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E-Book

Helle Nächte, dunkle Tage

Das ewige Suchkind

AutorWerner Leuschner
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl244 Seiten
ISBN9783744827102
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Als achtjährige Halbwaise durch bloßen Zufall von seiner Familie getrennt und schwer traumatisiert, erlebt der kleine Wernerle das Ende des Zweiten Weltkriegs alleine und tief versteckt in Feindesland. Erst Jahre später wird er nach einer atemberaubenden Flucht zu ihnen zurückfinden können, doch da ist es für ihn bereits zu spät. Zwar überlebt er Hunger, Kälte und Erschießungen, doch auch siebzig Jahre später ist die Flucht für ihn noch lange nicht vorbei. Er ist ein Suchender geblieben, einer der letzten seiner Generation. In diesem Buch erinnert er sich in Form von Gedichten, Texten und Zeitdokumenten an seine Kindheit und erzählt erstmals seine ganze, unglaubliche Geschichte.

Werner Leuschner wurde 1936 in Breslau geboren und musste mit acht Jahren im Rahmen der Kinderlandverschickung nicht nur seine Heimat, sondern auch seine Familie zurücklassen. Seine Spur verlor sich in den Wirren des Krieges, er verschwand hinter der russischen Front in Feindesland und fand erst Jahre später zu seiner Mutter zurück. Die Erlebnisse, die er in dieser Zeit hatte, verarbeitete er erst über fünzig Jahre später das erste Mal in Form von Gedichten, die die Grundlage dieses Buches bilden.

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Leseprobe

- Breslau -


Geboren wurde Werner Robert Leuschner, so sein vollständiger Name, am 22.7.1936 in Breslau, im vierten Stock eines unauffälligen Mehrfamilienhauses in der Grünberger Straße als zweites Kind von Willi und Margarete Leuschner.

Werners Vater Willi arbeitete zu dieser Zeit als Installateur, ein Beruf, den er dem Wunsch seines eigenen Vaters folgend, erlernt hatte, aber nie besonders mochte. Es war für Willi eine Tätigkeit, um Geld zu verdienen, ein solides Handwerk, mit dem man die junge Familie ernähren konnte.

Doch lieber beschäftigte er sich mit seinem liebsten Zeitvertreib, dem Klavierspielen. Die Familie Leuschner war schon immer sehr musikalisch gewesen, und so hatte auch Willi schon früh das Musizieren erlernt. Bereits im Jahre 1926, als Willi dreizehn Jahre alt war, hatte man ein gebrauchtes Klavier angeschafft und Willi war ein gelehrsamer Schüler gewesen.

Er liebte es, ins Theater zu gehen und danach die gerade eben gehörten Melodien frei aus dem Gedächtnis nachzuspielen. Dieses Talent war es auch, das ihn später dazu befähigen sollte, selbst in den verschiedenen Cafés, Theatern und Kinos der Stadt zu musizieren und so sein Gehalt aufzubessern. Während also die Zuschauer wie gebannt im Dunkeln auf die Leinwand blickten oder sich draußen bei strahlendem Sonnenschein eine Tasse Kaffee schmecken ließen, war es Willi Leuschner, der im Hintergrund am Klavier saß und alles musikalisch untermalte.

Engagements dieser Art gab es genug für Willi, denn Breslau war eine intellektuelle Stadt, voll von Universitäten, Museen und weitläufigen Parkanlagen. Freiherr Manfred von Richthofen, genannt der rote Baron, war hier geboren worden, ebenso wie Ignatz Bubis, der später den Zentralrat der Juden leiten sollte. Studenten, Künstler und junge Familien bestimmten das Stadtbild und abends traf man sich in Lokalen und Cafés wie dem „Schweidnitzer Keller“ direkt unter dem Rathaus. Es wurde musiziert, gelacht und gefeiert, und niemand verschwendete viele Gedanken an den Krieg, der bald kommen würde.

Willi Leuschner, Werners Vater, war ein unpolitischer Mensch und so machte sich auch niemand große Sorgen, als er zwei Monate vor der Geburt seines Sohnes gemustert wurde. Die Musterung war eben Pflicht und Hitler hatte ja immer wieder betont, dass er den Frieden wünschte. Es würde schon gut gehen.

