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Historie
Die Erfindung der Fotografie vor fast zweihundert Jahren gehört zu den größten kulturellen Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit. Erst durch das unbestechliche fotografische Objektiv konnte die Welt so abgebildet werden, wie sie wirklich ist. Die geringe Lichtempfindlichkeit der damaligen Schichten erforderte Belichtungszeiten von vielen Stunden, so dass nur völlig statische Motive infrage kamen. Mit der Weiterentwicklung der Technik änderte sich das und schon hundert Jahre später waren Belichtungszeiten im Milli- und Mikrosekundenbereich möglich. Selbst extrem schnelle Vorgänge wie die Explosion einer Atombombe konnten fotografisch »eingefroren« und für das menschliche Auge sichtbar gemacht werden.
Schleiereule mit erbeuteter Feldmaus
Eric Hosking nahm sein bekanntestes Foto im Jahr 1948 auf.
Foto: Eric Hosking Charitable Trust
Kleine Geschichte der Kurzzeitfotografie
Die Anfänge
Seit vielen tausend Jahren gehören Pferde zu den wichtigsten Begleitern des Menschen. Trotzdem konnte eine Frage erst in jüngster Zeit geklärt werden: Behält ein Pferd im Galopp den »Bodenkontakt« mit wenigstens einem Huf oder hebt es vollständig ab?
William Henry Fox Talbot, 1864
Mit bloßem Auge war (und ist) es unmöglich, die vier wirbelnden Beine so auseinanderzuhalten, dass diese Frage hätte eindeutig beantwortet werden können. Erst mit der Erfindung der Fotografie Anfang des 19. Jahrhunderts stand ein Werkzeug zur Verfügung, das die Klärung dieses Problems ermöglichte. Dabei waren die ersten fotografischen Versuche alles andere als »Highspeed«, ganz im Gegenteil dauerte es selbst im hellen Sonnenschein mehrere Stunden, bis ein Bild auf den mit einer Mischung aus Asphalt und Lavendelöl beschichteten Metallplatten sichtbar wurde (Heliografie). Eine wesentliche Verbesserung brachte einige Jahre später der Einsatz versilberter Kupferplatten, die mittels Joddampf lichtempfindlich gemacht wurden (Daguerreotypie). Mit diesem Verfahren – dem direkten Vorläufer der modernen Fotografie – reduzierten sich die Belichtungszeiten auf zehn bis fünfzehn Minuten, später dann auf eine Minute und weniger. Obwohl damit Landschaftsaufnahmen und auch Porträts möglich waren, blieb die geringe Lichtempfindlichkeit der fotografischen Schichten der begrenzende Faktor für die Abbildung schneller Objekte. Hinzu kam, dass die Verschlusstechnik – sofern damals davon überhaupt gesprochen werden konnte – noch in den Kinderschuhen steckte und sich auf das manuelle Abnehmen und Wiederaufstecken des Objektivdeckels beschränkte. Erst mit der allmählichen Verbesserung der Aufnahmematerialien erschienen die ersten einfachen mechanischen Verschlüsse, die aber noch keine wirklich kurzen Belichtungszeiten zuließen.
The Horse in Motion
Eadweard Muybridge 1878
Deshalb wählte der Engländer William Henry Fox Talbot (1800–1877), einer der bedeutendsten Wegbereiter der Fotografie, einen anderen Weg bei seinen Experimenten und setzte zum »Einfrieren« der Bewegung ein Blitzgerät ein. Dieses bezog seine Energie aus einer Batterie von »Leydener Flaschen«, den Vorgängern der heutigen Kondensatoren, und erzeugte Funkenüberschläge, die intensiv genug für die damaligen Fotoschichten waren. Damit gelangen ihm 1851 in einem abgedunkelten Labor des Londoner Royal Institute erste scharfe Fotos einer Zeitung, die auf einer rotierenden Scheibe befestigt war. Diese Kombination einer Kamera mit einem Blitzgerät kann daher mit Fug und Recht als Geburtsstunde der Highspeed-Fotografie bezeichnet werden.
Danach dauerte es nur noch wenige Jahre, bis die Technik weit genug entwickelt war, um das »Pferdeproblem« lösen zu können. Die treibende Kraft dahinter war Leland Stanford (1824–1893), ehemaliger Gouverneur von Kalifornien, wohlhabender Eisenbahnmagnat und Begründer der später nach ihm benannten Stanford University. Als Rennstallbesitzer hegte er ebenfalls die Vermutung, dass ein galoppierendes Pferd die Bodenhaftung verliert, ohne jedoch den letzten Beweis dafür antreten zu können. Deshalb engagierte er 1872 den Engländer Eadweard Muybridge (1830–1904), der als Landschaftsfotograf in Kalifornien lebte.
