Welchen Himalaya hätten Sie gern?
Kanak Mani Dixit
Willkommen im Himalaya! Merkwürdige Dinge geschehen hier, denn dies ist das Land der Mystik, dem Himmel nah und doch so irdisch. Wer auf einem Hügel am Rand des Kathmandu-Tals steht, kann die Erdkrümmung als 450°Kilometer lange Schneekurve sehen, die sich vom Gipfel des Kangchendzönga im Osten bis zum Dhaulagiri im Westen windet. Wer aus dem Space-Shuttle zum Himalaya hinabsieht, entdeckt einen gekrümmten Tausendfüßler, der aus den Steppen Zentralasiens nach Süden rutscht.
Dies ist der gewaltigste Gebirgszug des Globus, bewohnt von 40 Millionen Menschen. Geografie, Klima und Geschichte haben hier so viele unterschiedliche Kulturen entstehen lassen wie in kaum einer anderen Region dieser Welt.
Doch der Himalaya hat ein Imageproblem. Es ist ein Problem, das sich andere Drittweltregionen wünschten: die Verklärung bis zur Unkenntlichkeit. Der Westen mythologisiert den Himalaya, um dort sein »Shangri-La« bewahren zu können, jenes Land, in dem nicht Materialismus und Konsumdenken vorherrschen, sondern Spiritualität das Handeln der Menschen lenkt.
Natürlich ist das ein Trugbild. Von den Balti im Karakorum bis zu den Naga im äußersten Osten treibt die Völker des Himalaya ein ähnliches Erwerbsstreben voran wie den Rest der Menschheit. Der einzige Unterschied: Sie sind spät dran. Die geografische und historische Isolation verhinderte lange Zeit ihren Anschluss an die moderne Warenwelt. Doch sobald das Angebot da ist, entsteht die Nachfrage.
Ein alltägliches Beispiel mag für zahllose stehen: Als 1994 erstmals Hubschrauber in der oberen Everest-Region landeten, was tat da, im Bergdorf Thame, das weibliche Oberhaupt einer Großfamilie? Die Frau benachrichtigte sogleich ihren Sohn in Kathmandu, dass er einen Sack Kunstdünger hinauffliegen lassen sollte.
Doch derlei Ereignisse werden ausgespart von jenen, die den Rohstoff liefern für den Mythos Shangri-La: von Schriftstellern, Bergsteigern, Reiseagenturen. Und von Filmemachern wie Bernardo Bertolucci. Dessen Film Little Buddha, gedreht 1993, illustriert den Hang zur Verzuckerung. Um Siddhartha Gautamas Wandel vom verwöhnten Prinzen zum asketischen Guru darzustellen, nimmt uns der Regisseur des Letzten Tangos in Paris mit zu den imposanten Klöstern Bhutans und den Reisterrassen im Kathmandu-Tal. Doch von der Region, in der Buddha tatsächlich gelebt und gepredigt hat, dem staubigen Tiefland im indischen Bihar, sehen wir fast nichts.
All dies hat plausible Gründe. Wer zu den Galapagosinseln reist, ist an Naturgeschichte interessiert. Ans Mittelmeer zieht die Touristen die Lust auf Strand und Sonne, nach Kenia fahren sie wegen der Safaris. Am Himalaya reizen sie vornehmlich zwei Dinge: die majestätischen Berge und die tibetisch-buddhistische Kultur. Und weil beides zusammenhängt – viele Bergvölker verehren die Gipfel als Götterthrone –, weil hier Mensch und Natur in vermeintlicher Eintracht leben und weil zudem der Westen diese Welt Ende der Sechzigerjahre »entdeckte«, zu einer Zeit, als sich bei den wohlhabenden Nationen die ersten Sättigungsgefühle einstellten und sie sich auf die Suche nach spirituellen Gegenentwürfen begaben –, weil also all dies so ist, lebt Shangri-La noch heute. Die Gralsburg des Glaubens, erfunden von dem Romanschriftsteller James Hilton vor rund sechzig Jahren, liegt hoch oben im wolkenumwölbten Himalaya.
Die Hartnäckigkeit des Mythos erstaunt insbesondere jene Völker, die in den mittleren Lagen des Himalaya leben, größtenteils Hindus. Mit Verwirrung und Enttäuschung verfolgen sie, wie die Touristen ohne weiteren Seitenblick zu den Hochtälern aufsteigen. Ausgerechnet diese abweisenden Regionen, von den Bewohnern der grünen Mittelgebirge lange Zeit verachtet als Heimat rückständiger Völker aus Tibet, stehen bei den reichen Ausländern im Mittelpunkt des Interesses. Wie seltsam. Bis heute veröffentlicht die Tageszeitung The Rising Nepal regelmäßig Leserbriefe, in denen Dorfbewohner von einem wundervollen See oder Wald berichten, der sich als Touristenattraktion vermarkten ließe – wenn nur die Regierung sich endlich entschließen könnte, dort ein Hotel oder Ähnliches zu bauen. Niemand hat sich die Mühe gemacht, den braven Dorfbewohnern zu erläutern, was die Besucher aus dem Westen tatsächlich reizt.
