Wer bin ich, wer bist du? Die Grenze als Ort von Begegnung und Konflikt
An der Grenze endet nicht nur unser Gebiet, an der Grenze beginnt die Welt da draußen, und wir begegnen dort auch den anderen an ihren Reviermarkierungen. Wenn wir nicht bei uns sind und uns nicht abgrenzen können, besteht die Gefahr, dass wir uns in der Welt oder an die anderen verlieren. Die Umwelt mit ihren Reizen, Anfechtungen und Einflüssen könnte über uns bestimmen, und wir würden nur noch reagieren.
An unseren Grenzen begegnen wir auch häufig unerfreulichen Zeitgenossen, den Manipulierern, »Energievampiren« und übergriffigen Nachbarn, die sich auf Kosten unseres Reviers ausbreiten. Hier entscheidet sich, ob sie uns manipulieren können, ob wir es zulassen, dass sie übergriffig werden und uns energetisch schwächen. Oder ob vielleicht andere, die sich noch weniger abgrenzen können, uns so erleben.
Denn ebenso kann es geschehen, dass wir in die Gebiete der anderen vorstoßen. Das löst nicht selten Konflikte aus. Vielleicht würden wir gar nicht einmal verstehen, weshalb wir bei den anderen nicht landen, sondern abgelehnt werden. Weshalb andere sich uns gegenüber so aggressiv verhalten, obgleich wir es doch so gut meinen.
Ich will etwas, was du nicht willst
Nicht immer findet man ein Gegenüber, mit dem man harmonisch in der Lage seiner Grenzen übereinstimmt. Nehmen wir an, ich möchte in einem Gespräch auf einer Party zum Beispiel gern tiefer einsteigen in das Thema, über das wir gerade reden, doch ich registriere, dass Ihnen das Besprochene schon reicht. Angenommen, ich würde das nicht weiter beachten und versuchen, mit noch mehr Details und Fragestellungen meine Erörterungen zu intensivieren, dann würden Sie bei unserer nächsten Begegnung vermutlich einen großen Bogen um mich machen. Also ziehe ich mich besser mit ein paar Floskeln zurück und wende mich anderen Gästen zu.
Wenn wir dieses feine Abstimmen an den Grenzen auf den geringsten gemeinsamen Nenner unterlassen, verändert sich der Charakter des Kontaktes. Das Ergebnis wäre eine erzwungene Begegnung, in der sich zunächst derjenige nicht wohlfühlt, der sich dazu gedrängt fühlt. Doch in einer Beziehung kann es dem einen auf Dauer nicht gut gehen, wenn es dem anderen nicht auch gut geht. Mit einer erzwungenen Nähe wäre also nichts gewonnen.
Das Maß des möglichen Kontaktes bestimmt immer derjenige, der weniger Nähe möchte. Die Konsequenz daraus lautet, dass derjenige, der sich eigentlich mehr wünscht, sich auf das angebotene Maß einlassen muss, wenn er die Qualität der Beziehung nicht verschlechtern oder sie gar ganz verlieren möchte. Doch dieser Verzicht kann dazu beitragen, dass sich von einer gemeinsamen Basis ausgehend etwas ganz Eigenes und vielleicht viel Intensiveres entwickeln kann. Derjenige, der weniger wollte, kann sich verstanden, respektiert und sicher fühlen. Mit der Zeit fasst er dadurch häufig Vertrauen und kann allmählich größere Nähe zulassen.
Wir zeigen uns an unseren Grenzen
Manche Menschen gehen nicht so weit, dass sie ihre eigenen Grenzen erreichen. Sie füllen nicht einmal ihr eigenes Revier aus. Doch das bleibt nicht lange so. So wie es in der Natur kein Vakuum gibt, drängen andere vor, breiten sich auf unsere Kosten aus. Auch hier sind Konflikte vorgegeben, doch Menschen, die ihr eigenes Revier nicht einnehmen, weichen eher zurück, sie geben eigenen Boden preis.
Seine Grenzen zu zeigen, sein Revier zu halten, das erfordert von uns, dass wir zu unserer Begrenztheit stehen, zu unseren Eigenheiten. Wir zeigen durch Grenzen Kontur. Erst dadurch werden wir für andere greifbar. Damit gehen wir ein gewisses Risiko ein: Sind wir mit unseren Besonderheiten für den anderen willkommen? Wir könnten immerhin abgelehnt und zurückgewiesen werden. Menschen, die ihr Revier nicht ausfüllen, zeigen sich nicht bei einer Begegnung. Wagt sich auch der andere nicht an seine Grenze vor, dann bleibt es oft bei einem freundlichen Winken aus der Ferne. Nähe ist dann nicht möglich. Begegnung findet nicht statt.
Das Leben als Adaptionsprozess
Leben lässt sich beschreiben als ein ständiger Prozess der Anpassung. Darwin spricht vom »Survival of the fittest«. Und damit ist nicht unbedingt das Überleben des sportlich »Fittesten« gemeint, sondern desjenigen, der sich am besten anpassen kann – to fit in: an die Umgebung mit ihren Möglichkeiten und Gefahren, an Veränderungen des Nahrungsangebotes oder an Klimaschwankungen … Und selbstverständlich ist auch das Geschäftsleben ein ständiger Anpassungsprozess. Man geht mit der Zeit, sonst ist man bald abgehängt, man versucht mit der technischen Entwicklung mitzuhalten, mit der Mode, mit der Konkurrenz … Man versucht den Trend rechtzeitig zu erspüren und ihm möglichst voraus zu sein. Und wer genügend Einfluss hat, versucht sogar die Mode und den Trend selbst zu beeinflussen. Man passt sich den anderen an und versucht auch sie dazu zu bringen, sich an einen anzupassen.
