Kostprobe
Wenn einer richtig gute Geschichten zu erzählen hat, müsste es für mich noch nicht mal was zu essen geben. Obwohl ich für mein Leben gerne esse. Weiß jeder. Aber da könnte ich mich auch einfach dran satt hören.
Das steckt nicht nur in mir tief drin, glaube ich. Da sind wir wie du und ich. Da sind wir immer noch Neandertaler: Feuerchen machen, Fell untern Hintern schieben, Pfeifchen anzünden, und los geht’s. Da wird dann erzählt und geraucht und geraucht und erzählt, bis auch die Birne raucht. Wahre Geschichten, erfundene Geschichten. Wahre Geschichten, die man nicht besser hätte erfinden können. Und irgendwann fällt man dann voll mit Geschichten in Tiefschlaf, und selbst da … na, was wohl? Geschichten.
Oder das dicke, schwarze Buch mit der Goldkante, die Heilige Schrift, randvoll mit nix als Geschichten. Genesis (Jennesiss), die Schöpfungsgeschichte. Die Story, mit der alles anfing. Diese uralte Urgeschichte, nacherzählt vom alten Moses. Der erzählt, was Gott in sieben Tagen alles Dolles erschaffen hat. Sieben Tage und Nächte. Rund um die Uhr musste der ran. Der hatte noch keine Fünf-Tage-Woche. Gab ja auch noch keine Gewerkschaften weit und breit. Stattdessen kein Licht, demnach auch keinen Lichter, kein Wasser, kein Land, kein Himmel, keine Sterne, keine Tiere, keine Vögel, keine Menschen.
Es ist eine sehr kurze Erzählung, in der aber alles schon drinsteckt, was eine gute Geschichte ausmachen muss. Es ist der Urknall aller Geschichten. Peng! Plötzlich ist der liebe Gott da und setzt den Anfang von Welt und Zeit.
Kann man glauben, muss man aber nicht. Aber eine tolle Geschichte ist es trotzdem. Später hat man sogar ein Buch draus gemacht und Bibel auf den Titel geschrieben. Clever. Die haben kapiert, dass man mit guten Geschichten Leute einfangen kann.
Ich liebe Geschichten. Ich erzähle total gerne. Ich mag kurze wie lange Geschichten. Die Länge ist mir echt egal, auf die Technik kommt’s an.
Der Witz ist ja bekanntlich die kürzeste aller möglichen Geschichten. Einer meiner absoluten Lieblingswitze lautet: „Treffen sich zwei Jäger. Beide tot.“ Ich kann den immer wieder hören – und natürlich erzählen. Der nutzt sich nie ab.
Es gibt aber auch eine ganz, ganz kurze Story vom großen Meister Hemingway. Sie ist das totale Gegenteil von meinem Lieblingswitz: Mit einem Kumpel ging Hemingway eine Wette ein, dass er eine Erzählung in weniger als 10 Worten schreiben könnte. Er hat nur sechs gebraucht: „For sale: baby shoes, never worn.“
Als ich das zum ersten Mal gelesen habe, hat es mich umgehauen. Ich war sofort wieder mittendrin in meinem Film, in einer Episode aus meinem eigenen Leben, die viele Jahre zurückliegt. Eine Geschichte, die mir sehr wehgetan hat. Trotzdem liebe ich diese Hemingway-Story. Auch diese Geschichte.
Die Geschichten lieben aber auch irgendwie mich. Ich ziehe sie magisch an. Die müssen merken, dass ich sie sehr, sehr lieb habe. Sie laufen mir zu wie herrenlose Hündchen. Dann steht einer vor mir, ein Herrenloser, und Hundeaugen treffen auf Dackelblick (ich). Wir sind sofort per Du, und der Köter ist nicht mehr herrenlos. Und dann kommt auch schon die nächste Geschichte angewackelt und die nächste. Und ich will sie alle behalten.
Wer mich nur ein bisschen kennt, weiß, dass ich einen Sammeltick habe. Mein erstes eigenes Restaurant, die Oldiethek in Rommerskirchen-Butzheim, war ein Sammellager für alte Autos, Motorräder, Antiquitäten, Kitsch, Trödel, Zeugs. Ausgestattet war die Hütte mit Möbeln vom Sperrmüll. Gekocht habe ich auf einem alten flämischen Ofen, nix Gas, nix Induktion. Feuerchen, Leute!
Im Januar 1990 habe ich die Oldiethek aufgemacht. Ich hatte mir einen Ort zum Wohlfühlen geschaffen, mit Feuer in der Mitte; aber auch einen dicken Klotz am Bein. Die Gäste haben mir dummerweise nicht sofort die Bude eingerannt. Ich hatte meine ganze Kohle da reingesteckt. Dass ich notorisch knapp bei Kasse war, ist ein offenes Geheimnis gewesen. Gott sei Dank hatte ich aber doch ein paar Gäste, die kamen. Und die brachten mir sogar was mit: manchmal altes Geschirr, Besteck, Tischwäsche und Krimskrams, der bei mir dann sein zweites Leben lebte.
Ich habe alles brav behalten, alles verstaut, benutzt, gebraucht. Nicht weil ich den Gästen gefallen wollte, sondern weil mir das alte Zeugs gefiel. Schließlich klebte an jedem alten Ding auch eine Geschichte. Und mit jedem neuen alten Ding und jedem Gast kamen neue Geschichten dazu.
