[1] Casa Camuzzi [2] Kapelle des San Nazzaro [3] Grotti im Wald [4] Viglio mit Kapelle des San Giovanni Evangelista [5] Agnuzzo, ehemaliges Wohnhaus von Emmy Ball-Hennings und Hugo Ball [6] Kirche Sant'Andrea (zurück bis zu den Grotti wie Hinweg) [7] Friedhof Sant'Abbondio mit Grab von Ninon und Hermann Hesse [8] Kirche Sant' Abbondio
Diesen Spaziergang nach Agnuzzo hat Hesse zwischen 1920 und 1927 viele Male unternommen, denn dort lebten Hugo Ball (1886-1927) und seine Ehefrau Emmy Ball-Hennings (1885-1948) ab August 1920, mit Unterbrechungen, bis kurz vor Hugo Balls Tod im Jahre 1927. Später wohnte seine Witwe zeitweise wieder in Agnuzzo. Auf dem Weg dorthin kam Hermann Hesse an den Häusern einiger seiner Freunde und Bekannten vorbei, die in diesem Kapitel ebenfalls vorgestellt werden.
Exkurs: Hugo Ball und Emmy Ball-Hennings
Hugo Ball wuchs in der süddeutschen Stadt Pirmasens in einem katholischen Elternhaus auf. Nach einem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie, welches er nicht abschloß, wurde Ball Schauspielschüler am Deutschen Theater Berlin und arbeitete ab 1912 als Dramaturg bei den Münchner Kammerspielen. 1914 kehrte er nach Berlin zurück, wo er sich für expressionistische Kunst und die literarische Avantgarde engagierte und in mehreren Zeitschriften veröffentlichte. Ein Jahr später emigrierte er mit Emmy Hennings, die er in München kennengelernt hatte, nach Zürich. Emmy Hennings hatte eine wechselvolle Geschichte hinter sich: In Flensburg geboren und aufgewachsen, verdingte sie sich zunächst als Dienstmädchen. Nach einer gescheiterten Ehe, aus der die Tochter Annemarie (1906-1987) hervorging, arbeitete sie als Theater-Schauspielerin, Diseuse, Animiermädchen, Hausiererin und Prostituierte. Ab 1910 war Emmy Hennings für zahlreiche Künstler Muse, Geliebte und Modell; gleichzeitig begann sie, Morphium und Opium zu konsumieren. 1911 konvertierte sie zum katholischen Glauben und fing an, als Diseuse in der Münchner Künstlerkneipe »Simplicissimus« zu arbeiten. Zwei Jahre später wurde ihr erster Gedichtband Die letzte Freude veröffentlicht, und kurz darauf verbrachte sie wegen kleinerer Vergehen zweimal mehrere Wochen im Gefängnis. Auch nach dem Umzug mit Hugo Ball nach Zürich änderte sich zunächst nichts an diesem Alltag aus Armut, Prostitution, Drogensucht und Tingeltangel. 1916 gründeten Emmy Hennings und Hugo Ball das »Cabaret Voltaire«, welches sich zum Ausgangspunkt der dadaistischen Bewegung entwickelte. Ein Jahr später organisierte Ball zusammen mit Tristan Tzara die »Galerie Dada«, in der Künstler wie Paul Klee, Wassily Kandinsky, Hans Arp und August Macke ausstellten. Emmy Hennings und Hugo Ball traten im Cabaret Voltaire auf und bestritten auch Soireen in der Galerie Dada. 1918 und 1919 erschienen Hugo Balls Romane Flametti oder Vom Dandysmus der Armen und Kritik der deutschen Intelligenz, Emmy Hennings veröffentlichte Gefängnis (1919) und Das Brandmal (1920). Immer wieder unternahmen die beiden Künstler von Zürich aus Reisen ins Tessin. 1920 heirateten sie in Bern und zogen im August nach Agnuzzo, nachdem Hugo Ball sich endgültig und radikal dem Katholizismus zugewandt hatte. Im Tessin waren beide weiter schriftstellerisch tätig und publizierten verschiedene Werke, darunter Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben (1923) und Die Flucht aus der Zeit (1927) von Hugo Ball und Der Gang zur Liebe (1926) und Hugo Balls Weg zu Gott (1931) von Emmy Ball-Hennings. Hugo Ball starb 1927 an einer Krebserkrankung. Seine Witwe lebte bis zu ihrem Tod 1948 in verschiedenen Dörfern im Tessin, unter anderem auch in Agnuzzo.
1919 fand Hermann Hesse in der Casa Camuzzi eine Wohnung im ersten Stock des Nordflügels, bestehend aus vier Zimmern und einer Sonnenterrasse. Die Besitzerin Margherita Camuzzi vermietete die Wohnung, die sich in schlechtem Zustand befand, recht günstig. Ein Glücksfall für den mittellosen Hermann Hesse. In diesem Haus schrieb er nicht nur die Werke Klein und Wagner, Klingsors letzter Sommer, Siddhartha und Narziß und Goldmund, sondern auch zahlreiche Betrachtungen und Gedichte.
