2. Davor – Hindurch – Danach:
drei Stadien der Wahrnehmungsverschiebung, dreierlei Erfahrungen von Würde
2.1 Wandlung ist mehr als Weg
E. Kübler-Ross, Pionierin im Bereich Sterbebegleitung, spricht von fünf Sterbephasen: Nicht-wahrhaben-wollen, Zorn, Feilschen, Depression, Zustimmung. Der Sterbeprozess scheint nach Kübler-Ross wie der Trauerprozess ein Durchgang durch Aufbäumung und Gefühlsintensität zu sein, bis schließlich so etwas wie Einwilligung geschieht. So viel kann ich aus meinen Erfahrungen bestätigen. Darin – wie auch im Mut, mit Sterbenden zu kommunizieren – erkenne ich bleibenden Wert in den Werken von Kübler-Ross. Dennoch bleibt eine solche Sicht für mich hinter dem Geheimnis des Sterbens zurück. Kritiker betrachten den Ansatz von Kübler-Ross als zu linear und pathologisierend (Samarel, 1995). Kübler-Ross beschreibt mit diesen Phasen nicht das, was spezifisch auf das Sterben hin geschieht, sondern den inneren Weg bis zur Einwilligung, wie er nach jedem Diagnoseschock, schwerwiegenden Verlust und Schicksalsschlag ansteht.
Weg und Wandlung sind zweierlei. Vor dem Sterben ereignet sich größtmögliche Wandlung, auch Bewusstseinsveränderung. Derweil ein Weg für das Ich nachvollziehbar und vom Ich mehr oder minder aktiv »begehbar« ist (linear), ist das Ich in eine Wandlung hineingenommen, passiv. Davor und mittendrin stößt das Ich in solchem Ausmaß an Grenzen, dass es aufhören muss zu denken, zu verstehen, zu erwarten. Es muss sich selbst preisgeben. Die Wandlung vor/im Sterben führt in ungeahnte Dimensionen hinein, in der Metapher gesprochen vom Linearen des Lebens ins Runde des Seins. Auch weitere wichtige Sterbemodelle, die etwa auf Wege von Reifung (Wittkowski, 2004) oder auf Copingstrategien und Einstellungen (Corr, 1991–1992) fokussiert sind,7 beschreiben eher »Wege« als »Wandlung«. Das sich verändernde Bewusstsein und das Phänomen Wahrnehmungsverschiebung sind nicht thematisiert. Da wie dort ist das Akzeptierenkönnen wichtig (Kübler-Ross, 1974; Kast, 1982; Tomer, Eliason und Wong, 2008; Wittkowski, 2004; Corr, 1991–1992), was in sich schon äußerste und wiederkehrende Herausforderung ist. Der vorliegende Ansatz aber bringt die Frage der Einwilligung in ein Verhältnis zum inneren Wandlungsprozess, zur noch fundamentaleren Wahrnehmungsverschiebung: Für Sterbende ist eine der zentralen Herausforderungen, in ein komplettes Loslassen (und damit in Wandlung) einzuwilligen. Bejahung ist sowohl Bedingung, damit »es« geschieht, als auch Ausdruck des Ereignisses (vgl. Kap. 6.3). Bejahung wird hier als Faktor im Prozess, aber nicht als Oberthema betrachtet (vgl. Figur 1, Anhang). Das Prioritäre ist die Wandlung vom Ich zum Sein, und dies in jener Radikalität, die dem Ende unseres Daseins als Ich innewohnt. Der Körper als Verkörperung (auch Verdichtung, Verstofflichung) dieses ich-bezogenen Subjekts stirbt! Mit diesem Sterben – und dieses auch einleitend – verliert sich die Wahrnehmung im Ich und das Erleben als ein Ich. Dieses Buch betrachtet diese Wahrnehmungs- und Bewusstseinsveränderung in der Todesnähe. Es ist darin Annäherung ans ewige Geheimnis und dies genau in der Doppelgesichtigkeit zwischen dem radikalen Ernst-nehmen der Zeugnisse Sterbender sowie den metaphorischen Aussagen von Religionen über Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) einerseits und dem Wissen, dass ich nichts weiß, andererseits. Die Aufrechterhaltung dieser Spannung scheint mir für einen würdigen Umgang mit Sterbenden und ihren letzten Fragen wichtig zu sein.