Anpassung gilt vielen Menschen als verwerflich. Und dennoch tun sie es tagtäglich. Denn wer sich nicht anpasst, zum Beispiel beim Autofahren – dem Verkehrsfluss, den Regeln, der Straße –, der wird nicht an sein Ziel kommen.
Umgangsformen: Schutz an unbekannten Grenzen
Die Kunst der Anpassung besteht darin, sich zugleich anzupassen und sich selbst dabei treu zu bleiben, seine Substanz zu erhalten, seine Werte nicht zu verraten, seine Richtung zu bewahren. Und dennoch gleichen wir uns in der Begegnung dem anderen ein wenig an, wir kommen ihm zumindest so weit entgegen, um das passende Maß von Distanz und Nähe festlegen zu können oder ihn so weit zu erkennen, dass wir mit ihm nicht zusammenstoßen und uns nicht in unnötigen Konflikten verstricken.
Dauernde individuelle Anpassung in der Begegnung wäre jedoch sehr mühsam. Eine standardisierte Form der Anpassung, an die man sich stets in solchen Situationen anpassen könnte, wäre da schon eine große Erleichterung! Diese Hilfe bieten Umgangsformen und Höflichkeit. Dazu gehört zum Beispiel das Unterscheiden von Sie und Du, der Gruß, das Bitte und Danke. Es sind gewissermaßen Puffer, Abstandshalter, mit denen wir unnötige Kollisionen und Grenzverstöße und die damit verbundenen Verletzungen vermeiden. Wer dem anderen näherkommen möchte, kann das auch wieder durch entsprechende Formeln signalisieren. Die Vorteile liegen auf der Hand: Ich muss mich dann nicht ganz speziell an die andere Person anpassen, die ich ja noch gar nicht kenne, sondern nur an die einfach erlernbaren Formen der Konvention, und kann in der Begegnung entspannt bleiben.
Grenzen sind nichts Festes. Und schon gar nicht die Grenze zwischen zwei Menschen. Beide können nicht nur unterschiedliche Ausgangssituationen, Bedürfnisse und Interessen haben, sie bewerten einen Kontakt oft auch ganz unterschiedlich oder verorten ihn in verschiedenen Kategorien wie zum Beispiel »geschäftlich«, »kollegial«, »familiär«, »privat« oder »intim« und geben ihm einen entsprechend anderen Stellenwert.
IM REISEZENTRUM vor der Fahrkartenausgabe. Die alte Dame vor mir möchte, nachdem sie ihre Karte bezahlt hat, noch ein kleines Schwätzchen über ihr Reiseziel halten. Der Mann am Schalter lächelt zurück und wünscht ihr eine gute Reise. Er setzt ihr freundlich eine Grenze und winkt mir, von hinter der Wartelinie näher zu treten.
Während für den Bahnangestellten dieser Kontakt einer von sehr vielen geschäftlichen war, hatte er für die alte Dame offenbar einen ganz anderen Stellenwert. Das Gute an den Umgangsformen: Obwohl in diesem Beispiel Grenzen gezeigt werden, kommt es zu keiner Verletzung. Wir drücken sogar Achtung und Wertschätzung aus. Wir sagen zum Beispiel »Sie«. Wenn wir dem anderen signalisieren möchten, dass wir mit ihm näheren Kontakt wünschen, dann bieten wir ihm vielleicht das Du an. Doch auch das erfolgt nach Konventionen. Das Angebot darf zum Beispiel nicht jeder aussprechen, etwa ein Mitarbeiter der Chefin gegenüber. All das dient dem Schutz von Grenzen und erspart uns Enttäuschungen und Verletzungen.
Doch auch das kann es geben: dass Menschen vor lauter Formen und Höflichkeiten sich fast gar nicht mehr begegnen. Sie sind hinter diesem schützenden Vorhang für ein Gegenüber kaum noch zu erkennen. Genauso wie wir es wagen müssen, Grenzen zu setzen, müssen wir Mut aufbringen, auf den anderen zuzugehen. Wir können Signale geben, wenn wir näheren Kontakt haben und uns anderen gegenüber mehr öffnen möchten. Der andere wiederum hat die Freiheit, nur in dem Maße darauf einzugehen, wie er es möchte. Möchte er nicht darauf einsteigen, erfordert seine Abgrenzung von ihm wiederum Courage, die unseren Respekt verdient.
Wie ist es bei Ihnen?
REFLEXION: WIE REAGIEREN SIE, WENN SIE AUF ABGRENZUNG STOSSEN?
Angenommen, Sie möchten intensiveren Kontakt zu Ihrem Gegenüber. Sie haben einen Vorstoß gewagt, doch Ihr Gegenüber ist nicht darauf eingegangen und hat seine Grenzen deutlich gezogen. Wie reagieren Sie darauf?
- Sie fühlen sich verletzt und abgelehnt.
- Sie tragen der anderen Person jetzt etwas nach.
- Sie möchten mit der Person nun nichts mehr zu tun haben und brechen den Kontakt ganz ab.
- Sie mögen die andere Person nun nicht mehr.
- Die andere Person ist zu Ihrem Gegner geworden.
- Sie ziehen sich aus dem Kontakt zurück.
- Sie bleiben bei dem bisher gewohnten Maß des Kontaktes.
- Sie lassen nicht locker und probieren es weiter.
Wenn Sie selbst sich besser abgrenzen möchten, ist es...