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E-Book

Heimatschutz

Der Staat und die Mordserie des NSU

AutorDirk Laabs, Stefan Aust
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl912 Seiten
ISBN9783641096410
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Eine Anatomie des rechten Terrors in Deutschland
Die Mitglieder des NSU konnten dreizehn Jahre im Untergrund leben, dabei zehn Menschen umbringen, über ein Dutzend Banken überfallen und mutmaßlich drei Sprengstoffanschläge begehen - dabei wurden sie gerade in den ersten Jahren von mehreren Geheimdiensten gesucht, sie waren umstellt von Verrätern, den V-Männern des Verfassungsschutzes. Warum hat man sie nicht entdeckt? Was lief schief? Die Rekonstruktion einer Jagd - detailliert, spannend, kontrovers.

Am 6. Mai 2013 begann vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere Angeklagte, die mit der Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) in Verbindung gebracht werden. Diese Mordserie endete mit dem mutmaßlichen Selbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in ihrem Wohnmobil in Eisenach im November 2011. Seit der Festnahme Zschäpes und einer beispiellosen Serie von Aktenvernichtungen und V-Mann-Enttarnungen rätseln die ermittelnden Behörden und die deutsche Öffentlichkeit, was genau sich in all den Jahren zwischen 1994 und 2011 in der rechten Szene zugetragen hat. Wo der Prozess bislang wenig ans Licht bringt, haben Stefan Aust und Dirk Laabs umso gründlicher recherchiert und enthüllen in einer genauen Chronik der Ereignisse die fast unglaubliche Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland.

Stefan Aust, geboren 1946, war von 1994 bis 2008 Chefredakteur des SPIEGEL, seit 2014 ist er Herausgeber der Tageszeitung 'Die Welt'. Aust schrieb zahlreiche Fernsehdokumentationen und Bücher, darunter 'Der Baader-Meinhof-Komplex', das Standardwerk zur Geschichte der RAF.

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Leseprobe

Prolog
DER BULLDOZER

4. November 2011
Eisenach

Freitag, 9 Uhr 20. Die Sparkasse am Nordplatz in Eisenach. Eine Mitarbeiterin ist mit dem Filialleiter in dessen Büro, als sie vorne Schreie hören. Der Chef schaut im Vorraum nach, sieht dort einen Kunden gebückt vor zwei maskierten Männern stehen. Einer der beiden brüllt herum, schickt den anderen Täter zum Chef. Die Angestellte läuft schnell in den hinteren Teil der Sparkasse, schließt sich in einem Raum mit der Notkasse ein. Kurz darauf klopft der Filialleiter und sagt »… mach auf, wir geben ihm jetzt alles.« Sie öffnet die Tür, dann die Notkasse, gibt einem der Täter ein paar Scheine. Der steckt sie in eine rote Tüte und brüllt »Mach den Tresor auf! Ihr müsst einen Tresor haben!« Der Filialleiter antwortet: »Den kriegen wir jetzt nicht auf.« Der Bankräuber schreit: »Noch ein Lüge!« und schlägt den Mann mit seinem Revolver nieder. Dem Chef wird schwarz vor Augen, er geht zu Boden, blutet am rechten Ohr. Die Angestellte und eine weitere Kollegin begleiten daraufhin einen der Täter in den Keller und schließen den Tresor auf. »Nicht das Geld mit der Farbbombe!«, schreit der Räuber, die Frau drückt ihm nicht registrierte Scheine in die Hand, dazu eine Palette mit Sondermünzen. Der Mann stopft alles in seinen Beutel, rennt weg, die beiden Frauen schließen sich im Tresorraum ein. Draußen sieht eine Zeugin, wie die zwei Männer auf Mountainbikes steigen, die zuvor an der Scheibe eines ehemaligen Cafés angelehnt waren. Sie fahren mit ihrer Beute, 71920 Euro, davon.