Von ihm erhoffte er sich Unterstützung bei der endgültigen Klärung dieser alten Streitfrage. Muybridge lehnte zunächst ab, denn er sah keinen Weg für eine Lösung der gestellten Aufgabe. Trotz aller Fortschritte steckte die Fotografie noch immer in den Kinderschuhen und es existierte keine Kamera, die für den gedachten Zweck geeignet gewesen wäre. Aber Stanford war der Ansicht, dass alles lösbar wäre, sofern nur genügend Geld eingesetzt würde. Mehr oder weniger heimlich investierte er 50.000 Dollar in das Projekt, nach heutigen Verhältnissen etwa eine Million Dollar. Dank dieser erheblichen finanziellen Unterstützung gelang es Muybridge, die Lichtempfindlichkeit der Fotoschicht so weit zu verbessern, dass sie für den beabsichtigten Zweck ausreichte.
Dennoch kam das Vorhaben arg ins Stocken, als Muybridge des Mordes am Geliebten seiner Frau bezichtigt und vor Gericht gestellt wurde. Nach dem Prozess, in dem er wegen »gerechtfertigten Totschlags« freigesprochen worden war, verließ er Kalifornien für einige Jahre und so dauerte es noch bis 1878, als ihm endlich der ersehnte Nachweis gelang. Zu diesem Zweck stellte Muybridge entlang der Pferderennbahn in Palo Alto zwölf eigens von ihm konstruierte Spezialkameras auf, deren Verschlüsse eine Belichtungszeit von 1/2.000 s erreichten. Zum Auslösen dienten dünne quergespannte Drähte, die vom vorbeigaloppierenden Pferd nacheinander zerrissen wurden.
Wegen der geringen Lichtempfindlichkeit des von Muybridge verwendeten Nassplattenverfahrens – einer Kombination aus Daguerrotypie und Talbots Kalotypie – waren die Fotos nur klein und nicht sehr ansehnlich, reichten aber für den vorgesehenen Zweck völlig aus. Ein zusätzlicher Vorteil war, dass Muybridge – anders als von Daguerrotypien, die sich nicht vervielfältigen ließen – von seinen Negativen beliebig viele Kopien anfertigen konnte.
Nach diesem ersten Erfolg perfektionierte Muybridge seine Technik und wiederholte die Aufnahmen mit 24 und 36 Kameras. Mit dieser Chronophotographie, wie das Zerlegen einer Bewegung in Einzelbilder damals hieß, nahm Muybridge in den folgenden Jahren unzählige Sequenzen von Bewegungen aller Art auf, die er in seinem Hauptwerk Animal Locomotion [1] zusammenfasste. Damit legte er den Grundstein für die moderne Analytik schneller Vorgänge.
Etwa zur selben Zeit beschäftigte sich der Engländer Arthur Mason Worthington (1852–1916) mit der »Fluidmechanik«, also dem Verhalten von Flüssigkeiten unter Einwirkung äußerer und innerer Kräfte. Angeregt von einem Schuljungen, der Tintentropfen auf eine mit Ruß beschichtete Glasplatte fallen ließ und damit charakteristische Muster auf der Oberfläche erzeugte [2], experimentierte er mit Quecksilber-, Wasser-, Milch- und Alkoholtropfen und versuchte ihre Verformung beim Auftreffen zu dokumentieren. Da ihm zur Beobachtung nur seine bloßen Augen zur Verfügung standen, mit denen ein zerplatzender Tropfen unmöglich analysiert werden konnte, griff Worthington auf einen physiologischen »Trick« zurück. Er benutzte einen elektrischen Funkenüberschlag als Lichtquelle, der den momentanen Zustand des Tropfens auf seiner Netzhaut quasi »einbrannte«, so dass er ihn als Zeichnung zu Papier bringen konnte.
Die Vorrichtung, die Worthington zu diesem Zweck konstruierte, bestand aus zwei Hebeln, die um ihre Querachse drehbar gelagert waren und mit Hilfe eines Gummizugs gespannt wurden. Mittels kleiner Eisenringe an ihren Enden wurden sie von Elektromagneten fixiert. An einem Hebel war ein Uhrenglas befestigt, das die Flüssigkeit enthielt, der andere trug einen waagerechten Ring, auf dem eine Elfenbeinkugel, genannt Timing Sphere, lag. Beide Elektromagneten waren elektrisch in Reihe geschaltet, so dass bei Unterbrechung des Stromkreises beide Hebel gleichzeitig nach oben schnellten. Damit verloren Tropfen und Kugel gleichzeitig den »Boden unter den Füßen« und fielen nach unten. In dem Moment, wenn der Tropfen auftraf und zerplatzte, berührte die Kugel einen Kontakt und löste den Funken aus. Durch eine kleine Veränderung ihrer Fallhöhe konnte der Zündzeitpunkt in Millisekundenschritten verschoben werden. Auf diese zeitraubende Art und Weise gelang es Worthington, den kompletten Vorgang des Zerplatzens in einige Dutzend Einzelbilder aufzulösen und zu dokumentieren [3]. Seine Experimente bildeten die Grundlage für verschiedene mathematische Modelle zum Verhalten von Flüssigkeiten, die er in der Folgezeit aufstellte [4].
Worthingtons Aufbau zum Fotografieren fallender Tropfen
Etwa zwanzig Jahre später wiederholte Worthington – mittlerweile Professor für Physik am Royal Naval Engineering College in Devonport – die Versuche mit dem Ziel, eine vollständige Abfolge des Vorgangs mit Hilfe der inzwischen etablierten Fotografie aufzuzeichnen. Bis...