Vorwort
Fusseln – ich hatte sie überall: an den Händen, an der Kleidung, im Gesicht. Ich atmete Fusseln und ich hasste ihren Geruch, damals, als ich im stickigen Keller eines Dortmunder Herrenausstatters unter kalt flackerndem Neonlicht mutterseelenallein Pullover faltete. Erst die schwarzen, dann die grauen, dann die blauen und die grünen, dann wieder die schwarzen. Hunderte. Tausende, gefühlte Milliarden Pullover. Jeden Tag bis 17 Uhr. Dann katapultierte mich der Aufzug hoch auf die Verkaufsfläche, wo ich im hellen Glanz des Warenhauses jäh an einem gläsernen Tisch platziert wurde, um dort die Pullover zu falten, die tagsüber zerwühlt worden waren. Sisyphos hätte statt seines Steins auch einen Stapel Pullover bearbeiten können.
Wie Sisyphos fing ich jeden Tag von vorne an und kam keinen Meter weiter. Ich war 19 und eindeutig am ersten Tiefpunkt meiner Karriere angelangt. Dabei hatte es doch wie eine brillante Idee ausgesehen, mit meinem völlig frei von jeglicher Spezialbegabung angelegten Talentprofil einen ganz anderen Weg einzuschlagen als all die Schulkameraden, die jetzt in den Unis Paragrafen, Physiopathologie und Pädagogik paukten. Hätte das nicht der fast track in die schillernde Businesswelt der »high performing« Anzugträger sein können, in der ich unbedingt mitspielen wollte?
»Eckelt!«, riss mich mein Chef brüllend aus meinem Selbstmitleid am Pullovertisch. »Eckelt! Watt is los? Umsatz machen! Sons wird dat nix mit Ihnen und se fliejen hier im hohen Bogen raus! Eckelt, am Samstach gense in die Anzüge!«
Super: Erst machen sie einen zur Kellerassel und dann zerquetschen sie einen mit Umsatzdruck. Als Jungspund »auf der Fläche« hatte man ohnehin keine Chance, weil die alten Hasen unter den Anzugverkäufern mit ihrem untrüglichen Gespür für herannahende Brieftaschenträger alle Kunden wegschnappten, bevor man überhaupt Luft für den ersten, den entscheidenden Ranschmeißer-Satz geholt hatte. Aber rausfliegen? Ich? Auf meinem Textileinzelhandel-Karrieresonderweg auch noch scheitern? Niemals. Nicht mit mir.
In den schlaflosen Nächten bis »Samstach« wurde ich zum Regisseur in eigener Sache. Ich ging im Geiste jede Sekunde durch, die ich auf der »Fläche« würde durchstehen müssen und wusste mittwochs um drei Uhr früh endlich genau, was in mein survival kit gehörte: ein perfekt sitzender Anzug. Eine Armbanduhr, die am Handgelenk eines Mannes auf fünf bis sieben Hierarchiestufen über mir gut ausgesehen hätte. Schuhe, mit denen ich die britische Königin hätte besuchen können. Die Lektüre von mindestens sieben aktuellen Ausgaben des örtlichen Boulevardblatts inklusive Sportteil. Und die detaillierte Kenntnis aller Hersteller von Herrenanzügen und aller Herrengrößen – von klein und untersetzt über mittelgroß mit zu kurzen Armen bis Basketballspielerformat mit Beinüberlänge.
In dieser Woche lieh ich mir 5.000 D-Mark von meinen Eltern und besorgte mir meine erste Kampfausrüstung: Anzug, Hemd, Krawatte, Schuhe, Uhr. Im Rückblick klingt das abgedreht übertrieben, tatsächlich aber war es in diesem Augenblick für mich die richtige Entscheidung und das erste, das vielleicht wichtigste Stipendium meines Lebens.
Am Samstag, meinem ersten Kampftag, stand ich morgens um sieben im Frühnebel in der Dortmunder Innenstadt vor dem Personaleingang des ersten Herrenausstatters am Platze und war bereit, alles zu geben. Ich war der Erste auf der Fläche und hatte zwei Stunden Zeit, um mir das komplette Sortiment einzuprägen. Der Uhrzeiger drehte sich langsam Richtung neun Uhr, mein Adrenalinspiegel stieg immer schneller bis knapp unter Herzinfarkt und dann stand er da, mein erster Kunde. Er war eine Frau.
Daran hatte ich nicht gedacht! Natürlich ist es die Ehefrau, die den Mann zum Shoppen zwingt. Der Mann hat keine Lust dazu, natürlich nicht! Jetzt half nur Improvisationstheater: In der Schule hatte ich in der Aula lediglich den Atomtod dargestellt – das war damals das Thema – jetzt mimte ich den perfekten Schwiegersohn, fachsimpelte über italienische Stoffe und perfekte Hosenlängen, überraschte mit der Auswahl sofort sitzender Hemden und war derartig charmant unterwegs, dass ich en passant noch drei Krawatten verkaufte. An diesem Tag gab ich alles, ich machte einen Mords-Umsatz, am Abend war ich verschwitzt und mir war speiübel, ich fuhr zurück in meine Kleinstadt im Münsterland, schleppte mich nach Hause zu den Eltern und wusste: Schluss mit Fusseln. Es gibt einen Weg aus dem Keller. Und um den zu schaffen, brauche ich eine besondere Fähigkeit: den Scannerblick für Silberrücken. Anzuggröße und Kragenweite, Uhrenmarke und Krawattenfarbe, Fußball und Bier, Talkshow und Theater, Auto und Wetterwarnung – ein erfolgreiches Verkaufsgespräch in der Anzugabteilung eines Herrenausstatters geht nur mit allen Infos. Und um die zu sammeln, analog natürlich, gibt’s eine halbe Sekunde Zeit. Eine halbe Sekunde.
Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich meine erste Lektion Menschenkenntnis in der obersten Etage eines Warenhauses zwischen Hosenbeinen und Manschettenknöpfen lernen würde, hätte ich ihm den Vogel gezeigt. Aber so war es. Irgendwann hatte ich den Dreh raus, kannte den Chef der Dortmunder Brauerei, Hans Rosenthal und Wim Thoelke, ich stieg ein paar Hierarchieebenen auf und stand dann am oberen Ende der Herrenoberbekleidungskarriereleiter. Diese Ebene war für meinen Geschmack immer noch viel zu dicht an der Fusselgrenze und weit entfernt von dem, was ich mir damals unter High Performance vorstellte. Ich brauchte einen Neustart mit mehr PS. Die wollte ich mir an der Universität holen – und zwar viel davon und schnell.
»Irgendeine« Uni kam deshalb nicht infrage, es musste eine private Business School sein. Und dann noch ein MBA in den USA – das wäre, so meine Vorstellung, das richtige Futter für den »High Performer«, der ich in Zukunft sein wollte.
An beiden Unis gehörte ich zwar zu denen mit relativ viel Watt in der Birne, war aber eindeutig derjenige mit dem wenigsten Geld in der Tasche. Wenn ich meinen Fiat Panda zwischen all den Cabrios und E-Klassen abstellte, meldete sich das alte Fusselgefühl aus dem Keller zurück. In der Abteilung für Herrenoberbekleidung aber hatte ich etwas gelernt: Schaumschläger ignorieren und Silberrücken für mich gewinnen. Und das half mir dabei, die Profs auf meine Seite zu bringen und die Arroganz der Studenten an mir abgleiten zu lassen, die am Wochenende auf die Hamptons gefahren wurden, während ich fieberhaft nach Wegen suchte, nicht kellnern gehen zu müssen.
Ich kam durch. Doch als ich meine hart erarbeiteten Abschlüsse endlich in der Tasche hatte, stand ich vor dem Nichts: Die Wirtschaft lag 1995 am Boden, ich hatte keinen Mentor, ich hatte kein Netzwerk, ich hatte keinen Coach und ich hatte keine andere Wahl, als meinen Wunsch nach einem glorreichen Einstieg in die Wirtschaft zu vergessen. Was mir blieb, waren Waschmaschinen.
Ich nahm einen Recruiting- und Management-Development-Job bei einem Hersteller von »Weißer Ware« an. Ganz gut, eigentlich, aber in Relation zu meinen Karriereplänen absolut uncool, unsexy, fahl. Auf dem Boden der Tatsachen in einem derartigen Unternehmen lag zu dieser Zeit überhaupt kein Glamour. Im Gegenteil. Hier lernte ich die ganze Bandbreite der Macchiavelli-Karriere: Beziehungen knüpfen, Konkurrenten ausschalten, nach oben den Bückling mimen und nach unten den drill instructorspielen. Eine lehrreiche Zeit, aber auch nicht das, was ich mir unter »High Peformance« vorstellte.
Ganz ehrlich? Auch wenn jetzt ein hochrangiger jobtitle auf meiner Visitenkarte prangte – meinen Job auf der Anzugfläche hatte ich angenehmer in Erinnerung. »Wie kriege ich diese Welten nun zusammen? Der direkte Kontakt zu den Silberrücken dieser Welt – und die eigene Karriere?« Das war die Frage, die mir den Schlaf raubte. Bis mir in einem Wirtschaftsmagazin ein Artikel über den größten Headhunter aller Zeiten ins Auge fiel – besser gesagt: mir die Augen öffnete. Executive Consulting, hierzulande weniger glamourös Personalberatung genannt, das sah nach meinem Weg zu »High Peformance« aus.
Mit Silberrücken kannte ich mich aus. Von Recruiting und Management wusste ich mittlerweile einiges. Wie High Performance mit gelernter Eloquenz und geschickter Auswahl hochpreisiger Kleidermarken zusammenhängt, davon konnte ich auch ein Lied singen. Der Glamour der imageverliebten 1980er Jahre lag noch in der Luft, die erste Start-up-Welle nahm Ende der 1990er Fahrt auf – das war genau der richtige Moment für den Schritt in die Selbständigkeit.
Als Headhunter.
Das klang nach harter Arbeit, nach Abenteuer und nach einer Laufbahn, die mich nie wieder mit Fusseln und Kellerluft in Verbindung bringen würde.
Ich wollte High Performance und hatte als Rüstzeug Bildung, Erfahrung und den unbändigen Willen, den...