1. Erste Fallgeschichte
Mein langer, sinnloser Kampf gegen religiöse Zwangsgedanken
von G. F.
Stellen Sie sich bitte vor, Sie werden gefragt, wie es Ihnen geht und Sie antworten: »Danke, körperlich gut, aber ich leide sehr unter religiösen Zwangsgedanken.« Erstaunen und Unverständnis Ihres Gegenübers wären sicher groß.
Religiöse Zwangsgedanken und ihre Äußerung stehen unter einem absoluten Tabu, fest installiert durch den eigenen inneren Richter. Er bewertet es als das Schlimmste, das ein Mensch tun kann, und spricht das Todesurteil.
Das Innerste kann die im Hintergrund ständig lauernden und jederzeit überfallartig einschießenden Gedanken und Impulse nicht annehmen. Man erlebt mit unglaublicher Ohnmacht und gleichzeitig bei klarem Verstand, dass man die gefürchteten Gedanken mit dem Willen nicht verhindern kann. Im Gegenteil: Je mehr ich einen Gedanken nicht will, desto mehr muss ich ihn denken. Dafür gibt es in Psychologie oder neuerer Hirnforschung genügend Beweise.
Das subjektive Gefühl, man sei der einzige und allerschlimmste Mensch auf der Welt, der solche Gedanken und Einfälle hat, steigert die Ausweglosigkeit. »Wer so etwas denkt, hat den Tod verdient – im Iran wäre ich schon längst wegen Gotteslästerung hingerichtet worden –, ich bin schlimmer als Hitler oder ein anderer Massenmörder.« So oder so ähnlich erfolgt die verheerende subjektive Selbstbewertung der Zwangsgedanken.
Das Unaussprechliche darf nicht ausgesprochen werden, auch nicht in der Therapie, sagt das Tabu. Mein erster Therapeut drohte mit dem sofortigen Abbruch der Therapie, wenn ich nicht endlich die Gedanken ausspreche. Auch die engsten Familienmitglieder standen hilflos meinem streng gehüteten Geheimnis gegenüber, weil sie nichts von dem Tabu wussten. Die panische Angst vor der späteren, unweigerlich folgenden Strafe durch ewige Verdammung in der Hölle verhindert Äußerungen über die Zwangsgedanken.
In dieser äußersten Notsituation liegt nichts näher als der vergebliche Versuch, die Zwangsgedanken irgendwie in den Griff zu bekommen oder in Schach zu halten. Der Versuch der Vermeidung ist mit stärkster innerer Spannung verbunden. Wie kann man einen Gedanken, den man ja bei sich selbst nicht zulassen kann, vermeiden oder ungeschehen machen? Man wird erfinderisch im Vermeiden, zum Beispiel durch Neutralisieren oder einer Zwangshandlung.
Aus panischer Angst vor dem Gedanken »Gott sei verflucht« muss die innere Abwehr, die es anscheinend mit dem armen Ich gut meint, zwanghaft ständig denken: »Gott sei nicht verflucht.« Der Zusatz durch das Wort »nicht« kommt zu Hilfe. Dann muss man dauernd denken: »zur Hölle mit Gott nicht«. Kann man den Gedanken »Gott sei verflucht« nicht mehr durch das Wort »nicht« neutralisieren, hilft eine magische Zwangshandlung, also zum Beispiel: »Gott ist verflucht, außer ich berühre sofort den Tisch.« Das Vermeidungssystem wird schließlich selbst zu einem Terrorsystem. Da unser Denken in Assoziationen verläuft, kann ein einfacher Schöpflöffel in der Küche plötzlich dazu führen, dass Angst entsteht, etwas gegen den Schöpfer der Welt denken zu müssen.
Sowohl neue Einfälle als auch neue Abwehrstrategien wuchern wie Krebs und beherrschen das Denken. Je mehr ich versuche, den Zwangsgedanken durch Abwehr zu vermeiden, desto mehr überlistet der Gedanke meine Abwehr immer wieder. Um das Wort »Kreuz« zu vermeiden, kann ich zwar sagen, dass ich Rückenschmerzen habe, aber ich kann aus einer Kreuzfahrt keine Rückenfahrt machen. Auch bei dem urplötzlich aus heiterem Himmel einschießenden Gedanken beim Anblick von Pilzen zu denken, dass Gott keinen Pfifferling wert ist, ist die Abwehr schwierig. Der Gedanke: »Gott ist doch einen Pfifferling wert«, bringt nicht viel. Als Abwehr muss ich also irgendeine Zwangshandlung erfinden.
Dem Einfallsreichtum der Gedanken sind keinerlei Grenzen gesetzt. Vermeidung und Abwehr kommen kaum noch nach. Wenn aus Tomatensaft plötzlich das Blut Christi wird, das man nicht beleidigen darf, wechselt man zu Apfelsaft. Ein Stück weggeworfener Kaugummi wird zu einer Hostie, auf die man nicht treten darf.
Was soll die Abwehr tun, wenn beim Anblick einer schönen Orgel mit Lichtgeschwindigkeit der Gedanke »Gott ist doch die größte Pfeife von all diesen Orgelpfeifen« überfallartig kommt? Kaum ist man mit viel Mühe allen Kirchen und Kreuzen aus dem Weg gegangen, sitzt man in Bayern in einer Wirtschaft direkt unter einem Kreuz, und der Titel des letzten Wildwestfilms »Hängt ihn höher« oder das Schild in der Metzgerei nebenan mit der Aufschrift »Fleisch, gut abgehangen« schießt wie ein Blitz durch den Kopf. Wie kann man der Musik aus dem Film »Verdammt in alle Ewigkeit« entgehen, wenn sie im Radio kommt? Oder die Panik, beim Filmtitel »Fahr zur Hölle, Liebling« das letzte Wort durch »Gott« ersetzen zu müssen? Der an sich richtige und hilfreiche Satz »Es ist nur ein Gedanke« verfehlt seine Wirkung, denn für die vernichtende Selbstbewertung der Zwangsgedanken ist es ein himmelweiter Unterschied, ob zum Beispiel »Der Baum ist grün« oder »Gott sei verflucht« gedacht wird.
