2.
METHODE
Augen- und Ohrenzeugen
Herodot: Herodot und Thukydides haben gemeinsam, daß sie weitestgehend auf schriftliche Quellen verzichten mußten, dieser im gesamten Werk, jener im historischen Hauptteil. Thukydides besaß den Atthidographen Hellanikos und Herodot. Dieser zitiert ausdrücklich Hekataios, kannte aber die Epen Homers, die Dichtungen von Pindar, Bakchylides, Sappho und Stesichoros, die Dramen des Aischylos. Er studierte Urkunden, Inschriften, Orakelsammlungen. Von der Benutzung weiterer (mutmaßlicher) Zeitgenossen wie Ion von Chios, Stesimbrotos und Xanthos kann sich die Forschung kein Bild machen, denn diese sind bis auf Fragmente verloren. Ungeachtet dessen waren seine Hauptquellen mündlicher Natur. In den ethnographischen Logoi erzählt Herodot Geschichte, «wie er sie hörte». Oft läßt er aber den Ursprung seiner Informationen im Ungewissen, indem er nur davon schreibt, er habe etwas gehört oder erfahren, die Rede sei von irgendetwas oder es werde erzählt, berichtet, gesagt. Auch Einzelpersonen werden genannt, anonym, wie der Schreiber der Tempelschätze der Athena in Sais (2.28.1) oder ein Fremdenführer der Cheopspyramide (2.125.6), oder auch mit vollem Namen (4.76.6, 8.65.6). Letzteres, fingiert oder real, dient wohl dazu, die Authentizität der Geschichte zu bekräftigen. Oft stieß Herodot dabei auch auf Widersprüche. Sie aufzulösen überläßt er entweder dem Leser oder versucht selbst eine Erklärung wie im Falle des berühmten Mischkruges der Lakedaimonier, der so groß war, daß er 300 Amphoren faßte. Die Lakedaimonier hatten ihn als Dank für König Kroisos anfertigen lassen, weil er sie (angeblich) allen anderen Griechen vorzog. Der Krug gelangte allerdings nie an sein Ziel in Sardes, und im Hinblick auf den Grund dafür lagen Herodot zwei unterschiedliche Berichte vor: Die Lakedaimonier behaupteten, die Samier hätten ihn, als das Transportschiff an ihrer Insel vorbeikam, geraubt. Die Samier konterten, die Lakedaimonier hätten den Krug zu spät abgesandt, denn noch vor der Ankunft der Boten in Kleinasien sei gemeldet worden, daß Sardes erobert und Kroisos gefangen worden sei. So hätten diese den Krug in Samos feilgeboten, wo ihn einige Bürger gekauft und dem Heratempel gestiftet hätten. Dazu findet Herodot dann den Kompromiß, der beide Versionen als (halb)richtig erweist: Möglich sei auch, schließt er, daß die Boten ihn wirklich verkauft und später in Sparta gesagt hätten, er sei ihnen geraubt worden. (1.70)
Umgekehrt beruft sich Herodot – wie im Falle des Sängers Arion (1.23), der schiffbrüchig von einem Delphin gerettet wurde – auf ein zweites Zeugnis, um das erste zu beglaubigen. Er erfuhr die Geschichte von den Korinthern, und diese wurde ihm nach seiner Darstellung von den Bewohnern von Lesbos, der Heimatinsel des Arion, bestätigt.
Gelegentlich wagt Herodot es auch, Dinge zu erzählen, die jenseits seiner Erfahrungen – das häufigste Kriterium der Kritik – lagen, weil er sie für interessant hielt, und das, was über seinen Verstand ging, nicht über den anderer gehen mußte. Das bekannteste Beispiel liefert sein Bericht über die Umsegelung Afrikas unter dem ägyptischen Pharao Necho (610–595 v. Chr.) in 4.42. Die Phoiniker seien vom Roten Meer aus zunächst längs der afrikanischen Ostküste gefahren, dann um die Südspitze Afrikas gebogen, längs der afrikanischen Westküste gesegelt und schließlich durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer und nach Ägypten zurückgekehrt. Herodot fügt hinzu: «und sie haben etwas erzählt, was ich zwar nicht recht glauben kann, aber vielleicht ein anderer, nämlich sie hätten, als sie um Libyen herumbogen, die Sonne zur Rechten gehabt.»
Herodot beruft sich bei seinen Berichten auf Gewährsleute, die das, was sie berichteten, ihrerseits nur gehört hatten, also keine Augenzeugen waren. Augenzeugen gab es noch für die Zeit der Perserkriege, doch die Erinnerung der Einzelnen war von Geschichten überlagert, welche die Helden schon in dem Augenblick erfanden, als sie das Schlachtfeld verließen. So terrorisierten die Marathonomachai (Marathonkämpfer), wie der Komödiendichter Aristophanes vermuten läßt, über sechs Jahrzehnte lang ihre Mitbürger mit ihren Heldentaten.
