Der alles entscheidende Kater
Es kommt der Tag im Leben einer Frau, an dem sie begreift, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Bei mir fiel dieser Tag auf einen Katersonntag.
Keine Ahnung, was ich am Abend vorher getrieben hatte, aber offenbar hatte ich zu viel getrunken und war mit Make-up und Klamotten in eine Art Koma gefallen. Als ich aufwachte, waren meine Augen mit Mascara verkrustet und meine Haut bedeckte eine Schmierschicht aus Foundation und Nachtschweiß. Der Bund meiner Jeans schnitt mir in den Bauch. Ich musste aufs Klo, war aber unfähig, mich zu bewegen, also öffnete ich nur den Reißverschluss und blieb mit geschlossenen Augen liegen.
Es tat einfach alles weh.
Manchmal kommt man ja um so einen Kater einigermaßen herum. Man wacht zwar übernächtigt auf, ist aber trotzdem gutgelaunt und sogar etwas aufgekratzt. So stolpert man durch den Tag, bis sich am Nachmittag ein leichter Hangover meldet. An diesem Sonntag aber kam er im Frontalangriff. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre darin eine Bombe geplatzt. Mein Magen rumorte wie eine Waschmaschine voller Giftmüll, und in meinem Mund hatte ich die berüchtigte tote Maus.
Ich drehte mich zur Seite und griff nach dem Glas auf meinem Nachttisch. Meine Hand zitterte so heftig, dass ich mir das Wasser vor den Latz und aufs Laken goss.
Der Lichtstreifen, der zwischen den Vorhängen ins Zimmer fiel, blendete mich. Ich kniff die Augen wieder zu und wartete. Und kurz darauf schlug sie auch schon über mir zusammen, diese Welle aus Angst und Selbstekel, die einen nach einer Partynacht überrollt. Dieses untrügliche Gefühl, dass man etwas Schlimmes verbrochen hat und ein von Grund auf schlechter Mensch ist, dem für den Rest seines nichtsnutzigen Lebens nur noch Böses widerfahren wird, weil man es eben nicht besser verdient hat.
Mich hatte die große Flatter gepackt, aber das lag nicht nur an dem Kater. Die Angst und die Zweifel brummten schon seit längerem im Hintergrund, der Kater hatte nur die Lautstärke aufgedreht.
Dabei war mein Leben gar nicht so schlecht. Im Gegenteil.
Mit Anfang zwanzig war ich die Journalisten-Karriereleiter emporgekraxelt, inzwischen arbeitete ich erfolgreich als freiberufliche Autorin und konnte mir ein Leben in London leisten. Ich wurde doch tatsächlich dafür bezahlt, verschiedene Mascara-Marken einem Härtetest zu unterziehen. Etwa einen Monat vor dem alles entscheidenden Kater hatte man mich in einen österreichischen Kurort geschickt, wo ich mit reichen Ehegattinnen abhing, die ein Vermögen dafür bezahlten, Brühe und trockenes Brot zu essen. Ich reiste für lau, nahm fünf Pfund ab und kam mit einer hübschen Sammlung Minishampoos nach Hause.
Für eine Reportage hatte mir Dita Von Teese in ihrer Suite im Nobelhotel Claridge’s einen Intensivkurs in Sachen Verführung gegeben. Und ich hatte sogar mal ein Interview mit James Bond geführt und mir noch Wochen danach die Sprachnachricht vom großen Roger Moore angehört, in der er mir für den »verdammt guten« Artikel dankte.
Im Job lief es also traumhaft.
Und auch an meinem Privatleben gab es wenig auszusetzen. Ich hatte Freunde und eine Familie, denen ich wichtig war. Ich kaufte mir sündhaft teuere Jeans und trank überteuerte Cocktails. Ich verreiste. Nach außen hin wirkte ich wie eine Frau, die Spaß am Leben hat.
Aber dem war nicht so. Ich stand total auf dem Schlauch.
Während meine Freunde Badezimmer renovierten und Urlaube auf dem Land planten, verbrachte ich meine Wochenenden alkoholisiert oder vor der Glotze.
Wenn ich eingeladen war, dann zu Verlobungsfeiern, Hochzeiten, Hauseinweihungen und Kindstaufen. Lächelnd stand ich daneben und überreichte Geschenke. Ich schrieb Glückwunschkarten und erhob mein Glas auf das junge Glück. Aber mit jeder Feier, die andere eine Stufe weiterbrachte, verstärkte sich bei mir das Gefühl, abgehängt, einsam und belanglos zu sein. Ich war sechsunddreißig, meine Freunde hakten eine Etappe nach der anderen ab, während ich in dem Leben stecken geblieben war, das ich schon mit Mitte zwanzig geführt hatte.
Ich hatte keinen Mann, kein Eigenheim und keinen Plan.
Wenn man mich fragte, ob es mir gutgehe, antwortete ich ja. Dabei war klar, dass ich unglücklich war. Aber warum? Ich hatte doch unglaublich viel Glück! Ich fing an, darüber zu jammern, dass ich immer noch allein war, dabei wusste ich gar nicht, ob das der wirkliche Grund für meine Traurigkeit war. Würde ein Mann meine Probleme lösen? Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Wollte ich heiraten und Kinder kriegen? So sicher war ich mir da gar nicht. Ohnehin war das alles eine theoretische Frage. Die Männer lagen mir nicht gerade zu Füßen.
