GESCHICHTEN UM DEN DUNKELFEIND
Am 5. Juni 1940 waren erste Brandbomben auf München gefallen. Ich war noch keine fünf Jahre alt. Ab 1942 wurden die Luftangriffe häufiger und zur ständigen Bedrohung für die Bevölkerung. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war der Zweite Weltkrieg auch in meiner Heimatstadt angekommen. Ende April 1945 flogen die Bomber zum letzten Mal über eine mittlerweile stark zerstörte Stadt hinweg. Die Flugzeuge der Alliierten kamen oft in der Nacht. Sie dröhnten über das verdunkelte München. Sie konnten unser Dasein auslöschen oder in eine Hölle verwandeln. Jedes Mal stand alles auf dem Spiel. Diese Luftangriffe gehören zu meinen frühesten Erinnerungen an die Kindheit.
Ich wurde in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren, im Münchner Stadtteil Maxvorstadt, der zwischen der Altstadt und dem Künstlerviertel Schwabing liegt. Meine Eltern lebten im dritten Stock eines Mietshauses in der Schraudolphstraße. Das Haus hatte ursprünglich den Eltern meiner Mutter gehört. Mein Großvater war Bäcker gewesen, ein rechtschaffener und fleißiger Handwerker, den seine Gutmütigkeit teuer zu stehen kommen sollte: Für einen Mehllieferanten hatte er Wechsel unterschrieben, die platzten. Er musste dann mit fast seinem gesamten Vermögen dafür haften. Dadurch geriet meine Großmutter nach seinem Tod im Jahre 1917 in wirtschaftliche Not. Am Ende blieb ihr nichts anderes übrig, als das Haus 1923, im Jahr der Hyperinflation, für viele Milliarden Mark zu verkaufen, um die Familie auf diese Weise über jene schwierige Zeit zu retten. Die Käuferin des Hauses war eine Mieterin, zu der meine Eltern ein gutes Verhältnis hatten und die auf diesem Weg zu unserer Vermieterin geworden war.
Mein Vater hatte ebenfalls das Bäckerhandwerk erlernt, auch er war der Sohn eines Bäckermeisters. Eine Handverletzung, die er sich im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte, zwang ihn dazu, seinen geliebten Beruf für immer aufzugeben. Er war ein großartiger Bäcker gewesen und bekannt dafür. »Der Wiggerl, der hat die besten Semmeln gemacht …!«, schwärmten die Leute noch, da war der Vater längst schon Beamter bei der Bahn. Eine Tätigkeit, die er zwar tadellos ausführte, aber auch eine Tätigkeit, die ihm längst nicht die Erfüllung brachte, die ihm das Leben in der Backstube beschert hatte.
Als er meine Mutter kennenlernte – die schüchterne, aber selbstbewusste Pauline –, da übte der junge Ludwig Mitgutsch noch voller Überzeugung seinen Lehrberuf aus. Draußen vor den Toren der Stadt lag das Gelände des Bäckererholungsheims, das sogenannte Waldheim. Es wurde 1906 errichtet und diente ursprünglich als Ferienheim für Münchner Bäckerskinder. In den Jahren 1913 und 1914 kamen Übernachtungsmöglichkeiten dazu. »Von da an gehörte Lochham alljährlich während der Ferienzeit den Bäckerskindern«, heißt es in der Chronik des Heims. Aber auch Bäcker-Fachvereinler, Bäcker-Sänger und Bäcker-Kegler nutzten den Ort für ihre Veranstaltungen. An den Wochenenden traf sich die Bäckerjugend dort regelmäßig zum Tanz.
Und so kam es, dass meine Eltern in einer Sommernacht bei einem Tanzabend in Lochham aufeinandertrafen, sich ineinander verliebten und schließlich heirateten.
Sie sollten eine durchaus turbulente Ehe führen. So gütig meine Mutter war, so warmherzig und verzeihend, so dickköpfig konnte sie sein. Und der Vater stand ihr in dem Punkt nicht nach, auch er konnte ausgesprochen stur sein. Nicht selten kam es vor, dass die beiden nach einem Streit drei Wochen lang kein Wort wechselten. Das war angesichts der beengten Wohnverhältnisse äußerst unangenehm. In den kleinen Zimmern, in denen sich das Familienleben abspielte, herrschte dann dicke Luft. Der Vater saß da und schaute wie abgekoppelt vom Leben um ihn herum in seine Zeitung, nicht bereit, nachzugeben. Auch die Mutter ließ sich nicht erweichen, obwohl ihr das sonst nicht so schwerfiel. »Zwei richtig Büffelköpfige« seien sie – mit diesem schönen Ausdruck beschrieb mein Vater die Situation sehr treffend und nicht ohne einsichtigen Humor.
Unsere Wohnung war für mich eine uneinnehmbare Festung. Es gab eine Küche, in der sich das Familienleben vorrangig abspielte. Sie kam mir vor wie ein winziges Boot, um das herum das Weltmeer bedrohlich toste. Mächtige Wellen drohten über uns zusammenzuschlagen und uns alle in die Tiefe zu ziehen. Das durfte nicht passieren. Die Enge der Küche war auch mein großer Trost. An diesem Ort konnte uns nichts und niemand auseinanderreißen.
