Vorwort zur Ausgabe 2009
Dieses Buch schrieb ich 1999. Habe ich ihm nach zehn Jahren Neues hinzuzufügen? Lange glaubte ich, alles Wichtige gesagt zu haben. Mein Tagebuch »Herbst ’89« enthält den Ablauf der Ereignisse, wie ich ihn erlebte. Mit zeitlichem Abstand gibt es zweifellos neue Erkenntnisse. Dennoch: Fakten sind Fakten. Ich will sie nachträglich weder korrigieren noch neu interpretieren. Es gibt schon genug Propheten, die von sich meinen, das Ende der DDR lange vorausgesehen zu haben. Glaubt man ihren Schilderungen, war ihnen auch schon immer klar, dass die DDR an sich selbst zugrunde gehen müsse. Ich hatte solche Ahnungen nie. Ich will auch rückblickend nicht so tun, als kenne ich schon alle Ursachen, die dazu geführt haben, dass es den ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden nicht mehr gibt.
Dass die DDR nur an sich selbst gescheitert sein soll, ist weder ganz richtig noch ganz falsch. Verschwunden von der politischen Landkarte ist ja nicht nur unser Staat. Er war Teil eines Ganzen. Untergegangen ist ein Sozialismusmodell, das vom Stillen Ozean bis an Elbe und Werra reichte. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten erreichten in der Auseinandersetzung beider Gesellschaftssysteme nicht das für ihren Sieg notwendige Niveau der Arbeitsproduktivität. Sie hatten sich beim aufgezwungenen Wettrüsten übernommen. Sie verloren den Kalten Krieg gegen die USA und ihre Alliierten. Seit ihrer Gründung war das Schicksal der DDR auf das engste mit dem der UdSSR verbunden. So auch in der Niederlage.
Für den Untergag der DDR gibt es einen großen Komplex von Ursachen: subjektive wie objektive, nationale wie internationale, historische wie damals aktuelle, ökonomische wie ideologische, politische wie theoretische, vermeidbare wie unvermeidbare, hausgemachte wie ferngesteuerte. Viele von ihnen gehen weit vor das Jahr 1989 zurück und über die Grenzen der DDR hinaus.
Ich möchte das Ursprüngliche meines Buches erhalten und die Dramatik jener Herbstmonate in ihrer Widersprüchlichkeit in Erinnerung rufen. Deshalb habe ich an meinem Text aus dem Jahre 1999 nichts verändert.
Wenn ich dennoch dem Vorschlag des Verlages folge, der Neuauflage dieses Buches ein ausführliches Vorwort voranzustellen, hat dies viel mit dem Jubiläumsjahr 2009 zu tun. Eine Allianz aus Politikern, systemtreuen Historikern und ebensolchen Journalisten, vermeintlichen oder tatsächlichen DDR-Oppositionellen aktiviert stabsmäßig uralte Feindbilder und Klischees über die DDR. Neu daran ist nur: Sie übertreffen an Gehässigkeit und Falschheit noch jene aus den finsteren Jahren des Kalten Krieges. Die Geschichte der Bonner Republik wird als Erfolgsstory, gewissermaßen als Garten Eden auf Erden, die der DDR als Verkörperung des Bösen, quasi als Hölle, dargestellt. So war die deutsche Nachkrieggeschichte nun wahrlich nicht. Die Propagandisten dieses absurden Geschichtsbildes merken allerdings, dass sie die Deutungsschlacht darüber, was die DDR geschichtlich war, noch lange nicht gewonnen haben.
Das macht sie einerseits nervös und anderseits so blind, dass sie den Blick für historische Realitäten gänzlich zu verlieren scheinen.
»Zum 20. Jahrestag der Wende«, tönte es kürzlich über verschiedene Fernsehkanäle, müsse ich endlich »Zeugnis ablegen von der DDR«. Sorgfältig kann die Recherche der Berichterstatter nicht gewesen sein. Sonst hätten sie mein Zeugnis von der DDR kennen müssen. Ich rede und schreibe über sie, wie sie war, mit ihren Stärken und Schwächen, ihren Höhen und Tiefen, ihren Erfolgen und Niederlagen. Auch in diesem Buch. Ebenso in meinen »Gefängnisnotizen«, den »Widerworten« und in »Briefe und Zeugnisse«. Im Vergleich zu Schabowski, meinte der Chefreporter eines norddeutschen TV-Senders, hätte ich aber die entscheidende Frage noch nicht beantwortet. Welche denn? Mich von der DDR, die mein Leben war, zu distanzieren? Daraus wird nichts! Denunzieren werde ich nichts und niemanden. Ich gehöre nicht zu jenen, über die schon Wilhelm Busch gesagt hat: »Das sind die Praktiker dieser Welt, die über Nacht sich umgestellt, die sich zu jedem Staat bekennen, man könnte sie auch Lumpen nennen.«
Einsichten über unsere Fehlentwicklungen? Ja, die habe ich, wie auch dieses Buch zeigt. Ich möchte nämlich, dass die Enkel es einmal besser machen als wir.
Was ich allerdings vermisse, ist das Zeugnis bundesdeutscher Politiker, die Ostdeutschland deindustrialisiert, Millionen DDR-Bürger in die Arbeitslosigkeit geschickt und die DDR-Intelligenz faktisch enthauptet haben. Deutschland ist wirtschaftlich und sozial weiterhin dort geteilt, wo einst die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten verlief. Was nach Willy Brandt eigentlich zusammenwachsen sollte, gehört noch lange nicht zusammen. Und das nach fast zwanzig Jahren! Statt permanent frühere DDR-Bürger aufzufordern, Rechenschaft über ihr »falsches Leben in der Diktatur« zu geben, ist es höchste Zeit, von den seit 1990 Verantwortlichen zu erfahren, wie sie über ihre Irrtümer und Fehler denken, die viele Ostdeutsche zu Bürgern zweiter Klasse gemacht haben. Und: Wie sie diese korrigieren wollen?