Besucher reizt die Exotik der Gebirgswelt, und das ist weder verwerflich noch verwunderlich. Erstaunlich ist nur, mit welcher Bereitwilligkeit sie dabei allerlei spiritistischen Unsinn über unsere Heimat akzeptieren. Eines der meistverkauften Himalaya-Bücher weltweit ist Auf der Spur des Schneeleoparden von Peter Matthiessen. Doch das Buch tut nur so, als nehme es den Leser mit auf einen Treck durch Dolpo, tatsächlich zerrt es ihn auf eine Expedition durch das angstzerfressene Unterbewusstsein des Autors. Stones of Silence von dem Zoologen George Schaller, der Matthiessen durch Dolpo begleitete, hat sich weitaus schlechter verkauft: Schaller schreibt über Wildbestand und Artenschwund.
Haben Sie schon einmal von Mustang gehört? Von jener nepalesischen Grenzregion, die wie ein Daumen nach Tibet hineinragt und erst 1992 für Touristen geöffnet wurde? Das entlegene Hochtal besitzt alles, was ein Besucherherz erfreuen könnte: ein kleines, tibetisch sprechendes Volk namens Loba, einen Raja, der eine Art König ist, eine archaische, mauerbewehrte Stadt, viele uralte Klöster, von keinen Roten Garden aus Beijing verwüstet. Mustang ist tibetischer als Tibet selbst.
Die Faszination ist real – und reicht dennoch manchen nicht aus. Ein Team des japanischen Fernsehsenders NHK, das einen Dokumentarfilm über Mustang drehte, bezahlte nepalesische Polizisten dafür, drohend auf den Lehmdächern der Hauptstadt zu stehen, die Gewehre im Anschlag – so, als wagte sich das Team in ein schwer bewachtes Fort. Die Kontrolle der Passierscheine, normalerweise nur belanglose Routine, präsentierte der Film später mit einer Dramatik, als werde jeder Besucher ohne die richtigen Stempel sofort aufgehängt. Ein Filmteam des US-Senders Discovery wiederum ließ 1993 in seinem Dokumentarfilm einen buddhistischen Mönch das »heimatliche« Mustang erklären. Der Mönch stammte jedoch aus Indien und war vom Team in Kathmandu engagiert worden. Auf dem Festival der Bergfilme im kanadischen Banff errang der Streifen 1994 den ersten Preis.
Was unsereins mit grimmigem Lachen erfüllt, wenn wir solche Geschichten hören, ist das Wissen, dass der Himalaya und insbesondere Mustang solches Aufbauschen gar nicht nötig haben. Denn das »abgeschiedene Königreich«, als das Mustang dem staunenden Ausland immer wieder präsentiert wird, birgt ein Geheimnis, das noch kein Film enttarnt hat.
Jedes Jahr, wenn kurz nach Abzug der Touristen der Winter naht, brechen die meisten Männer Mustangs nach Süden auf. Sie tragen Kräuter und Ammonitsteine zu den Märkten der nepalesischen Stadt Pokhara und finanzieren mit einem Teil ihrer Erlöse eine Zugreise nach Jullundur, einer Industriestadt im indischen Punjab. Dort erwerben sie riesige Ballen von Pullovern aus Acryl. Anschließend durchreisen sie Indien Richtung Osten und verkaufen die Pullover an den Straßen. Sie sind klug, die Loba, sie wissen, wie begehrt »echte tibetische Wollwaren« sind. Sie wissen auch, wo sie während ihrer einträchtigen Überwinterung in wärmeren Zonen am günstigsten unterkommen: in Auffangstationen der indischen Regierung für tibetische Flüchtlinge.
Die Loba ziehen nur bis Indien. Ihre Nachbarn in Nepal, die Manangpa aus dem abgelegenen Manang-Tal, pendeln als Handelsreisende bis nach Bangkok und Hongkong – ehe sie im Frühjahr zurückkehren zu ihren Yaks auf den Hochweiden.
Die Loba und die Manangpa finden sich in beiden Welten zurecht. Die Anpassungsfähigkeit, mit der sie Jahrhunderte der Entwicklung regelmäßig vor- und zurückspringen, ist unglaublich. Gibt es irgendein Volk in Europa, das Ähnliches vermag?
Dies ist das Exotischste an Mustang – ohne dass es jene Faszination verringert, die Mustangs Klöster und Berge ausstrahlen. Beides gehört zusammen, beides ist real, jede Verklärung unnötig. Und das gilt für den gesamten Himalaya-Raum. Wer ihn unvoreingenommen durchwandert, wer davon ausgeht, dass der Menschen Wünsche und Sorgen hier grundsätzlich nicht anders sind als in den Provinzen Europas, der wird eine Wirklichkeit entdecken, die vielfältiger und aufregender ist als der matte Glanz von Shangri-La.
Umso erstaunlicher bleibt der unaufhörliche Nachschub an Mythen und Märchen, der aus dem Himalaya schwappt, gewiss mehr als aus irgendeiner anderen Reiseregion. Obwohl seit Jahrtausenden Pilger, gerüstet nur mit ihrem Glauben, ohne größeres Aufsehen wochenlang über Schneepässe wandern, fühlt sich heute jeder zweite Trecker, der einige Zeit in 5000 Meter Höhe marschiert ist, auf seltsame Weise gedrängt, über diese Extremerfahrung ein Buch zu schreiben oder zumindest einen dramatischen Bericht.
Nun, es ist wohl ungerecht oder zumindest illusorisch, von jedem Besucher zu erwarten, sich der Faszination von Klischees entziehen zu können. Touristen sind hier, um Urlaub zu machen. Und es ist eben weitaus fesselnder, Buddhas Augen auf dem gewaltigen Stupa von Bodnath zu betrachten als das, was diese Augen erblicken: die zementgrauen Häuserblocks von Kathmandu, die täglich weiter in das fruchtbare Tal wuchern.
Vier weit...