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E-Book

Helene Schjerfbeck

Die Malerin aus Finnland

AutorBarbara Beuys
VerlagInsel Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783458749424
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
In Skandinavien wird sie als eine der bedeutendsten Malerinnen des 20. Jahrhunderts gefeiert, in Deutschland ist sie spätestens seit der vielgerühmten Ausstellung in der Frankfurter Schirn 2014 keine Unbekannte mehr: Helene Schjerfbeck (1862-1946).
Barbara Beuys schildert das dramatische und stürmische Leben der Malerin, die als Wunderkind begann und eine Meisterin der Moderne wurde - und über tausend Bilder geschaffen hat: Selbstporträts, Stillleben, Landschaften, vor allem aber Porträts moderner junger Frauen.

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<p>Barbara Beuys, geboren 1943, arbeitete nach ihrer Promotion in Geschichte als Redakteurin u. a. bei Stern, Merian und DIE ZEIT. Heute lebt sie als freie Autorin in K&ouml;ln.</p>

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Leseprobe

1. Kapitel


Im Familienkosmos


1862 bis 1873


Endlich! Endlich füllt sich die elterliche Wohnung in der Henriksgatan 14 in Helsinki mit Leben. Menschen, die nicht durch verwandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen mit der Familie verbunden und die, nimmt man es genau, nur für sie gekommen sind, sitzen um den runden Tisch im Wohnzimmer. Mit ihren hellwachen blauen Augen blickt die achtjährige Helene, die auf einem leicht erhöhten Stuhl kniet, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, in die Runde: Da sind vier Mädchen aus der Nachbarschaft, mehr oder weniger in ihrem Alter, und Fräulein Ingman, die Lehrerin, die die überschaubare Kinder-Runde unterrichten soll.

Olga Schjerfbeck, Helenes Mutter, hat diese kleine Privatschule für das Frühjahr 1871 in ihrer Wohnung organisiert. Zuvor hatte sie, wie es bei bürgerlichen Familien in Finnlands Hauptstadt üblich ist, ihrer Tochter Lesen und Schreiben beigebracht. Nun wäre es an der Zeit gewesen, Helene in die renommierte private »Frauenzimmerschule« zu schicken. Aber die Mutter traut der Tochter den Gang ins Leben nicht zu: Im vierten Lebensjahr hatte sich Helene bei einem Treppensturz die linke Hüfte schwer verletzt. Die Hüfte blieb geschädigt, das linke Bein verkürzt. Helene hinkte, als sie endlich das Bett verlassen durfte, und stützte sich auf einen kleinen Stock, wenn es hinaus auf die Straße ging. Dabei hielt sie sich sehr aufrecht, entschlossen, trotz der Behinderung am Leben der anderen teilzuhaben. Für die Mutter jedoch war Helene seit dem Sturz ein kränkliches, zartes Kind, das vor dem rauen Alltag draußen in der Welt beschützt werden musste.

Hinzu kam, dass der zwei Jahre ältere Bruder Magnus auf das angesehene »Normallyzeum« ging; es war wie die Mädchenschule eine private Institution, und beide kosteten Geld. Davon gab es nicht viel im Haushalt Schjerfbeck, wobei es für die Mutter selbstverständlich war, dass der Sohn bei finanziellen Ausgaben stets den Vorrang vor der Tochter hatte. Auf mehrere Köpfe verteilt, war der Unterricht durch die zwanzigjährige Lina Ingman, Tochter eines Theologieprofessors der Universität Helsinki und angehende Lehrerin, eine günstige und gute Alternative. Lina Ingman war kompetent und freundlich, die Mädchen um den runden Tisch mochten sie sofort sehr. Sie nahmen alles Neue wissbegierig auf – Biblische Geschichte, Geografie, Gedichte und Erzählungen. Helene, deren blonde Haare im Rücken zu einem Zopf geflochten waren und die alle in der Familie nur Elli oder Ella nannten, war glücklich.

