813 übernimmt er als zusätzliche Einnahmequelle die Hauptkollekte der Bergischen Klassenlotterie für das Arrondissement Düsseldorf. Als die britische Wirtschaftskrise, ausgelöst durch eine Überschätzung des Konsumverhaltens auf dem Kontinent nach dem Sturz Napoleons, ihre Kreise zieht, trifft es ihn besonders. Die »merkantilische Seifenblase«, erinnert sich Heine später, platzte damals »noch schneller als die imperiale«, und dieses Ereignis führte letztlich zum vorzeitigen Ende seiner Düsseldorfer Gymnasialzeit.
Die größte Zäsur in seinem bisherigen Leben war das Ergebnis einer Beratung mit Onkel Salomon aus Hamburg, der 1814 – Napoleon hatte gerade abgedankt und war nach Elba verbannt worden – eigens nach Düsseldorf gereist kam. Ein Familienbesuch, verbunden mit der Absicht, ordnend in Samsons schwieriger werdende Geschäfte einzugreifen. Auch seine Tochter Amalie ist mitgekommen, für die Heine in jugendlicher Liebe entbrennt und die eine zentrale Rolle in seiner erotischen Passionsgeschichte spielen wird. Salomon war schon zu dieser Zeit ein reicher Mann. 1797 hatte er in Hamburg zusammen mit Marcus Abraham Heckscher das Bankhaus Heckscher & Co. gegründet und 1808 einen luxuriösen Landsitz an den der Elbe zugeneigten Rainvilleterrassen im dänischen Ottensen erworben. Betty Heine muss sichtlich von ihm beeindruckt gewesen sein. Wenn man ihrem Sohn Glauben schenken will, kam sie damals auf den Gedanken, »es habe jetzt die Stunde geschlagen, wo ein bedeutender Kopf im merkantilischen Fache das Ungeheuerlichste erreichen und sich zum höchsten Gipfel der weltlichen Macht emporschwingen könne«. Salomon machte sich seinerseits in der Tradition jüdischer Familienverantwortlichkeit Gedanken über die Zukunft seines Neffen, und man kam überein, ihn auf die Düsseldorfer Handelsschule von Vahrenkampf zu schicken, um ihn für den Kaufmannsberuf vorzubereiten. Doch statt sich seiner geschäftlichen Zukunft zu widmen, übersetzt er lieber heimlich Homer und Ovid in judendeutschen Dialekt und amüsiert damit seine Klassenkameraden.43
Einen charakterstarken Menschen mit »edelgemessenen« Gesichtszügen nannte Heine den Hamburger Onkel Salomon in seinen Memoiren. Der Bankier, einer der reichsten Männer Deutschlands, nahm den Jugendlichen unter seine Fittiche. Doch das Verhältnis zwischen Geld und Geist blieb stets ein angespanntes.
© Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf
Mitte Februar 1815 ist Heine zu Besuch bei Onkel Salomon in Hamburg und erhält dort erste Einblicke in die Welt des großen Bankgeschäfts. Im September fährt er mit seinem Vater auf die Frankfurter Messe. Samson war immer ein hochqualifizierter Einkäufer, der regelmäßig die Messe besuchte. Er verfügte in Frankfurt über jahrelang aufgebaute Verbindungen und führte seinen Sohn dort in die Freimaurerloge Zur aufgehenden Morgenröthe ein, in der er Mitglied war. Der eigentliche Sinn der Reise war es jedoch, seinen Sohn als Volontär an das Bankhaus Rindskopf zu vermitteln. Harry Heine blieb dort drei Wochen, wechselte dann in das Geschäft eines Spezereihändlers, aber der damit verbundene Lebensplan war sichtlich seine Sache nicht. »Ein berühmter Kaufmann« – vermutlich Josef Beer vom Bankhaus Rindskopf –, resümiert er diese Wochen in seinen Memoiren, »bei welchem ich ein apprenti millionaire werden wollte, meinte, ich hätte kein Talent zum Erwerb, und lachend gestand ich ihm, dass er wohl recht haben möchte«. Aber Frankfurt blieb für ihn dennoch eine wichtige Lebenserfahrung.