2.2 Würde inmitten von Leid – dreierlei Erfahrungsweisen
Würde, ein Kulturbegriff, ist ein tief humaner Wert – auch dort, wo er sinngemäß auf Tiere und Pflanzen erweitert wird. Würde appelliert an artgerechtes, wertschätzendes Verhalten. Gibt es eine Würde inmitten von Leiden? So zu fragen, ist provokant: Ist Leiden würdevoll? Immer nur im Konkreten ist ein Ja auf diese Frage möglich. Doch genau im Leid zeigt sich, dass Würde mehr beinhaltet als die leidvollen Umstände. Würde muss erfahren werden und auch emotional beim Menschen – auch beim leidenden Menschen – ankommen. Patienten lehrten mich, dass es drei Weisen gibt, Würde inmitten von Leid zu erfahren:
Würde im Leiden wird erfahren und erwächst
1) aus dem Gefühl heraus, ernst genommen und würdig behandelt zu werden
2) aus der Persönlichkeitsstärke im Aushalten, welche nie von außen abverlangt werden darf, aber doch von innen heraus immer wieder er-steht. Würde im Leiden hat zu tun mit jener inneren Größe, die standhält, innerlich aufrecht bleibt und das Narzisstische nochmals unterfängt. Würde ist dann Reifekriterium und zeichnet jenen Menschen aus, der sich nicht völlig mit seinem Leiden und seinen widrigen Umständen identifiziert, sondern sich innerlich nochmals dazu verhalten kann
3) aus dem unantastbaren Wert des Wesens und Individuums Mensch.
Der erste Aspekt ist gut nachvollziehbar. Der Ruf nach menschenwürdiger Behandlung und Betreuung wird heute gehört. Ihm wird vielerorts entsprochen. Dieses Buch rückt mit Blick auf die Würdethematik vor allem die indikationsorientierte Fragestellung in den Vordergrund: Welche Behandlung wird dem Patienten, seiner Situation und Wahrnehmungsweise gerecht (vgl. Kap. 6.3)?
Diesbezügliche Beratungsstellen sind etwa:
Der zweite Aspekt, ein Sich-nach-innen-Wenden und Abschreiten eines inneren Prozesses, ist nicht minder wichtig. Ein Erleben von Würde entsteht nämlich auch bei noch so kompetenter Betreuung nicht, solange der Patient die Umsorgung nicht annimmt, sich in seinem Stolz oder Widerstand nicht von der Liebe der Nächsten und Pflegenden berühren lässt und seine Kreatürlichkeit und Hinfälligkeit verleugnet. So verständlich Rebellion bisweilen ist, um im Leiden authentisch zu bleiben, so unerlässlich ist irgendwann das Loslassen und Sich-Anheimgeben. Die Frage der Würde im Leiden ist nicht nur abhängig von einem würdigen Umfeld, sondern auch von der eigenen Einstellung. Würde charakterisiert – in diesem zweiten Aspekt – jenen reifen Menschen, der sich trotz aller widrigen Umstände nicht völlig determiniert sieht, sondern noch fähig ist, sich innerlich dazu zu verhalten und dies auf eine würdige (sachgerechte, prozessadäquate, dem Kulturwesen Mensch entsprechende) Weise. In dieser – hauchdünnen – geistigen Freiheit kommt innere Unabhängigkeit vom Schicksal zum Ausdruck, aber auch ein Bezogensein auf ein Letztes, man mag es Gott nennen oder auch nicht (vgl. Zeugnisse von E. Stein, D. Bonhoeffer). Solche Erfahrung von Würde im Leid ist tiefste Identitätserfahrung zwischen akzeptierter Abhängigkeit und Freiheit. Warum Abhängigkeit, warum Bezogensein? Würde ist ein Beziehungswort (vgl. Begriff Würdigung) ebenso wie Ausdruck von Autonomie, von einem positiven konstitutiven »Trotzdem«, was nicht identisch ist mit Trotz. Die Gleichzeitigkeit von Bezogensein und Autonomie ist – ob ausgesprochen oder still, ob in intellektuellen oder einfachen sozialen Verhältnissen – nur dem persönlichkeitsstarken reifen Menschen möglich. Vom Jakobskampf kennen wir die Worte: »Ich lasse dich nicht, es sei denn du segnest mich.« (Genesis 32,27) F. Rosenzweig, gelähmt, soll gesagt haben: »Ich, Staub und Asche, bin noch da.« (Rosenzweig, 1984, S. 127) Eine Frau, die gleichzeitig an Parkinson und Krebs litt, erklärte: »In den Verzweiflungen habe ich begonnen, immer wieder meinen Namen zu sagen. Ich weiß nicht wann, aber irgendwann war Gott ›da‹.« Ein junger, seit Jahren an den Rollstuhl gebundener Mann träumte, er stehe im Gegenüber des absoluten Lichtes. Eine weise Patientin resümierte: »Trotz allem,...