Während die Mädchen lernten und erprobten, ob das Gelernte auch im Gedächtnis blieb, kamen sie einander näher. In diesem Kreis begann Helenes lebenslange Freundschaft zu ihrer Mitschülerin Elin Elmgren, kaum zwanzig Jahre später eine der ersten Ärztinnen Finnlands. Im Miteinander der Kameradinnen entwichen für Helene die Schatten der Toten, die seit Jahren das Familienleben verdunkelten. Dabei war es ein fröhliches Ereignis, das ihr zeitlebens als früheste Erinnerung im Gedächtnis blieb.

Sie war nicht viel älter als ein Jahr, als man Helene in einem gepunkteten Kleid auf einen Tisch am offenen Fenster gesetzt hatte und auf der Straße ein endloser Zug von Männern in graubraunen Uniformen vorbeimarschierte. Es waren Soldaten, die zur feierlichen Parade auf den Senatsplatz von Helsinki zogen. Als die Männer das kleine Mädchen entdeckten, nickten sie ihr freundlich zu. Helene hatte feine Sensoren für die Stimmung ringsum, spürte, dass solche unbekümmerten Stunden ein rares Geschenk waren. Über fünfzig Jahre später erinnert sie sich: »Zu Hause war es ernst und schwermütig, und ich nahm alles schwer – so ist es bis heute.«

Der kleine intime Familienkosmos in der Henriksgatan war gezeichnet von traurigen, verzweifelten Stunden, wie sie zum Alltag der Menschen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gehörten. Aber es ist wichtig zu wissen, dass alle Aussagen von Helene Schjerfbeck zu den frühen Jahren, die sie als eine einzige schwere Last schildert, und besonders zu ihrer Mutter, von der sie sich nicht geliebt fühlt, Jahrzehnte später gemacht wurden. In Zeiten, als das Verhältnis zu ihrer Mutter besonders angespannt ist.

Wenn die düster eingefärbte Vergangenheit in den Hintergrund tritt und der Kindheit Platz macht, fügen sich die Bruchstücke zu einem differenzierten Bild. Trotz Schmerz und Ausgeliefertsein regen sich Eigenständigkeit und Widerstandskräfte, ein optimistisches Auftreten wird sichtbar. Helene Schjerfbecks Erfolg als Malerin hängt nicht am Mythos einer traumatisierten Kindheit. Die Opferrolle, in die Biografien und Aufsätze zu ihrer Person sie gedrängt haben, entspricht nicht ihrer Persönlichkeit.

Helenes Eltern kamen aus gutsituierten bürgerlichen Familien, die in Västnyland, dem Landstrich zwischen Helsinki und der Westküste Finnlands, zu Hause waren. Zu ihren Vorfahren zählen lutherische Pfarrer und Kaufleute, Ratsherren und Militärs, Apotheker, Verwaltungsbeamte und Ärzte. Die Eltern, Svante Schjerfbeck und Olga Johanna Printz, heirateten 1857 in Karislojo, dem Heimatort der Braut, wenige Kilometer nördlich von Ekenäs gelegen, wo der Bräutigam aufgewachsen war. Olga Johanna war achtzehn Jahre alt, ihr Vater acht Jahre zuvor gestorben. Der vierundzwanzigjährige Svante hatte weder Vater noch Mutter gekannt. Mit gut einem Jahr war er Waise geworden und kam in den Haushalt einer unverheirateten Tante. Zwei Menschen taten sich zusammen in der Hoffnung, den Grundstein für Geborgenheit mit einer eigenen Familie zu legen.

Nach der Heirat zog das Paar hoch in den Norden nach Jakobstad an der finnischen Westküste, wo Svante Schjerfbecks früh verstorbener Vater als Apotheker zu Wohlstand gekommen war. Jetzt trat der Sohn das Erbe an, zu dem zwei Grundstücke und eine wertvolle Bibliothek gehörten. Svante Schjerfbeck, der nach der Schule zusätzlich in Turku einen Kurs an der Handelsschule belegt hatte, erhielt 1857 die Befähigung zum Kaufmann. Doch er hatte kein Talent für Kontor, Buchführung und gewinnbringende Geschäfte. Schon nach einem Jahr ging er in Konkurs und verlor das gesamte Erbe. Da war seine Frau schwanger. 1858 wurde ihre erste Tochter geboren und auf den Namen Olga Sofia getauft. Die junge Familie hielt sich mehr schlecht als recht über Wasser. Im Juni 1860 kam das zweite Kind auf die Welt, der Sohn Svante Magnus, von allen nur Magnus genannt.