Wenn ich in diesen Tagen Radio höre, fernsehe oder Zeitung lese, scheint mir: keine bürgerliche Gazette, kein Radio- und kein Fernsehprogramm ohne DDR-Miesmache! Mehr noch: Inzwischen soll die DDR auch an den schwarzen Flecken auf der angeblich weißen Weste der alten Bundesrepublik schuld sein. Schon tauchen Forderungen auf, Teile der BRD-Geschichte neu zu schreiben. Das passt zu der gängigen Unterstellung, alles Unglück im Nachkriegsdeutschland habe allein die DDR zu verantworten. Die »heilige Hetzjagd« gegen das »Gespenst des Kommunismus«1, die man schon zu Zeiten von Karl Marx und Friedrich Engels kannte, hat hier und heute Hochkonjunktur. Die Schmähung von Linken gehört seit jeher zum politischen Geschäft der bürgerlichen Parteien. Die DDR war 1949 noch nicht einmal gegründet, die Liste ihrer vermeintlichen Verbrechen noch nicht aufgestellt, da legte man in Bonn schon fest: Der ostdeutsche Staat ist ein »Unrechtsstaat«.
Als das Grundgesetz der BRD vorbereitet wurde, verkündete einer seiner Väter, »alles Gebiet außerhalb der Bundesrepublik sei als Irredenta«2 anzusehen, »deren Heimholung mit allen Mitteln zu betreiben wäre«. Wer sich dem nicht unterwerfe, sei »als Hochverräter zu behandeln und zu verfolgen«3. Dem entsprechend erklärte Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung am 21. Oktober 1949, die Bundesrepublik sei »die alleinige legitimierte staatliche Organisation des deutschen Volkes«. Nur sie sei »befugt, für das ganze deutsche Volk zu sprechen«.4 Was war das, wenn nicht eine Ausgrenzung der Ostdeutschen? Oder klarer gesagt: Das war die erste regierungsamtliche Abgrenzung der BRD von der DDR.
Was soll der kleine Staat zwischen Oder und Elbe seit dem nicht alles gewesen sein? »Vasallenstaat«, »Zonenstaat«, »Kremls Sprachrohr«, »KZ-Staat«, »Mauer- und Polizeistaat«, »SED-Diktatur«, »Gänsefüßchenland« und natürlich »Unrechtsstaat«: muffig und eng, bösartig und spießig, rechtlos und willkürlich, unfrei und eben diktatorisch …
Die DDR musste sich von Anfang an nicht nur gegen solche Verleumdungen behaupten. Sie war zudem einem rücksichtslosen Wirtschaftskrieg ausgesetzt: Währungsreform, Embargo, Kündigung von Handelsabkommen, Boykott auf dem internationalen Parkett, Abwerbung von Facharbeitern und Spezialisten, eingeschlossen Menschenhandel, Spionage und Sabotage. Ihre Gegenwehr wurde der DDR als Verletzung von Menschenrechten angelastet, während jede Tat gegen sie in den westlichen Medien als Freiheitskampf hochgejubelt wurde. Jede Überspitzung, die uns im Kampf um unsere Selbstbehauptung unterlief, wurde hemmungslos aufgeblasen und gnadenlos ausgenutzt. Wie heißt es doch bei Tucholsky: »Man fällt nicht über seine Fehler. Man fällt immer über seine Feinde, die diese Fehler ausnutzen.«5
Das alles ist nicht neu. Schon an der Wiege des bundesdeutschen Staates stand jene Arroganz gegenüber der DDR, die uns in der gegenwärtigen Propaganda über das Jahr 1989 täglich begegnet. Das Besondere ist, dass die Angriffe im Jubeljahr so überzüchtet sind, dass sich der Eindruck aufdrängt: Die Bundesrepublik wird mit dem politischen Erbe der DDR nicht fertig. Dabei ist der Staat, der verteufelt wird, nicht mehr da. Er kann sich nicht mehr wehren. Die Meinungsmacher verfügen über Aktenbehörden, die mit oder ohne Bestellung zeit- und themengerecht MfS-Dossiers liefern. Selbst wenn darin Wahrheiten enthalten sind, werden diese geschichtslos präsentiert, ihres nationalen und internationalen Umfeldes entkleidet und reißerisch aufgemacht. Es wird verdrängt, dass beide deutsche Staaten von 1949 bis 1989 im erbitterten Krieg standen. Krieg? Ja, ein kalter zwar, doch immer auch am Rande einer atomaren Katastrophe. Statt sich zu freuen, dass aus dem kalten kein heißer Krieg wurde, hat sich die politische Elite der alten Bundesrepublik dafür entschieden, alles Ungemach der Spaltung Deutschlands allein der DDR anzulasten.
Nach nunmehr fast zwei Jahrzehnten ist es wohl mehr als berechtigt zu fragen: Wann endlich werden auch die Akten des BND, des Verfassungsschutzes oder anderer Geheimdienste geöffnet? Wann erfahren frühere DDR-Bürger, was in Bonn hinter den Kulissen gegen sie gelaufen ist? Wann können die ostdeutschen Opfer in ihren westlichen Akten nachlesen, wer sie bespitzelt hat? Wann wird veröffentlicht, welche bundesdeutschen Politiker und Journalisten, die in der DDR tätig waren, auf den Gehaltslisten ihrer Geheimdienste standen? Wann erfahren wir Namen und Adressen von...