Samstag am frühen Morgen, der Überfall ist keine 24 Stunden her. Der zuständige Ermittler, Michael Menzel, Kriminaldirektor, 51 Jahre alt, ist früh im provisorischen Lagezentrum seiner Polizeidirektion in Gotha. Menzel hat lockige Haare, Augen wie Schlitze, große Hände. An ihm ist nichts filigran außer seiner Brille, und die hat dicke Gläser. Er hat eine auffallend breite Nase in einem fleischigen Gesicht, der große Kopf sitzt auf einem mächtigen Kreuz. Menzel sieht aus wie jemand, der körperlich arbeitet, als Metzger oder Landwirt. Er scheint ein Mann der Tat zu sein, ein Polizist, der lieber zu schnell als gar nicht handelt. Dass er zum Bulldozer werden kann, sieht man ihm spätestens auf den zweiten Blick an. Eigentlich muss er am Montag in den Krankenstand. Daraus wird jedoch nichts. Denn seit einigen Stunden fahndet Menzel mit seiner Kriminaldirektion nach einer Frau. Ihr Name: Beate Zschäpe, 36 Jahre alt, aus Jena, seit 1998 verschwunden. Sie war gemeinsam mit zwei anderen jungen Neonazis untergetaucht. 13 Jahre lang wurden sie erfolglos gesucht. Gestern nun ist einer der beiden Männer gefunden worden. Er saß erschossen in einem Wohnmobil in Eisenach, zuvor soll er die Sparkasse am Nordplatz überfallen haben. Er wurde in der vergangenen Nacht als Uwe Mundlos identifiziert. Neben ihm lag eine weitere Leiche, mutmaßlich sein Komplize von 1998, Uwe Böhnhardt.

Menzel hat in den letzten Stunden seine alten Kontakte abtelefoniert und war auf einen LKA-Zielfahnder gestoßen, Sven Wunderlich, seit fast 20 Jahren auf die Suche nach geflohenen Straftätern spezialisiert. Wunderlich war sofort nach Gotha gefahren und erzählt ihm nun die Geschichte von Beate Zschäpe und den beiden Toten. Die drei Neonazis sollen in den 1990er Jahren Rohrbomben gebaut haben, ihre Werkstatt wurde vom Verfassungsschutz gefunden, vom LKA durchsucht. Bevor sie verhaftet werden konnten, tauchten sie unter, die drei waren damals gerade Anfang 20. Der Zielfahnder konnte sie in all den Jahren nicht finden und hatte so manches Mal den Verdacht, dass der Thüringer Verfassungsschutz mehr wusste, als er ihm gegenüber zugab. Das Amt war seit den frühen 1990er Jahren hochaktiv in der rechten Szene, führte mehrere V-Männer, die spektakulär öffentlich enttarnt wurden. Zuvor hatte besonders einer dieser Spitzel den drei Neonazis bei ihrer Flucht geholfen. Wunderlich organisiert Menzel deshalb die Privatnummer eines Verfassungsschützers von damals.

Der Bulldozer zögert nicht lange und greift zum Telefon. Er ruft den alten Geheimdienst-Mann an – Norbert Wießner, einst aus Hessen nach Thüringen gekommen, um den Verfassungsschutz aufzubauen, danach zum LKA gewechselt, inzwischen pensioniert. Er hat vor allem V-Männer und V-Frauen in der Szene geworben. Vor seiner Zeit in Hessen war er 16 Jahre lang beim Bundesamt für Verfassungsschutz bei der Terrorismusabwehr. Der Anrufer, Menzel, hat trotz seiner Masse eine helle, heisere Stimme, die aber laut und voll klingt. Wießner am anderen Ende der Leitung erinnert sich: »Ich werde das in meinem ganzen Leben nicht vergessen, wie … der Anruf kam. Es hat mich damals der Leiter der Polizeidirektion Gotha angerufen und hat gesagt: In Eisenach sind Mundlos und Böhnhardt gefunden worden. Sag mal, du warst ja vorher bei dem LfV [Landesamt für Verfassungsschutz]. Wo können wir ansetzen? Die Zschäpe fehlt, die Zschäpe ist nicht da.«1 Wießner antwortet: »Woher haste denn die Nummer, wieso rufst du mich an? Bitte, ich kann nichts sagen. Woher soll ich wissen, wo die Zschäpe ist? Als Ansatzpunkt kann ich nur Wohlleben nennen.« Der Tipp, es bei dem ehemaligen NPD-Funktionär aus Jena, Ralf Wohlleben, zu versuchen, reicht Menzel offenbar nicht, er droht dem Ex-Verfassungsschützer, sagt laut Wießner: »Wenn du jetzt nichts sagst, gehe ich ins LfV und beschlagnahme die Akten.« Mehr kann oder will der ehemalige Geheimdienstler trotzdem nicht verraten.