Hier lernt er zum ersten Mal eine wirkliche jüdische Welt kennen. Über zehn Prozent der Frankfurter Stadtbevölkerung waren Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Juden. Sie lebten, bis 1796 die Franzosen kamen, seit einem Dekret von 1462 in einem Ghetto, der Frankfurter Judengasse, die am Ende wegen des großen Zuwachses auf kleiner Fläche aus allen Nähten platzte. Drückende Enge zeichnete das Quartier aus, dessen Tore abends verschlossen wurden. Es bestand, so der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe, der das Ghetto noch kannte, »kaum mehr als aus einer einzigen Straße«, die einmal »zwischen Stadtmauer und Graben mochte eingeklemmt worden sein«.44 Die Juden durften ihr Quartier nicht erweitern und mussten – wie Heine bemerkt – in dem Maße, wie sie sich vermehrten, ein Stockwerk über das andere bauen, mit dem Ergebnis, dass sie »sardellenartig zusammenrückten und dadurch an Leib und Seele verkrüppelten«. Die Häuser, empfindet er, sahen einen an, »als wollten sie mir betrübsame Geschichten erzählen, Geschichten, die man wohl weiß, aber nicht wissen will«.
Heines Begegnung mit Frankfurt hinterlässt bei ihm eine weitere genealogische Wunde. Hier, im düsteren Frankfurter Ghetto, befand sich ein altes und bedeutendes Zentrum der »Gejagten«, der europäischen Judenschaft. Im Haus Zum rothen Schild zum Beispiel lebten seit 1567 die Vorfahren Mayer Amschel Rothschilds. 1811 erhielten die Frankfurter Juden gegen eine Zwangsabgabe von 440000 Gulden und unter französischem Druck die vollen Bürgerrechte, aber fünf Jahre später wurden sie ihnen schon wieder genommen. Kurz vor dieser Zeit war Heine zum ersten Mal in Frankfurt, und er wird später im Rabbi von Bacharach dem mittelalterlichen Ghetto ein farbiges literarisches Denkmal setzen. Doch einstweilen ist eine Begegnung im Lesekabinett der Freimaurerloge seines Vaters von größerer Bedeutung für ihn. Dort sieht er beim Zeitunglesen möglicherweise zum ersten Mal in seinem Leben Frankfurts berühmtesten jüdischen Intellektuellen, Ludwig Börne, der zu dieser Zeit noch Löw Baruch heißt. Wenn sie denn stattgefunden hat, war es eine flüchtige und einseitige Begegnung. Heine beobachtet gerade einmal, wie Börne, nach einem Journal suchend, sich im Raum hin und her bewegt und bald wieder zur Tür hinauseilt. In Zukunft wird ihn vieles mit ihm verbinden, und Gräben werden beide trennen.
Zunächst aber wird er nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Düsseldorf den tüchtigen Händen seines Onkels Salomon anvertraut und nach Hamburg geschickt, wo er ein Zimmer in den Großen Bleichen zur Untermiete bezieht und Anfang Juni 1816 eine Lehre im Kontor des Bankhauses Heckscher & Co. beginnt. »Wunderlieblich« findet er die Ufergegenden der schon fast zu einem Meer gewordenen Elbe, an denen das repräsentative Landhaus des Onkels in Ottensen liegt. Im Park, den Salomon durch den französischen Landschaftsarchitekten Joseph Jacques Ramée im pastoralen Rokoko-Stil hatte anlegen lassen, ein »sphinxverzierter Marmorbronnen«; und unten zerschellen zur Zeit der Flut die Wellen am Gestein. Nicht weit davon, auf dem nahen Kirchhof, diesem »heiligen Ort« oberhalb der Parkterrassen, liegt seit dreizehn Jahren Friedrich Gottlieb Klopstock begraben, der trotz seiner Kritik am jakobinischen Terror und den Revolutionskriegen seinen Status als Ehrenbürger der französischen Republik nie aufgab. Heine hat diesen Ort im Juli 1816, kurz nach seiner Ankunft in Hamburg, zum ersten Mal andachtsvoll aufgesucht. Man ruht dort gut, meint er später, aber »als lebendiger Dichter dort zu leben, ist schon weit schwerer«. Hamburg gefällt ihm nicht. »Ein verludertes Kaufmannsnest«, lässt er einen Düsseldorfer Schulfreund schon kurz nach seiner Ankunft wissen: »Huren genug, aber keine Musen.«45 In Hamburg, so Heine noch 1850, sei er immer »profund unglücklich«46 gewesen.
Insgesamt dreizehn Mal hält er sich während seiner deutschen Periode in Hamburg auf; acht Jahre seines Lebens wird er dort und in benachbarten norddeutschen Orten verbringen, aber diese Aufenthalte haben für ihn immer etwas innerlich Transitorisches an sich. Im Grunde ist er stets nur ein mehr oder weniger flüchtiger Besucher. Er fühlt sich dort nicht wohl. »Wie grässlich war mir das Alles!«, erinnert er sich noch in Paris.47 Hamburg, das war für ihn in erster Linie eine Stadt voll heuchlerischer Sittlichkeit und Phantasielosigkeit, voll satter Tugend und zahlungsfähiger Moral. In jenen Jahren setzt sich bei ihm eine tiefe...