Auf dem geschenkten, winzigen Sofa durfte derjenige liegen, der krank war und besonderen Schutz brauchte. Gut aufgehoben und geborgen unter uns anderen. Gewärmt von der Liebe der Familie. Im Fieberwahn sah ich Unebenheiten, die auf mich zukamen. Sie waren nicht überwindbar. Hilflos und nass geschwitzt ruhte ich auf dem Sofa, erschöpft gestrandet auf dem geliebten Möbel. Die Schritte der Mutter kamen näher, sie streichelte meine Stirn, verschwand kurz und kam mit einem kalten feuchten Lappen zurück. Ihre Stimme flüsterte. Aber der Sinn ihrer Worte versiegte in den Galaxien der Fiebersonne. Die kleinen Gesten der Mutter, des Vaters und der Geschwister entwickelten sich zu einer großen Wohltat. Alles wurde am Ende wieder gut.
Aber das kleine Küchensofa diente auch anderen Zwecken. Erschien Besuch bei uns, verwandelte es sich in eine Theaterloge, in die wir Kinder uns alle hineinzwängten. Wir liebten es, Publikum zu sein, zuzuhören.
Auf der anderen Seite des Flurs ein Wohnzimmer, ferner ein Mädchenzimmer für meine Schwestern, ein Bubenzimmer für meinen Bruder und der Raum, in dem die Eltern schliefen. Ich, der kleine Ali, getauft auf den Namen Alfons, schlief ebenfalls im elterlichen Schlafzimmer. Ich war das jüngste Mitglied der Familie Mitgutsch, gut behütet von Vater, Mutter und drei deutlich älteren Geschwistern. Meine große Schwester war schon neunzehn Jahre alt, als ich 1935 geboren wurde.
Sobald die Luftschutzsirenen aufheulten, waren alle hellwach. Neben meinem Bett wartete ein kleines »Sackerl« auf mich, eine Art Rucksack, der sich oben zusammenbinden ließ, hauptsächlich gefüllt mit mir zugedachter Nahrung. Das Sackerl lehnte an dem Pappkoffer, der alles enthielt, was die Familie unbedingt retten wollte. Draußen herrschte frostiger Winter. Schlaftrunken richtete ich mich auf, stand auf wackligen Beinen, versank bis zu den Knien im wohligwarmen Federbett, weinte vergeblich gegen das Geheule der Sirenen an und wartete darauf, dass sich endlich jemand meiner erbarmte.
Meistens war das meine älteste Schwester. Sie packte mich in meine Hose ein, schüttelte meinen matten Kinderkörper mit kräftigem Rucken in das Kleidungsstück, bis sich alles ordnungsgemäß an die richtigen Stellen verteilt hatte. Wenn Arme und Beine ihren Platz gefunden hatten, erfolgte das dazugehörige Festzurren der Stoffhosenträger. Anschließend bekam ich das Sackerl in die Hand gedrückt und trottete den anderen hinterher.
Stufe für Stufe trampelten die Familie und all die anderen Hausbewohner das hölzerne Treppengebirge abwärts. Ein jeder schleppte schwer an seinem Gepäckstück, dabei war die unfreiwillige Reise nur kurz – so zumindest die Hoffnung aller.
Die Prozession fand erst einmal in den Kellergewölben des Hauses ein Ende. Was dann kam, wohin wir alle wirklich aufgebrochen waren, ob letztendlich wieder zurück in die Wohnung, in eine Notunterkunft oder gar in den gemeinsamen Tod, das lag nicht mehr in unserer Hand. Immerhin hatte man die Kellerwände zu den Nachbarhäusern aufgebrochen, um uns im Falle eines Bombentreffers mehrere Fluchtmöglichkeiten zu eröffnen.
Die schläfrige Schicksalsgemeinschaft sammelte sich, wie vom »Führer« befohlen. Die Hausgemeinschaft – egal ob Freund oder Feind – rückte in zunehmender Enge immer dichter zusammen. Die Luft zum Atmen verbrauchte sich schnell.
In dieser Gruft lauerte sie meistens schon, die Rotte der alten Frauen. Sie sahen brav und bieder aus und eigentlich ganz harmlos. Während die Flämmchen der Kerzen, die als Notleuchten dienten und die »Dunkelfeind« genannt wurden, tapfer vor sich hin flackerten, tränkten diese Frauen den Keller mit noch mehr Düsternis. Sie erzählten Schauergeschichten.
Sie kannten all die Toten, die Zusammenbrüche, die Gräueltaten und Zerstörungen. Sie schienen mehr zu wissen als wir anderen, sie schienen auf ihre eigene Art und Weise in all die Schrecken und all das Elend des Krieges eingeweiht. Sie schienen jedes Grauen ertragen zu können, ihnen machte keiner etwas vor. Nur zu gerne hätten sie die Geschicke der Menschheit gelenkt. Hatte das Publikum übermüdet und wehrlos endlich seine Plätze eingenommen, richteten sie alsbald ihre Gesichter auf uns, allen voran auf uns Kinder.
»Haben Sie’s schon g’hört?!«
Mit einem schweren Seufzer eröffnete die erste Norne den Austausch über die Neuigkeiten der Nacht, scheinbar nur die nächste Nachbarin meinend. Dieser vertrauliche Tonfall steigerte die Neugier unter den anderen Zuhörern nur umso mehr. Wir erwarteten die Wahrheit mit all ihrer Wucht.
»Drüben, beim ›Völkischen Beobachter‹ … wissen S’, gleich nebenan … in der Molkerei, da ist oben eine Luftmine rein, das ganze Gebäude ist danach in Schutt und Asche gelegen … aber vorher … vorher ist eine Brandbombe neig’fallen. Dadurch sind die aus der Molkerei alle verkocht. Alle. Kein Einziger von denen hat’s überlebt. Der Butter und das Fett in der Molkerei, das hat alles...