Eines Tages trat eine ältere Dame durch die Tür. Sie war in Begleitung gekommen. Ein altes Fahrrad war ihr Begleiter. Sie hätte gehört, dass ich so ziemlich alles gebrauchen könnte, was andere nicht mehr haben wollten. Ob sie das Fahrrad bei mir lassen könnte. „Das Fahrrad“, fragte ich sie, „ob ich das gebrauchen kann? Ich habe, glaube ich, schon einige davon, aber der Trend geht ja zum Zweitdutzend.“
Sie erzählte mir, dass dies nicht irgendein Fahrrad sei. Es wäre das Rad, mit dem ihr Mann 1949, aus russischer Kriegsgefangenschaft kommend, nach Hause geradelt sei. Da war ich platt. Wieder so eine Geschichte. Diesmal war sie auf zwei Rädern dahergekommen. Für viele Menschen wäre es wohl trotzdem ein altes, klappriges Schrottrad gewesen. Sie hätten nur das gesehen.
Vielen ist heute der genaue Blick verloren gegangen. Bei mir hat er sich über viele Jahre immer noch geschärft. Ich habe den lupenreinen Schatzsucherblick. Auch wenn ich meine Brille absetze, kann ich im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche erkennen. Ich finde die Trüffel, die sich unter verwelktem Laub in der herbstlichen Erde versteckt haben.
Und genau darum geht es in diesem Buch. Ums Essen, das hält Leib und Seele zusammen. Und um Geschichten, die ich ausgrabe, die mit den Menschen zu tun haben, die das Essen machen oder die Zutaten dazu liefern. Deshalb habe ich mich aufgemacht, die unterschiedlichsten Betriebe besucht, hinter die Kulissen geschaut und meine schönsten Geschichten zusammengetragen. Habe mir und anderen viele Fragen gestellt und nach Antworten gesucht.
Für mich ist der Mensch aus seinen vielen Geschichten gemacht. Diese Geschichten halten ihn zusammen. Es sind die wahren Geschichten aus dem echten Leben; mitunter auch erfundene, die sie sich so oft erzählt haben, bis sie für sie wirklich so passiert sind. Der Mensch vermischt das alles gerne, je älter er wird.
Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde bei meinen Besuchen. Ich wusste nur, dass ich selbst ganz sicher viel dabei lernen würde. Genau darum geht es mir hier – um Menschen, um ihre Geschichten und was wir daraus lernen können. Um das Miteinander und die Art und Weise, wie wir selbst mit unseren Wünschen und Träumen umgehen – und was wir daraus machen.
Darüber war mir noch etwas wichtig: Um Gedanken und Erlebnisse, die mich immer wieder beschäftigen, wenn ich auf Reisen bin. Um Orte, an denen ich mich wohl fühle, um Situationen, die mich aufregen – und um die Frage: Warum ist das so?
Mittlerweile bin ich rund 280 Tage im Jahr unterwegs, das heißt: 280 Nächte im Hotel. Mein Leben hat sich gewaltig verändert – und die Erfahrungen, die ich auf Reisen gemacht habe, haben mich nachdenklich gestimmt. Du erlebst so viel Mist, wenn du auswärts essen willst, und ich frage mich so oft: Sag mal, wo sind denn nur die richtig guten Gasthäuser geblieben, die, wo du gerne bist und wo das Essen noch richtig lecker ist? Warum ist das so schwer, die zu finden? Ja, was passiert da eigentlich? Was ist da los?
Ich bin mir sicher: Nicht wenige Menschen fragen sich das auch, egal ob sie viel oder nur hin und wieder unterwegs sind. Sie sehnen sich nach diesen Orten, wo man sie – wie früher – ehrlich willkommen heißt.
Und so hat sich für mich immer mehr die Frage herauskristallisiert: Worum geht es denn bei guten Gasthäusern eigentlich? Was macht diese Häuser aus?
Ich glaube es für mich zu wissen: Es geht um das Menschliche, um das Miteinander, es geht um die Freude und um das echte Interesse. Es geht auch um: Respekt! Um die Tradition und um die alten Werte, denn die dürfen uns nicht verloren gehen. Die sind zeitlos, und die sind absolut wichtig, die haben Bestand, die überleben sich nicht.
Erste Treffen sind für mich nicht schwierig. Wenn man jemandem neugierig, freundlich und mit Respekt begegnet. Du musst den anderen sehen! Dich für ihn interessieren. Du glaubst gar nicht, wie einfach das ist, wenn du dich für dein Gegenüber interessierst. Du öffnest bei den Menschen einen Sprudel, manchmal brechen sogar Dämme. Und dann musst du deine Lauscher ganz weit auf Empfang stellen – und dein Herz öffnen. Sie müssen dir vertrauen, du musst ihr Vertrauen zu schätzen wissen.
Du kannst so viel dabei lernen und für dich mitnehmen, du erfährst Dinge, die dich beschäftigen, zum Nachdenken bringen und dein Denken verändern. Lustiges und Verrücktes, Unerwartetes und Unfassbares, Trauriges und auch tief Bewegendes. Begebenheiten, die du dein Lebtag nicht mehr vergisst. Weil sie so schön sind, weil sie so unglaublich sind oder weil sie dich unheimlich tief berühren und auf Gedanken bringen, die du so noch nie gedacht hast.
Ja, du blickst in dein Innerstes und begreifst, was für dich selbst wichtig ist, was wirklich zählt und was du brauchst, um zufrieden und glücklich zu sein.
Grönemeyer singt: Und der Mensch heißt Mensch / Weil er vergisst / Weil er verdrängt / Und weil er schwärmt und...