II. PHILIPP II. UND ALEXANDER ALS WEGBEREITER DER HELLENISTISCHEN HERRSCHAFTEN
1. Die Neubegründung des makedonischen Königtums unter Philipp II. (359–346 v. Chr.)
Makedonien hatte bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. am Rande der griechischen Welt gelegen und überregional in machtpolitischer Hinsicht keine sonderlich wichtige Rolle gespielt. Die Dynastie der Argeaden, die sich ihrer Herkunft aus dem griechischen Argos rühmte, hatte das Königtum für sich monopolisiert und wurde durch die Heeresversammlung formal bestätigt. Mächtige, weitgehend autonom agierende Lokalherrscher standen an der Seite des Königs und bildeten mit ihren Gefolgschaften das militärische Aufgebot, das der Herrscher anführte. Ob Grundbesitzer, Bauer oder Stadtbewohner – jeder war dem König persönlich zur Heeresfolge verpflichtet.
Die führende Schicht bildete kein ländlicher Kriegeradel, wovon man lange Zeit ausging, sondern bestand aus den führenden Männern, die in den Städten Makedoniens lebten; obgleich urban geprägt, verfügten sie über ausgedehnten Grundbesitz auf dem Land und fanden aus ihren Gemeinden den Weg an den Königshof. Auch in den Städten, die seit dem Herrschaftsantritt Philipps II. neu hinzugewonnen worden waren, bildeten rasch Makedonen die lokale Führungsschicht. Die eine Hälfte dieser Reichselite stammte aus Altmakedonien, die andere aus Obermakedonien und aus den neuen Gebieten wie Pydna und Pella. Die Kavallerie – und damit der Kreis der sogenannten Gefährten (hetaîroi) – Philipps II. rekrutierte sich aus etwa 1000 bis 2000 Familien. Die Stärke der makedonischen Armee beruhte vornehmlich auf der Phalanx, die etwa 20.000 (Voll-)Bürgersoldaten im Alter zwischen 15 und 50 Jahren umfasste, deren Wehrfähigkeit auf einem Zensussystem mit einer recht hohen Vermögensgrenze basierte: Das Ephebarchengesetz von Amphipolis nennt ein Vermögen von 30 Minen (= 3000 Drachmen oder ein halbes Talent) als Voraussetzung für die Teilnahme an der lokalen Ephebie – der militärischen Ausbildung der jungen Männer. Das Aushebungspotential dürfte demnach bei vorsichtiger Schätzung bei 35.000 wehrfähigen Makedonen gelegen haben.
Seit Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. suchten die makedonischen Könige den Kontakt zur griechischen Kultur: So war es, um nur die herausragenden Manifestationen dieser Bemühungen zu nennen, Alexander I. (497–454) gelungen, erstmals an den Olympischen Spielen teilzunehmen, und Archelaos (413–399), der das Heer grundlegend reformiert, den Handel belebt und die Residenz der makedonischen Könige von Aigai nach Pella verlegt hatte, lockte zahlreiche berühmte griechische Künstler und Gelehrte an die neu begründete makedonische Residenz.
Die räumliche Verlegung des Hofes vermochte jedoch nicht die innermakedonischen Machtkämpfe einzudämmen. Der Herrschaftsantritt eines neuen Königs blieb weiterhin schwierig und konnte blutig verlaufen: Amyntas III., der Sohn des Arrhidaios und Vater Philipps II. (der später Makedonien zu ungeahnter Größe verhelfen sollte), ermordete eigenhändig Pausanias, den Sohn des Archelaos I. Danach brachte Derdas, der Führer der obermakedonischen Elimioten und Schwiegersohn des Archelaos I., Amyntas II. den Kleinen, den jüngeren Sohn seines Schwiegervaters, um und entriss so endgültig der Familie des Archelaos die Königsherrschaft. Durch diese Gewalttat war der Königsthron auf die andere Linie der Nachfahren Alexanders I. übergegangen (s. die Liste der makedonischen Könige am Ende des Bandes).
In seiner langjährigen Herrschaft (393–370) erreichte Amyntas III. vorübergehend eine außen- und innenpolitische Stabilisierung Makedoniens. So verstand er es, Einfälle und Plünderungen der Illyrer um den Preis von Tributzahlungen zumindest für die Dauer seiner Herrschaft zu unterbinden. Des Weiteren schätzte und pflegte er Freundschaft mit den Thessalern, die ihn unterstützten. Eine Ehe mit Eurydike, der Tochter des führenden Mannes der Lynkestis, einer Region in Obermakedonien, sicherte die Ruhe in diesem Landstrich. Mit Derdas, dem Führer der in Nordgriechenland ansässigen Elimioten, besaß er darüber hinaus einen ebenso langjährigen wie treuen Kampfgefährten. Schließlich gewann er durch territoriale Zugeständnisse die Stadt Olynth und den Chalkidischen Bund als weitere Bündner.