Tatsächlich war es so, dass ich eine Heidenangst vor Männern hatte und deswegen ständig eingeschüchtert war. Warum gelang mir nicht, was alle anderen fertigbrachten, warum konnte ich nicht einfach jemanden kennenlernen, mich verlieben und heiraten?
Es kam mir vor, als stimmte etwas nicht mit mir.
Aber das sagte ich niemandem. Stattdessen nickte ich, wenn man mir versicherte, ich würde schon noch jemanden kennenlernen. Daraufhin wurde schnell das Thema gewechselt und am Ende ging ich wieder allein nach Hause. In dramatischen Momenten sah ich mich in die komplette Bedeutungslosigkeit abdriften. Dieser Katersonntag war so ein Moment.
Ich schaute mich im Chaos-Schlafzimmer meiner unverschämt teuren Souterrainwohnung um: Auf dem Boden waren Unterhosen und Strumpfhosen verteilt, dazwischen lag ein nasses Handtuch. Aus dem Abfalleimer quollen Abschminktücher und leere Plastikflaschen. Ich zählte drei halbleere Kaffeebecher.
Beim Anblick dieser Szene fragte mich eine innere Stimme:
Was machst du hier eigentlich?
Und gleich nochmal, dieses Mal lauter und bestimmter:
Was machst du?
Genau so etwas passiert auch immer in Romanen, wenn ein absoluter Tiefpunkt erreicht ist. Da meldet sich auf einmal eine Stimme aus dem Nichts und flüstert der Hauptfigur ein, dass sich etwas ändern muss. Diese Stimme kann Gott gehören, einem Verstorbenen oder meinetwegen irgendwelchen Geistern oder Engeln, aber immer ist da eine Stimme.
Ich habe das nie für bare Münze genommen, sondern für ein Stilmittel gehalten, das für erhöhte Aufmerksamkeit sorgen soll. Aber es ist wahr. Manchmal gerät man tatsächlich an einen Punkt, an dem man Stimmen hört.
Meine innere Stimme hatte es seit Monaten auf mich abgesehen, sie weckte mich schon morgens um drei. Ich saß dann kerzengerade, mit klopfendem Herzen im Bett, und sie fragte:
Was tust du? Was tust du?
Ich bemühte mich, diese Stimme zu ignorieren. Ich schlief wieder ein, ging wieder zur Arbeit und stand wieder in der Kneipe. Doch im Laufe der Monate ließ sich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, immer schwerer unterdrücken. Denn ich hatte absolut keine Ahnung, was ich da tat. Es kamen immer mehr Risse zum Vorschein. Nur mit Mühe konnte ich ein Lächeln aufsetzen und die Tränen, die sonst nur in meinem Schlafzimmer flossen, nahmen auf einmal öffentlich – im Pub, im Büro, auf Partys – ihren Lauf. Bis ich diese Frau auf Hochzeitsfeiern war, die erst besoffen zu Single Ladies von Beyoncé über die Tanzfläche taumelt und dann heulend auf dem Klo hockt.
Diese Person wollte ich nie sein. Doch es war auf einmal passiert.
Nach vier Stunden postalkoholischen Dämmerzustands mit den Kardashians klingelte das Telefon. Ich hatte nicht einmal geduscht.
Meine Schwester war dran, Sheila.
»Was machst du gerade?«, fragte sie. Sie klang fröhlich und war voller Elan. Sie telefonierte im Gehen.
»Nichts. Ich habe einen Kater. Und du?«
»Ich komme gerade vom Fitness, und jetzt geh ich mit Jo brunchen.«
»Schön.«
»Du klingst so niedergeschlagen.«
»Bin ich nicht. Nur verkatert.«
»Geh doch eine Runde spazieren, das hilft.«
»Es regnet«, log ich. Sheila konnte das nicht überprüfen, sie wohnte in New York. In einem superschicken Apartment, mit einem superschicken Job und superschicken Freunden, mit denen sie superschick brunchte. Ich stellte mir vor, wie sie in Manhattan über die Straße hüpfte, ganz frisch und rosig vom Sport, mit leuchtenden superteuren Strähnchen im Haar.
»Hast du heute gar nichts vor?«, fragte sie. Diese unterschwellige Kritik, wie ich sie hasste.
»Keine Ahnung. Der Tag ist bald vorbei, hier ist es vier Uhr nachmittags.«
»Bist du sicher, dass es dir gutgeht?«
»Ja, doch. Ich bin nur müde.«
»Okay. Dann lass ich dich mal in Ruhe.«
Ich wollte schon auflegen, damit sie ihr supertolles Leben weiterführen und ich weiter ins Selbstmitleid abdriften konnte, aber dann kamen wieder diese Tränen.
»Was ist denn? Ist gestern Abend etwas passiert?«, fragte Sheila.
»Nein, das ist es nicht.«
»Was denn dann?«
»Ich weiß nicht …«, begann ich, und dann brach mir die Stimme weg. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«
»Was meinst du damit?«
»Ich bin immer nur traurig und ich weiß nicht warum.«
»Aber Marianne …« Ihre Stimme klang jetzt weniger forsch.
»Ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Ich tue doch schon alles, ich arbeite hart, versuche freundlich zu sein, ich bezahle eine horrende Miete für diese bescheuerte Wohnung. Und wozu das alles? Wo liegt da der tiefere Sinn?«
Sheila konnte mir darauf auch keine Antwort geben. Um drei Uhr morgens, als ich nicht mehr schlafen...