TROST UND HILFE AUS DEM JENSEITS
Die Diagnose des Oberarztes der onkologischen Abteilung eines bedeutenden Krankenhauses zum Krebsbefund des 57-jährigen Patienten Helmut D. war niederschmetternd. Er sprach mit seiner Ehefrau Elvira und nahm größtmögliche Rücksicht auf ihr Empfinden. Sichtlich erschüttert teilte er ihr mit:
„Nach unseren Tests liegt die Überlebensrate Ihres Mannes bei 15 %.“
„Und was heißt das konkret?“
„Frau D., diese Mitteilungen bedrücken mich immer ganz furchtbar. Denn ich leide mit den Patienten und ihren Angehörigen immer unglaublich mit. Dieser Befund ist nicht gut. Wir tun mit Operation, Bestrahlung und Chemotherapie alles erdenklich Mögliche. Aber es sieht nicht gut aus. Eine Operation haben wir durchgeführt. Es schien auch zuerst alles gut zu verlaufen. Aber jetzt stehen wir vor der Entscheidung, ob wir Ihren Mann auch noch durch Bestrahlung oder gar Chemotherapie geradezu quälen sollen.“
„Kann denn nicht doch noch dadurch geholfen werden? Sehen Sie, Herr Doktor, wir haben zwei Kinder. Das Mädchen ist neunzehn Jahre alt, der Junge fünfzehn. Da brauchen wir doch noch ganz besonders den Vater und ich den Mann.“
„Ja, Frau D., ich werde es dem Chefarzt berichten. Danach gebe ich Ihnen Bescheid.“
Frau D. war tapfer. Sie sagte weder ihrem Mann, wie schlimm es um ihn stand, noch zeigte sie den Kindern ihren Kummer. Sie kämpfte in ihrer Anwesenheit mit den Tränen und weinte nur heimlich.
Der Chefarzt verordnete nach reiflicher Überlegung zunächst fünf Bestrahlungen und dann noch einmal fünf weitere. Danach zeigte sich, dass keine von ihnen irgendeinen Erfolg gebracht hatte. Wegen der Schwere der Krankheit hatten Chef- und Oberarzt den Patienten nicht entlassen und ihn nicht ambulant behandeln lassen. Er lag also immer noch im Krankenhaus. Nun sprach der Oberarzt wieder mit Frau D.:
„Es tut mir geradezu weh, Ihnen sagen zu müssen, dass die bisherige Behandlung keinen Erfolg hatte. Auch ein Versuch mit einer Chemotherapie wird kaum Erfolg haben. Wir überlegen uns, ob wir es verantworten können, Ihren Mann dieser quälenden Belastung zu unterziehen.“
Frau D. versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Der Oberarzt merkte es und sagte mitfühlend, sie möge ruhig ihren Empfindungen freien Lauf lassen.
In den nächsten Tagen rang sich Frau D. dazu durch, dem Oberarzt zu sagen, man möge ihrem Mann Linderung ermöglichen, wenn man ihn schon nicht retten könne. So geschah es auch. Der Schwerkranke erhielt schmerzlindernde Infusionen, durch die er meist in einem erträglichen Halbschlaf verbrachte. Auch räumte man der Familie mit dem Schwerstkranken ein Einzelzimmer ein, in dem niemand sonst die erschütterte Familie mit ihrem todkranken Mann und Vater in irgendeiner Weise störte. Selbstverständlich hatte man den Patienten in diesem Zustand nicht entlassen.
In den Momenten des weitestgehend vollen Bewusstseins sprach Herr D. offen mit seiner Frau und den beiden Kindern. Er sagte seiner Frau ganz unumwunden, dass es mit ihm schrecklich stehe und dass er es vermute, ja mehr noch, dass er es fühle:
„Elvira, machen wir uns nichts vor. Mit mir geht es bald zu Ende. Gern hätte ich noch bei Euch gelebt. Aber es ist nun mal nicht so. Deshalb lass mich noch sagen, worauf Du nach meinem Abschied achten musst.“
Elvira D. unterbrach ihn mit ihrem Schluchzen. Und je mehr sie versuchte, ihren Schmerz zu unterdrücken, umso mehr musste sie weinen.
Die 19-jährige Tochter weinte ebenso herzzerreißend mit, der 15-jährige Sohn kämpfte tapfer mit den Tränen und schaute in dumpfem Schmerz vor sich hin. Er wollte dem Vater nicht zusätzlichen Kummer bereiten. Der Vater merkte es und sagte – durch die Linderungsmittel in einem beruhigten Zustand:
„Lasst Eurem Schmerz ruhigen Lauf. Das tut der Seele gut. Seid nicht traurig. Wir müssen das Leben so nehmen, wie es ist. Ich habe Euch alle drei von ganzem Herzen lieb.“
Dann versank er wieder in seinen Halbschlummer.
Seine Frau und die beiden Kinder blieben an seinem Bett und verließen es nur abwechselnd, um eine Kleinigkeit zu essen. Auch nachts blieben sie wechselweise wach. Die Frau wachte in einem ans Bett des Todkranken gerollten weiteren Bett. Die Kinder übernachteten auf Matratzen am Boden, wenn sie nicht neben dem Bett des Vaters wachten und ihm die Hände hielten.