Menzel lässt sich von Wießner nicht aufhalten, er will diesen Fall lösen, der sich in einem verblüffenden Tempo vor ihm entfaltet. Der Bulldozer mag an diesem Tag in seinem Element sein und schnell handeln, doch tatsächlich hat er als Beamter des höheren Dienstes Jahre hinter einem Schreibtisch und auf Konferenzen verbracht. Er war lange der Terrorexperte im Thüringer Innenministerium. Seit der Jahrtausendwende hatte er dort in der Polizeiabteilung die Arbeit mit dem Bundeskriminalamt koordiniert, er hat die Diskussionen um die Einrichtung des »Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums« (GTAZ) von Polizei und Geheimdiensten in Berlin nach dem 11. September 2001 mitgemacht, obwohl die islamistische Gefahr in Thüringen eher gering war. 2009 wurde er wieder Polizist, leitete die Kriminaldirektion Gotha. Seit diesem Wechsel jagte er regelmäßig Bankräuber. Erst führte er eine Sonderkommission namens »Trio«, die nach drei Serienbankräubern fahndete – und sie schnappte. Nach dem Überfall von Eisenach ist er nun einer der gefährlichsten terroristischen Vereinigungen, die es in der Bundesrepublik jemals gab, auf die Spur gekommen – ohne das auch nur im Ansatz zu ahnen.

Am Samstag weiß Menzel jedoch schon, dass er es wieder mit Serienbankräubern zu tun haben könnte. Schon im September 2011 hatten zwei Täter eine Sparkasse in Arnstadt ausgeraubt und waren danach auf Fahrrädern geflohen. Menzel und seine Männer leiteten diese Kerninformation an alle Dienststellen im Land weiter. Bald darauf erhielten sie Antwort aus Chemnitz. Das Muster passte zu zwölf ungeklärten Überfällen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Als nun in Eisenach wieder zwei Bankräuber nach dem Überfall auf Fahrrädern flohen, startet Menzel sein neues Fahndungskonzept. Nicht nur zehn bis fünfzehn Kilometer um die Bank herum, sondern innerhalb der Stadt selber sollten Streifen nach einem Überfall auf verdächtige Fahrzeuge achten, sie kontrollieren oder zumindest die Kennzeichen notieren. Die Idee dahinter: Vielleicht verladen die Täter ihre Räder in ein Fahrzeug und fliehen mit dem aus der Stadt. Wenige Minuten nach der Meldung aus Eisenach schwärmten die Polizeiwagen aus. Doch die Posten meldeten zunächst nichts. Dann ein Hoffnungsschimmer. 10 Uhr 04. Zwei von Menzels Männern befragten ein Rentnerehepaar an einer Straßenunterführung in der Nähe der Bank. Der Mann erzählte, er habe zwei »schmächtige Kerle« auf dem Parkplatz des Obi-Baumarktes gesehen. Sie hätten Fahrräder in ein Wohnmobil geladen. Den Anfangsbuchstaben des Kennzeichens hatte er sich auch gemerkt, V für Vogtland bei Zwickau in Sachsen. Obwohl die Chance groß war, dass der Camper längst weg ist, durchkämmten Streifenwagen weiter die Stadt. Zunächst vergebens. Über zwei Stunden nach der Tat, um 11 Uhr 50, suchten Polizeihauptmeister Seeland und Polizeioberkommissar Mayer aus Eisenach in ihrem VW den Stadtteil Stregda südlich der Autobahn ab, gut einen Kilometer von dem Baumarkt entfernt. Plötzlich entdeckten die beiden einen Campingbus der Marke Capron. Er parkte in Stregda in der Straße Am Schafrain, Richtung der Einmündung zur Querstraße An Der Leite. Kennzeichen V-MK-1121.

Zwei Stunden zuvor hatte sich ein weiterer Rentner genau an dieser Kurve geärgert. Der Mann, 77 Jahre alt, wollte vor seiner Wohnung in Stregda parken, doch ein großer, weißer Campingbus stand auf seinem Platz. Dort stellt er normalerweise seinen Renault ab. Er stieg aus, guckte sich das Fahrzeug, das Nummernschild ganz genau an. Vorneweg ein V wie Victor. Kurzerhand setzte er seinen Wagen genau vor den Camper. Hinter dem Wohnmobil klemmte bereits ein anderer Kleinwagen. Zügig könnte der Camper jetzt nicht mehr ausparken. In dem weißen Campingmobil rührte sich nichts. Der Rentner ging unbehelligt in seinen Wohnblock. Gegen 12 Uhr bemerkt er, dass direkt vor seiner Wohnung irgendetwas los ist. Er guckt vor die Tür. Der Camper brennt. Er stürmt hinaus, will seinen Renault retten. Zwei Polizisten in blauen Uniformen gucken in die Flammen, sie schicken ihn zurück ins Haus.

Als Michael Menzel über Funk von dem brennenden Wohnmobil hört, schickt er sofort zwei seiner Kripobeamten in Zivil los. Menzel macht sich kurz darauf ebenfalls auf den Weg von...

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