1943 geboren, in den katholischen Glauben hineingewachsen, kam ich schon früh als Kind in eine krank machende kirchliche Moral, zum Beispiel durch den sogenannten Beichtspiegel, der zu einem Leitfaden für die Verdrängung negativer Gefühle oder Gedanken werden kann. Die kirchliche Konstruktion der Gedankensünde – als Kind musste man zum Beispiel beichten, ob man Unkeusches gedacht hatte – bewirkte eine ungeheure Bemühung, Unbewusstes zurückzudrängen und die Tendenz zur Abspaltung; ein guter Nährboden für Zwangsgedanken. Dazu kamen Begriffe wie »Hölle« oder »ewige Verdammnis«, die sich bis heute in mir festkrallen. Diese Begriffe verbanden sich mit der Aussage von einem liebenden Gott, eine Ambivalenz, wie sie stärker nicht sein kann. Wenn dann noch der Begriff der Ewigkeit negativ besetzt wird, kann die Panik nicht größer sein. Eine Sekte verteilte ein Blättchen, in dem die Ewigkeit mit Zeitbegriffen verbunden war. Das bedeutete dann für jeden weiteren Verfluchungsimpuls mindestens eine Milliarde Jahre mehr an Verdammung mit allen dazugehörigen mittelalterlichen Vorstellungen. Auf die Frage, wie lange die Ewigkeit dauert, antwortet ein Rabbi: Alle tausend Jahre wetzt ein Vogel seinen Schnabel am höchsten Berg. Wenn der ganze Berg abgetragen ist, dann ist eine Sekunde der Ewigkeit vorbei. Wenn man denkt, wie lange schon eine Sekunde beim Zahnarzt sein kann, müsste man auf der Stelle verrückt vor Panik werden bei dem Gedanken an die Ewigkeit. Ich beneide jeden, der über solche Gedanken lächeln muss.
Mein erster Psychotherapeut war zugleich katholischer Priester und Analytiker. Einerseits hatte er Verständnis und Wissen über Zwänge, andererseits beichtete ich bei ihm die blasphemischen Gedanken. Es endete dann in einem Exorzismus – von dem er sich später distanzierte –, der mir die endgültige Gewissheit gab, nun vom Teufel besessen zu sein. Die Beichte von religiösen Zwangsgedanken ist aber trotz Absolution und kurzfristiger Erleichterung deshalb kontraindiziert, weil der zur Beichte gehörende Vorsatz, etwas nicht mehr zu tun, bei Zwangsgedanken unmöglich ist. Immer wieder wird, einem Schluckauf im Gehirn vergleichbar, eine Neuschöpfung produziert oder eine raffinierte Falle gestellt, zum Beispiel der Gedanke: »Ich will verdammt sein, wenn ich nicht verdammt bin.« Wie komme ich aus dieser Zwickmühle heraus?
Beruflich war ich viele Jahre als Sozialarbeiter tätig. Von den Klienten oder Patienten her gesehen war ich ein einfühlsamer und verständnisvoller Gesprächspartner. Makaber aber war es dann, wenn ich in meiner Tätigkeit beim Sozialdienst eines großen psychiatrischen Krankenhauses das Pech hatte, einer Patientin gegenüberzusitzen, die um den Hals einen Anhänger mit einem Kreuz trug. Unter innerer Hochspannung und Weglauftendenz nahm ich Anteil an ihrer Leidensgeschichte und gleichzeitig rotierte wie wild geworden der Abwehrgedanke: »Das Kreuz ist nicht verflucht.«
Hilfreicher als eine Psychoanalyse, der ich mich unterzog, war für mich eine umfangreiche Verhaltenstherapie. Im Lauf vieler Jahre hatte ich neben einer längeren Psychoanalyse und tiefenpsychologischer Einzeltherapie umfangreiche und längere Erfahrungen mit der Verhaltenstherapie, sowohl in Einzel- und Gruppensitzungen als auch durch einen stationären Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik.
Die Verhaltenstherapie will, dass Gedanken und Impulse zugelassen und nicht vermieden werden. Aber würde dadurch nicht der biblische Tatbestand der Lästerung Gottes erfüllt sein?
Zu meinen Aufgaben in der Verhaltenstherapie gehörte es, alle Verfluchungsgedanken und Einfälle aufzuschreiben und vorzulesen oder diese in einer Kirche oder vor einem Kreuz auszusprechen, sie aufzunehmen und immer wieder abzuhören. Der Anblick des Gemäldes »Höllensturz der Verdammten« gehörte ebenso dazu. Auch nach dem Aufschreiben und Aussprechen der religiösen Zwangsgedanken versuchte ich immer noch, mich mühsam davon innerlich zu distanzieren, indem ich sozusagen alles wie eine Hausaufgabe hinter mich brachte. Beim Abhören der Kassette mit den Verfluchungen empfand ich eine Abspaltung und meine Stimme kam mir wie die eines Fremden vor.
Der Versuch, in der Bibel Trost zu finden, ging leider völlig daneben, da ich mit zuverlässiger Sicherheit Stellen fand, die mich erneut mit Panik erfüllten, zum Beispiel »Wer glaubt, wird gerettet werden; wer nicht glaubt, wird verdammt werden« oder: »Fürchtet nicht die Menschen, sondern den, der in...