Nach dem Tod Amyntas’ III. (370) aber stellte sich das alte Übel der makedonischen Monarchie erneut ein: Bis 359, dem Herrschaftsantritt Philipps II., wechselte die Königsherrschaft mehrmals: Auf Amyntas folgte sein ältester Sohn Alexander II. (370–368). Ihm gelang es mit Hilfe des athenischen Strategen Iphikrates, Pausanias von Aloros, der sich gegen ihn erhoben und sogar kurzzeitig die Königsstadt Pella in seine Gewalt gebracht hatte, zu vertreiben und das verlorengegangene Amphipolis zurückzuerobern. Anschließend wurde ihm allerdings die falsche Parteinahme im thessalischen Bürgerkrieg zum Verhängnis: Nachdem Alexander II. eine Besatzung in Larissa zurückgelassen hatte, fühlte sich die Stadt Theben in ihren Machtansprüchen bedroht. Der thebanische Feldherr Pelopidas zog daraufhin mit einem Heer nach Thessalien, zwang Alexander II. dazu, die Garnison aus Larissa abzuziehen, das Bündnis mit Athen zu beenden und 30 Geiseln zu stellen – darunter Philipp II., seinen jüngsten Bruder. Zudem ergriff Theben offen Partei zugunsten von Ptolemaios von Aloros.
Wenig später (368) nutzte dieser Ptolemaios ein großes Fest, um Alexander II. umzubringen. Perdikkas III. war der nächstältere Sohn Amyntas’ III.; da er jedoch zu dieser Zeit noch minderjährig war, wurden die Regierungsgeschäfte einem Vormund übertragen, eben jenem Ptolemaios von Aloros, dem Mörder von dessen Bruder, dem sich freilich auch die Königswitwe Eurydike zugetan zeigte.
Nichts zeigt deutlicher als diese heikle Einsetzung, wie sehr Makedonien zu jener Zeit vom Willen Thebens abhängig war. Seine Regentschaft von Thebens Gnaden konnte Ptolemaios freilich nicht allzu lange genießen; denn bereits drei Jahre später, als Perdikkas III. die Volljährigkeit erreicht hatte, wurde auch er ermordet.
Der Zeitpunkt der Ermordung des Ptolemaios war von Perdikkas III. klug gewählt: Die militärischen Kräfte Thebens bzw. des Boiotischen Bundes, von dem man durchaus eine Intervention hätte erwarten können, waren damals vor allem in Thessalien gebunden, nachdem sich dort Alexander von Pherai zum Tagos – dem Anführer des Thessalischen Bundes – erhoben und die Thebaner 364 besiegt hatte. Anstelle der Thebaner traten nun die Athener, die zuvor noch Verbündete Alexanders II. gewesen waren, als neue Gegner Makedoniens auf. Sie erhoben traditionell Ansprüche auf das makedonische Küstengebiet und auf die Chalkidike; jetzt nutzten sie das Machtvakuum, das den Niedergang der thebanischen Hegemonie hinterlassen hatte, und brachten die griechischen Städte Poteidaia, Methone und Pydna wie zur Zeit des Ersten Attischen Seebundes (478–404) wieder unter ihre Herrschaft.
Gegen diese athenische Expansion konnte Perdikkas III. (365–359) nichts ausrichten, da er seinerseits in schwere Abwehrkämpfe mit den Thrakern im Norden und Osten und mit den Illyrern im Westen verwickelt war. Die letztgenannten Illyrer von seinem Territorium fernzuhalten bereitete schon Arybbas, dem König des in Epeiros führenden Stammes der Molosser, große Schwierigkeiten; bald war auch der makedonische Nachbar bedroht. Nach dem Tod von Amyntas III. fühlte sich der Illyrerfürst Bardylis nicht mehr an die noch mit dem verstorbenen König getroffene Vereinbarung gebunden und drang von Norden in makedonisches Territorium ein. Es kam zu einer großen Schlacht gegen die Illyrer, in welcher der König und mehr als 4000 weitere Makedonen getötet wurden.
Mit dem Tod des Perdikkas III. hatte Makedonien gleich an vier Fronten zu kämpfen, es war mehr oder weniger eingekreist: von den Illyrern im Nordwesten, von den Paioniern im Norden (mit Bylazora, später Stoboi am Axios als Hauptort), von den Thrakern im Osten und den griechischen Städten der Chalkidike und den mit ihnen verbündeten Athenern an der Küste im Südosten.
So verzweifelt auch die außenpolitische Lage war, so gestaltete sich die innenpolitische kaum besser. Drei Thronanwärter standen bereit, die sich alle von unterschiedlichen auswärtigen Mächten Unterstützung erhofften, was die inneren Zwistigkeiten nur noch verschärfte. Immerhin stellte sich der Adel geschlossen hinter den letzten verbliebenen, dritten und jüngsten Sohn des Amyntas III. 359 empfing Philipp II. im Alter von 24 Jahren die makedonische Königswürde, nachdem er zuvor drei Jahre in Theben als Geisel verbracht hatte. Nichts gab Anlass anzunehmen, dass Makedonien in absehbarer Zeit der vielfältigen äußeren Bedrohungen Herr werden und zu dauerhafter innenpolitischer Stabilität finden könnte; erst recht war nicht an eine hegemoniale Stellung in Griechenland zu...