1861 fassten die Eltern den Entschluss, in Helsinki einen Neuanfang zu wagen. Die Hauptstadt lockte immer mehr Menschen aus dem Landesinneren an. Auch in Finnland begann die Industrialisierung langsam Fahrt aufzunehmen. Mit der Wirtschaft ging es aufwärts, neue Arbeitsplätze entstanden. Svante Schjerfbeck fand Arbeit in Helsinki als Bürovorsteher einer Eisenbahnwerkstatt.

Noch hatte sich in Finnland zwar keine einzige Lokomotive in Bewegung gesetzt, aber der junge Bürovorsteher Schjerfbeck hatte einen aufregenden Arbeitsplatz. Seine Eisenbahnwerkstatt in Helsinki war Teil eines Pionierprojekts, das die erste Eisenbahnlinie Finnlands realisieren sollte. Hunderte von Arbeitern waren damit beschäftigt, eine Trasse zwischen der Hauptstadt und dem knapp hundert Kilometer nördlich gelegenen Hämeenlinna quer durch das Land zu legen. Nicht nur Profit und Wohlstand, auch der Stolz Finnlands war mit dieser Jahrhundertanstrengung verknüpft.

Ob der tägliche Gang ins Büro und die Arbeit als Angestellter dem entsprach, was der inzwischen Achtundzwanzigjährige und seine Frau sich für die Zukunft erhofft hatten? Wohl kaum. Eine von Olga Schjerfbecks Schwestern hatte einen Gutsherrn geheiratet, die andere einen Bankdirektor. Das waren bessere Partien. Der Posten als städtischer Angestellter bei der Eisenbahn erlaubte keine üppige Haushaltsführung. Aber das bürgerliche Ansehen konnte gewahrt bleiben. In der Georgsgatan 31, im Zentrum des alten Helsinki, hatte die Familie ein kleines weißes Haus gefunden.

Nichts erinnert in diesem Viertel mehr an das Helsinki der 1860er Jahre mit seinen Holzhäusern, seinen Höfen und kleinen Gärten. Heute ist die Georgsgatan – in wenigen Minuten vom quirrligen Narinkka-Platz mit dem größten Einkaufskomplex Skandinaviens quer über die Simonkatu zu erreichen – fast lückenlos mit neoklassizistischen Gebäuden der Zeit um 1900 bebaut. Nur bei Nummer 31 hat sich ein eintöniger moderner Backsteinblock dazwischengeschmuggelt. Im Erdgeschoss lädt »Scandinavien Outdoor« zum Einkaufen, daneben »Kebab & Pizza« zum Essen. Aber damals wie heute sind es nur Minuten bis zur Esplanadi, Helsinkis breiten, in der Mitte parkartig angelegten parallelen Prachtboulevards. Schon seit 1839 steht am östlichen Ende der Esplanadi, mit Blick auf Hafen und Markt, das vielfach erweiterte »Kappeli«, immer noch eines der beliebtesten Café-Restaurants der Hauptstadt.

1861 ließen sich die stolzen Eltern mit der erstgeborenen Olga Sofia fotografieren. Die Familie begann Fuß zu fassen in der großen Stadt. Doch 1861 sollte ein Jahr der Katastrophen für die Neuankömmlinge werden.

Selma, die ältere Schwester von Svante Schjerfbecks Frau Olga, war mit Thomas Adlercreutz verheiratet, studierter Jurist und adliger Besitzer vom Herrenhaus Sjundby. Das mächtige Herrenhaus, ein Schloss im Kleinen, gut sechzig Kilometer westlich von Helsinki gelegen, ist eines der wenigen frühen Steingebäude, die sich über gut fünfhundert Jahre in Finnland erhalten haben. Nach dem Tod seiner ersten Frau war es für Thomas Adlercreutz die zweite Ehe. 1861 war die vierundzwanzigjährige Selma schwanger, und das Paar freute sich auf Nachwuchs. Als Selma mit ihrem ersten Kind...

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