Gartenseite der Casa Camuzzi, um 1900.
Hesse hatte schon ab 1916 im Rahmen einer Psychotherapie zu malen und zu zeichnen begonnen, und widmete sich nun in dieser Umgebung von intensiver Schönheit ernsthaft dem Aquarellieren. Jahre später erinnerte er sich an seinen ersten Sommer in diesem Haus: »[…] als Gnade vom Himmel kam hinzu ein Sommer, wie ich nur sehr wenige erlebt habe, von einer Kraft und Glut, einer Lockung und Strahlung, die mich mitnahm und durchdrang wie starker Wein. Das war Klingsors Sommer. Die glühenden Tage wanderte ich durch die Dörfer und Kastanienwälder, saß auf dem Klappstühlchen und versuchte, mit Wasserfarben etwas von dem flutenden Zauber aufzubewahren; die warmen Nächte saß ich bis zu später Stunde bei offenen Türen und Fenstern in Klingsors Schlößchen und versuchte, etwas erfahrener und besonnener, als ich es mit dem Pinsel konnte, mit Worten das Lied dieses unerhörten Sommers zu singen.«1
Der größte Raum der Wohnung verfügte über einen Balkon, der über einem wunderschönen, halb verwilderten, terrassierten Garten schwebte, und war als einziger mit einem Kamin, der allerdings schlecht funktionierte, beheizbar. Im Herbst wurde dies mit den sinkenden Temperaturen zum Problem. Ab Oktober 1919 stand Hesse glücklicherweise, dank der Spende seines Gönners Georg Reinhart aus Winterthur, ein kleiner Ofen zur Verfügung, von ihm liebevoll »Francolino«2 genannt: »[…] mehrmalige neue Versuche mit dem Kamin machten mir stets nur die Bude voll Rauch, der Maurer kam zum Reinigen und blieb darin stecken, man mußte die Mauer aufbrechen. Nun aber habe ich endlich Heizmöglichkeit, keinen eigentlichen Ofen, sondern etwas zwischen Ofen und Kamin, was man hier drolligerweise ›Franklin‹ heißt. Er braucht lächerlich viel Holz, und das Holz ist lächerlich teuer – aber schließlich bezahlt man Wärme und Arbeitsmöglichkeit nie zu teuer.«3
Hermann Hesse und Ninon Dolbin vor der Casa Camuzzi, 1929.
Für Hermann Hesse wurde dieses »schöne, wunderliche Haus«4 die nächsten zwölf Jahre sein neues Zuhause, ein Ort der Inspiration, das von all seinen Wohnstätten am meisten geliebte Haus: »Mein Palazzo, Imitation eines Barock-Jagdschlosses, der Laune eines Tessiner Architekten vor etwa fünfundsiebzig Jahren entsprungen, hat außer mir noch eine ganze Reihe von Mietern gehabt, aber keiner ist so lange geblieben wie ich. Aus einer ungewöhnlich üppigen und munteren Baulust entstanden, im lustvollen Überwinden großer Terrainschwierigkeiten, hat dieser halb feierliche, halb drollige Palazzo ganz verschiedene Ansichten. Vom Portal des Hauses führt pompös und theatralisch eine fürstliche Treppe hinab in den Garten, der in vielen Terrassen mit Treppen, Böschungen und Mauern sich bis in eine Schlucht hinab verliert und in dem alle südlichen Bäume in alten, großen Prachtexemplaren vorkommen, ineinander verwachsen, von Glyzinen und Clematis überwuchert. Für das Dorf selbst liegt das Haus fast ganz verborgen. Aus dem Tale unten sieht es, mit seinen Treppengiebeln und Türmchen über stillen Waldrücken hervorschauend, ganz wie das ländliche Schloß einer Eichendorff-Novelle aus. […] hier hatte ich viele Jahre der tiefsten Einsamkeit genossen, und auch an ihr gelitten, hatte viele Dichtungen und Malereien gemacht, tröstende Seifenblasen, und war mit allem so verwachsen, wie ich es seit der Jugend mit keiner andern Umgebung gewesen war.«5
Der Architekt hieß Agostino Camuzzi (1808-1870) und gehörte zu den zahlreichen Tessinern, die als Baumeister oder Stukkateure im 19. Jahrhundert ihren Kanton verließen, um im Ausland, vorwiegend in Rußland, zu wirken. Nach mehr als 25 Jahren kehrte Camuzzi in sein Heimatdorf Montagnola zurück und baute seine aus dem 17. Jahrhundert stammende Familienresidenz zu dem heutigen Palazzo um, der vor allem durch seine bizarren Formen, die unterschiedlichen Fenster und die auffälligen Verzierungen hervorsticht.
Zu den anderen Bewohnern der Casa Camuzzi gehörten der Maler, Grafiker und Illustrator Gunter Böhmer, der Maler Hans Purrmann sowie der Schriftsteller, Dramatiker und Maler Peter Weiss, die jedoch erst nach Hermann Hesses Umzug in die Casa Rossa nach Montagnola kamen.