Wieso er dann im Krieg war? Da weiß ich etwas anderes, das weiß ich aber nur von der Mama, dass er ja schon Mitte der 30er Jahre zur Ausbildung in einer bestimmten Stadt in Deutschland war. Und da haben sie dann einen Funker aus ihm gemacht. Das war keine Ausbildung für eine kurze Zeit bei der Wehrmacht, sondern eine richtige komplette Ausbildung, die ein ganzes Jahr dauerte, oder noch länger, ich weiß nicht wie lange. Jedenfalls hat der viel, viel mitgemacht, bevor er Soldat wurde. Dass er als Zivilist eingezogen worden ist, und dann hat man ihn zum Funker gemacht. Als Klavierspieler hast Du nun mal geschickte Hände, und intelligent war er ja, und da muss das dann eng geworden sein, 1939. Und ich glaube, der hat sich gemeldet… Ich glaube, dass ich sowas nie richtig ausgesprochen gehört habe, aber ich hab das Gefühl, dass er sich gemeldet hat. Das hört sich blöde an, jetzt müsste ich normalerweise sagen ‚freiwillig‘, das mag ich gar nicht aussprechen, sondern nur ‚Da gehör‘ ich ja jetzt eigentlich hin als Funker‘!

- Werner Leuschner

Willi war ein distanzierter, ernster und ruhiger Mensch mit feinsinnigem Humor, doch leider würde Werner niemals die Gelegenheit erhalten, seinen Vater wirklich kennen zu lernen. Denn zwischen seiner Ausbildung und dem Beginn des Krieges, zu dem er sich freiwillig meldete, um das zu tun, was er für seine Pflicht hielt, lagen nur knappe drei Jahre, in denen er mit seiner Familie in Breslau lebte und auch dort arbeitete.

1934 hatten Willi und Margarete geheiratet und ein Jahr später war dann auch schon der erste Sohn Kurt zur Welt gekommen. Willi war mittlerweile vom Installationsbetrieb, vor dem er und seine Frau sich kennengelernt hatten, zur „FaMo“ gewechselt, den Fahrzeug- und Motorenwerken, wo fast ausschließlich Traktoren und Raupenschlepper produziert wurden. Erst später wurden dort auch LKWs und Schlepper für die Wehrmacht produziert.

Einmal wöchentlich nahm Werners Mutter ihren Sohn an die Hand und dann spazierten die beiden zum Werkstor, wo sie geduldig auf den Vater warteten, der ihnen seinen Lohnscheck herausbrachte. Man unterhielt sich kurz, dann ging der Vater wieder an die Arbeit und Margarete lief mit ihrem Sohn zurück zur Wohnung, vollbepackt mit Lebensmitteln, die sie unterwegs eingekauft hatte. Werner half die Einkäufe mit hinauftragen und hielt sich wie selbstverständlich an die einzige Regel im Hausflur, „Im ersten Stock wird nicht gesprochen“. Er war noch zu klein, um zu begreifen, wieso er ausgerechnet dort nicht sprechen durfte, denn die Juden, die dort wohnten, schienen doch recht nette Menschen zu sein. Und zu jedem anderen im Haus hatte er doch auch ein gutes Verhältnis.

Zu der Frau Kargel musste ich immer gehen, weil ich bei Ihr am Frisiertisch sitzen durfte und dann wurdest Du gekämmt, kriegtest Haarwasser rein, dass das richtig schön aussieht, dann kriegtest Du die Salbe fürs Gesicht, und alles, und die musste mir das ganze komplette Make Up machen. Mit Fingernägeln, und allem. Das war die eine! Die andere, da musste ich eine Etage tiefer gehen, und dann links in die Wohnung rein, da wohnte eine alte Dame, und die hat vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer hin die Schaukelhaken an der Decke, wo man die Schaukel reingehangen hat, und da gab’s dann den Sitz, und wenn ich kam, musste die Schaukel wieder hinkommen. Stundenlang konnte ich bei der drinnen sitzen, und es quietschte. War ja klar, kommt ja kein Öl dran oben an die Metallhaken, da habe ich stundenlang geschaukelt. Da heißt es, um 6 Uhr: „Ich muss in die Kirche“, na ja und dann geh ich mit, sie ist ja katholisch. Da bin ich eben mit ihr durch die Stadt geschlendert da zur Kirche hin, hab den Gottesdienst mit ihr mitgemacht!