Am letzten Abend erwachte der Kranke noch einmal aus seinem Halbschlummer, sah seine bleiche Frau und die verhärmten Kinder lange an und sagte dann zu ihnen:
„Seid nicht ängstlich. Ihr lebt ja weiter und seid versorgt. Das habe ich geregelt. Ich gehe ja nur in eine andere Welt. Von dort werde ich zu Euch Kontakt halten.“
Dann fiel er wieder in seinen Halbschlummer. Er wachte daraus nicht mehr auf. Gegen Morgen merkte seine Frau, dass seine ursprüngliche Kurzatmigkeit nun gegen Morgen langgezogenen Atemzügen gewichen war. Er atmete immer länger, und jedes Mal hatte Elvira den Eindruck, dass der jeweils neue Atemzug ihrem Mann immer schwerer fiel. Sie weckte deshalb die beiden Kinder, die auch sofort auf die andere Seite des Krankenbettes gingen und die rechte Hand ihres sterbenden Vaters hielten.
Nach etwa zehn Minuten atmete der Todkranke ganz langgezogen ein. Und dann hörte seine Familie nichts mehr. Elvira und die Kinder horchten angestrengt, wann er denn wieder ausatmen würde.
Aber solange sie auch angespannt hinhorchten – sie hörten nichts mehr.
Still und in sich gekehrt weinten sie in sich hinein. Sie unterdrückten ihr Schluchzen, um den Sterbenden nicht noch mehr zu belasten. Und dann kam auch die Nachtwache, ein Krankenpfleger, um wieder nach der Infusion zu sehen. Aber er merkte auch sofort, dass der Schwerstkranke offenbar gestorben war. Er fragte, wann der Patient wohl aufgehört habe zu atmen. Mit vor Tränen fast erstickter Stimme nannte Elvira die vermutliche Zeit. Darauf verständigte der Krankenpfleger die ebenso wachhabende Ärztin, die den Patienten auf seinen Lebens- oder Todesstatus hin eingehend untersuchte. Sie stellte seinen Exitus, also seinen Tod fest und kondolierte den Angehörigen in mitfühlenden und warmherzigen Worten.
Nun ließen Elvira, seine Frau, und beide Kinder ihren Tränen freien Lauf. Dabei liebkosten sie den langsam erstarrenden Toten. Erst allmählich wurde seiner Frau und den beiden Kindern klar, dass ihr Mann und Vater gestorben und heimgegangen war. Sie wachten noch lange weiter am Totenbett, bis Elvira ihren Kindern gefühlvoll sagte, nun müssten sie nach Haus zurückkehren und für eine würdige Bestattung und die Gottesdienste sorgen.
Die folgenden Tage spürten Elvira und ihre Kinder wegen der vielen mit Gottesdiensten und Bestattung verbundenen Verpflichtungen nicht in voller Härte den Tod ihres Mannes und Vaters. Auch die folgenden rechtlichen Regelungen ließen vor allem der Witwe kaum Zeit für Trauer und innere Einkehr. Dass ihr verstorbener Mann rührend für seine Familie gesorgt hatte, nahm Elvira D. nur wie durch einen Nebelschleier wahr.
Aber dann kam bald die große Leere – vor allem für Elvira. Sie klammerte sich besonders intensiv an ihre Kinder. Doch gingen diese bei aller Trauer dann doch ihren eigenen Weg, vor allem die 19-Jährige.
Ganz besonders spürte die Witwe spätabends und in der Nacht ihr Alleinsein. Sie weinte still vor sich hin. In Anwesenheit der Kinder hielt sie sich tapfer und unterdrückte ihre Trauer, um es den Kindern nicht noch schwerer zu machen.
Regelmäßig besuchten sie das Grab des Verstorbenen. Jeder Besuch erfüllte sie von Neuem mit Schmerz und Trauer, gab ihnen aber auch Trost und Kraft für ihr weiteres Leben. Sie hatten das Gefühl, sie hätten Mann und Vater besucht, und er sei doch nicht ganz weg von ihnen.
Und das war er auch tatsächlich nicht:
Denn an einem Spätabend saß Elvira im Wohnzimmer, war von tiefer Trauer umfangen und weinte lautlos vor sich hin. Da geschah es:
Auf einmal wurde es vor ihr ganz hell. Und in dieser Helligkeit sah sie ihren Mann.
Doch lassen wir sie selbst berichten:
Ich saß im Wohnzimmer ganz allein und weinte still in mich hinein. Ganz einsam fühlte ich mich, eben allein. Ich gab mich einfach meiner Trauer hin. Was hätte ich auch sonst tun sollen?
Mit meinem großen Kummer war ich ganz allein und konnte kaum richtig aus den Augen blicken. Da – auf einmal, was war das? Es wurde vor mir ganz hell. Ich traute meinen Augen nicht. War etwas mit den Lampen nicht in Ordnung? Woher kam denn plötzlich diese Helligkeit? Ich schaute besonders aufmerksam im Wohnzimmer rund um mich herum. Aber es blieb so hell. Da geschah es: In diesem besonders hellen Licht sah ich meinen verstorbenen Mann. Ja, es war tatsächlich mein Mann, aber nicht mein Mann auf dem Sterbebett, sondern aus früheren Zeiten, als er noch gesund und voller Lebenskraft gewesen war.
Träumte ich? Aber ich hatte doch noch nicht geschlafen. Wie konnte ich denn in wachem Zustand so etwas erleben, so einen Erlebniseindruck haben?
Wie ich noch darüber nachdachte, ob ich träume oder irgendeiner Halluzination erliege, da sah mich mein Mann liebevoll an und sprach mit mir:
„Elvira, liebe Elvira, ich habe Dir doch gesagt, dass ich...