Das Problem der Zeit, welche die Erinnerung verfälschte, war Herodot bewußt. In der berühmten Geschichte vom Gastmahl des Attaginos, die Herodot selbst von einem Teilnehmer – sicherlich mindestens 40 Jahre nach dem Ereignis – gehört haben will, unterstreicht er die Authentizität der Aussage mit der Behauptung, sein Informant habe das, was er ihm erzählte, unmittelbar nach dem Gastmahl auch anderen berichtet (9.16). Je mehr Zeit verstrich, desto detaillierter und umfangreicher wurden die Schilderungen der Zeitzeugen, da sie Erinnerungen Anderer übernahmen und für eigene zu halten begannen. Herodot beruft sich daher in erster Linie auf Gruppen – das können Völker, Städte, Inseln oder Adelsfamilien sein –, von denen er etwas erfahren haben will. In den lokalen Überlieferungen wie denen der Korinther, Athener oder Spartaner verdichteten sich (allerdings im doppelten Sinn) die Erlebnisse der Einzelnen zu einer Gesamtschau. Der Wahrheitsgehalt nahm dabei nicht zu, doch wurde die Rekonstruktion des Geschehenen leichter. An Grenzen stieß Herodot, wenn es galt, verschiedene lokale Überlieferungen zu einer Darstellung zu vereinen. Die Widersprüche waren eklatant. Der Historiker wurde mit einer institutionell gewordenen Parteilichkeit konfrontiert. In jeder der am Perserkrieg beteiligten Poleis waren Überlieferungen entstanden, in denen die eigenen Taten herausgestellt und diejenigen der Nachbarstädte herabgesetzt wurden. Auch seine eigenen Landsleute, die Ionier, nimmt Herodot (6.14) nicht von der Kritik aus: «Als nun die Phoiniker zum Angriff vorgingen, setzten sich die Ionier auch ihrerseits in Bewegung. Sie stießen aufeinander, und es kam zum Kampfe, doch kann ich nicht mit Bestimmtheit angeben, welche ionischen Städte sich in dieser Seeschlacht feige und welche sich tapfer gezeigt haben. Eine beschuldigt die anderen.»
Herodots Glaube an den Augenzeugen nahm in dem Maße ab, in dem er sich mit dessen Aussagen ein Bild zu machen versuchte. Schließlich gesteht er, und zwar in der für Griechenland wichtigen Frage der argivischen Neutralität während der Perserinvasion, sein Scheitern ein. Die Argiver, Nachbarn und Feinde der Lakedaimonier, waren gemäß eigener Aussage nicht dem Bündnis gegen die Perser beigetreten, weil die Lakedaimonier ihrem Verlangen, einen dreißigjährigen Frieden zu schließen und die Führung unter den Peloponnesiern zu teilen, nicht nachgekommen waren. Die anderen Griechen sahen das anders. Danach hätten die Argiver Xerxes noch vor dessen Aufbruch versprochen, wohlwollende Neutralität (und zwar zu Gunsten der Perser) zu wahren. Die Aufforderung an die Spartaner, als Voraussetzung für eine gemeinsame Verteidigung die Führung des Peloponnesischen Bundes mit ihnen zu teilen, habe nur dem Zweck gedient, die schon länger beabsichtigte Neutralität zu verschleiern. Herodot glaubt den Argivern nicht, aber er glaubt auch nicht, das Recht zu haben, sie bloßzustellen: «Ob das wahr ist, ob Xerxes wirklich jenen Herold nach Argos geschickt hat und später die Argiver durch Boten jene Frage an Artaxerxes haben richten lassen, kann ich nicht entscheiden. Ich will keine andere Meinung darüber äußern als die Argiver selbst. Eines aber weiß ich: wenn alle Menschen ihre Leiden und Sünden einmal auf einen Fleck zusammenbrächten und jeder wollte andere für die seinigen eintauschen, so würde jeder, nachdem er seines Nachbarn Sünden geprüft, mit Freuden die seinigen, die er mitgebracht, wieder nach Hause tragen. Und so sind auch die Argiver noch nicht die ärgsten Sünder.» Der Entschuldigung für die Argiver läßt Herodot dann den berühmten Satz über seine Methode folgen, der in diesem Zusammenhang wie ein Stoßseufzer klingt: «Doch ist meine Pflicht, alles, was ich hörte, zu berichten, freilich nicht alles Berichtete zu glauben.» Und er fügt hinzu: «Diese Auffassung gilt für mein Gesamtwerk.» (7.152.3)
Das ist der Abgesang auf den Augenzeugen, den Herodot schließlich sogar zum Gespött macht. Die berühmte Geschichte, in der Artemisia, die Königin von Halikarnassos, zur Heldin der Schlacht von Salamis aufsteigt (S. 153f.), ist vor allem auch eine Persiflage des Augenzeugen, denn sie wird nur möglich, weil gerade diejenigen, die hinsehen, nicht sehen, was sie sehen. Der athenische Verfolger erblickt in Artemisias Schiff plötzlich ein eigenes und der Großkönig im eigenen plötzlich ein feindliches. Feinde werden dem Augenzeugen zu Freunden, Freunde zu Feinden. Aus Niederlagen macht er Siege, aus Siegen Niederlagen. Das erste Auftreten des Augenzeugen in der abendländischen Geschichte hätte auch sein letztes sein müssen.
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Thukydides: Das Debakel des Augenzeugenberichtes verlangte historiographische Konsequenzen. Thukydides zieht sie. Die erste ist, daß er keinen einzigen Informanten mehr nennt. Alle...