-Werner Leuschner

In seiner Freizeit spielte Willi, Werners Vater, weiterhin Klavier und unternahm Fahrradtouren mit seinem Sohn durch die Stadt oder an die Oder, wobei der Vater kräftig strampelte, während das Kind vorne in einem Körbchen saß und zu ihm hinaufschaute. Der größere Bruder passte nicht mehr in den Kindersitz, die kleine Schwester rutschte unten durch. Und so kam es, dass nur Werner diese Fahrradtouren mit seinem Vater machen konnte.

Doch abgesehen davon, gab es nicht besonders viele gemeinsame Unternehmungen. Die freie Zeit war knapp und Werner war ja auch nicht das einzige Kind. Es gibt deshalb auch nur noch wenige Erinnerungen an Willi Leuschner, und die meisten Informationen über ihn kann man lediglich seinem Wehrpass entnehmen.

Ausgestellt am 13. Mai 1936 in Breslau zeigt die erste Seite einen ernst dreinblickenden jungen Mann mit schmalem Gesicht, geboren am 4. Januar 1913, evangelisch, verheiratet. Er ist voll tauglich und wurde am 3. April 1937 auf den Führer vereidigt. In Dienst gestellt wurde er am 26.8.1939, nur 37 Monate nachdem sein Sohn Werner auf die Welt gekommen ist. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn Werners Erinnerungen sich fast ausschließlich auf die Militärzeit seines Vaters und den Krieg im Allgemeinen beziehen. Denn auch wenn er noch klein ist, so ziehen sich der Antisemitismus und die Kriegstreiberei Adolf Hitlers doch schon wie ein roter Faden durch seine Erinnerungen.

Und dann kamen andere Zeiten, jetzt haben wir Gefangene. Russen, Franzosen, Polen, und die müssen ins Lager. Jetzt müssen die durch Breslau durch, am Striegauer Platz vorbei, und wer stand da? Ich! Jeden angucken, an die Bordsteinkante gehen, für keinen was haben, und die gingen in die Gefangenschaft oder den Tod! Und das immer und oft, jeden Tag. Und dann ist die Uhrzeit 12 Uhr, da gab es Litfaßsäulen, da waren Sender eingebaut, und da kam in deutscher Sprache: ‚Deutsches Volk, hier sind die Nachrichten‘, und dann die Musik. Und wir Kinder, alle da hin, wenn die Musik war, sind wir um die Litfaßsäule herum marschiert. Richtig marschiert im Takt mit denen, und dann haben wir gestanden und die Nachrichten angehört. Die können wir ja zu Hause erzählen. So habe ich den Krieg erlebt, mit Beerdigungen von berühmten Fliegern, die wahnsinnig was geleistet haben, dann aber abgestürzt sind und in Deutschland während den Angriffen abgeschossen worden waren. Das habe ich alles so in der Weise als Kind erlebt. Das war ja auch unser Alltag.

- Werner Leuschner

In den drei Jahren seines Dienstes bei der Wehrmacht schafft Willi Leuschner es nur noch ab und zu, im Urlaub nach Hause zu kommen, und seine Feldpostbriefe sind leider nicht erhalten geblieben, so dass sich kaum erahnen lässt, wie es ihm ergangen sein muss. So sehr Werner es auch versucht, er wird sich mit der Zeit immer weniger an seinen Vater erinnern können. Werner selbst entwickelt sich aber zu einem fröhlichen Jungen, einer echten Breslauer Lerge.

Mit dem Begriff „Lerge“ wurden in Breslau ursprünglich dürre Pferde und Hunde bezeichnet, doch schnell wurde dieser Begriff auch so eine Art Kosename für die...

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