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E-Book

Historische Anthropologie zur Einführung

AutorJakob Tanner
VerlagJunius Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783960600091
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Wie wandeln sich Menschenbilder? Durch welche sozialen Praktiken organisieren Menschen ihr Zusammenleben? Und hat die menschliche Natur eine Geschichte? Entlang dieser Fragen gibt Jakob Tanner eine problemorientierte Übersicht über die Historische Anthropologie und argumentiert gegen eine Arbeitsteilung, welche die Natur zum Forschungsgegenstand der Anthropologen und die Kultur zu jenem der Historiker erklärt. Das Buch diskutiert, wie die Geschichtlichkeit des Menschen theoretisch und im Hinblick auf neue Forschungsansätze konzipiert werden kann.

Jakob Tanner ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich.

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Leseprobe

2. Vom Staunen in der Aufklärung zum Krisenbewusstsein um 1900


»Aber vergessen wir nie, dass das
Subjekt-Objekt der Geschichte der Mensch ist.
Der so ungeheuer vielfältige Mensch,
dessen Komplexität sich nicht auf eine
simple Formel bringen läßt.«1
(Lucien Febvre)

Geschichte und Anthropologie sind keine überzeitlichen Kategorien. Die heutigen Diskussionen – auch jene um die Historische Anthropologie – sind nach wie vor von Problemstellungen geprägt, die in der Frühen Neuzeit und in der Aufklärung formuliert wurden. Sie fallen häufig in eine Dichotomie zurück, die den Menschen in seiner Leiblichkeit auf die Natur, den Menschen in seiner Geschichte aber auf die Kultur bezieht. Die Ausführungen dieses Kapitels verstehen sich als eine Geschichte der Probleme der aktuellen Historischen Anthropologie.2 Es wird versucht, das argumentative Koordinatensystem für Definitionsversuche einer »Wissenschaft vom Menschen« zu entwickeln; es wird die Neugier der »Aufklärer« zum Thema gemacht, die sich in einer neuen »Wissenschaft vom Menschen« konkretisierte.

2.1 Geschichtswissenschaft versus Wissenschaft vom Menschen


Die Aufklärung wird häufig als »Sattelzeit« dargestellt, die ein Vorher von einem Nachher trennte. Die topographische Metapher des »Sattels« verdeutlicht, dass ein Rückblick in die Geschichte, der sich an den Kategorien des 19. und 20. Jahrhunderts orientiert, immer nur bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht und dass das, was »dahinter« liegt, mit den begrifflichen Mitteln, die seit damals zur Verfügung stehen, nicht eingeholt werden kann. Es ist allerdings wichtig zu sehen, dass die Anfänge moderner anthropologischer Denkfiguren sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. L’art de connaître soi-même (Jacques Abbadie) war in der Frühen Neuzeit gebunden an einen Reflexionsstil, der durch minuziöse Selbstbeobachtung und Unruhe geprägt war – Montaigne und Descartes sind zwei Autoren, die für dieses bewegte Denken im Umgang mit sich selbst stehen.3 Das Individuum löste sich mit dieser Selbstbezüglichkeit aus religiösen und kosmologischen Vorstellungen heraus, auch wenn mit der Religion als dem begrifflichen Referenzrahmen nicht gebrochen wurde.

Mit der Aufklärung geriet der Mensch nun ins Visier der »beobachtenden Vernunft«4. Es zeigte sich ein vom metaphysischen Zauber befreites Wesen, das viele in einen Zustand des Staunens versetzte; es ist nicht einfach, sich die unbefangene Neugier und die Verblüffungsfähigkeit vor Augen zu halten, die sich bei Philosophen und Naturwissenschaftlern zeigte. »Der Mensch ist ein wildes Tier, mit wolligem Haar auf dem Kopf; er geht auf zwei Füßen, ist fast so geschickt wie ein Affe und schwächer als die andern Tiere seiner Größe; er besitzt einige Ideen mehr als sie und kann diese leichter ausdrücken; im übrigen ist er den genau gleichen Notwendigkeiten unterworfen: er wird geboren, lebt und stirbt wie sie.«5 Dies schrieb Voltaire 1734. Der homosapiens – diesen Namen sollte er 1766 von dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné in einer Neuauflage seines Systema naturae erhalten – wird hier als homo in seiner konkreten naturhaften Leiblichkeit, als ein lebendiges und damit endliches Naturding betrachtet und zugleich – dies drückt das Attribut sapiens aus – als kulturelles Wesen vorgestellt.6 Er wird zum Kristallisationskern für unterschiedlichste philosophische, naturwissenschaftliche und anthropologische Diskurse. Vor allem seit Mitte des 18. Jahrhunderts konsolidierte sich diese »Wissenschaft vom Menschen«, was sich in einer steigenden Zahl von Publikationen niederschlug.7

Etwa gleichzeitig setzte sich »Geschichte« als Kollektivsingular und Bewusstseinskategorie durch. In den Jahrhunderten zuvor hatte sich der Begriff der »Historie« auf die Kunde von Geschichten bezogen, d.h. auf den Bericht über verschiedenste Vorkommnisse, Begebenheiten, Schicksal, Zufall, Folge gewalttätiger oder erlittener Handlungen. Historie und Geschichte stellten somit zwei getrennte Bedeutungsfelder dar. In der Aufklärung überlappten sich diese beiden Begriffe zunehmend. Reinhart Koselleck spricht von einer gegenseitigen »sprachlichen Kontamination« und schreibt: »Ereignis und Erzählung wuchsen in beiden Wortbedeutungen zusammen, Historie und Geschichte färbten sich gegenseitig ein, aber doch mit einer unüberhörbaren Dominanz der ›Geschichte‹ für den Doppelsinn von Wissenschaft und Erzählung einerseits und Ereignis- und Wirkungszusammenhang andererseits.«8 Es formte sich eine Konstellation heraus, in der die Geschichte als wissenschaftliche Disziplin Gestalt annahm. 1752 sprach Johann Martin Chladenius erstmals von »Allgemeiner Geschichtswissenschaft«, kurze Zeit später wurden erste Lehrstühle geschaffen und Historische Institute gegründet.9 Der Umgang mit der Geschichte beruhte nun auf einer Vorstellung historischer Zeit, die eingefügt war in eine neue Konzeption der Temporalmodalitäten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Indem geschichtliche Entwicklungen aus einem komplexen Kausalgefüge und Verursachungszusammenhängen heraus begriffen wurden, konnte Geschichte nun zum Subjekt und Objekt ihrer selbst werden. Sie wurde als das Wissen ihrer selbst verstanden, und durch die Praxis der Geschichtsschreibung konnte sich der aufgeklärte Mensch mit dieser Geschichte versöhnen. Der objektive Prozess ließ sich in subjektive Bewusstseinskategorien übersetzen, und es wurde möglich – etwa mit Hegel, der dieses Denken auf eine einsame Spitze trieb –, von »der Arbeit der Geschichte« zu sprechen. Die Vorstellung einer geschichtlichen Selbsterschaffung des Menschen resultiert aus diesem Umschlag. Zunehmend traten nun auch ein methodisches Ethos und ein quellenkritischer Anspruch hervor; um 1800 begannen diese das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft auf Kosten eines abstrakten Begriffs der Vernunft zu bestimmen.10 Sowohl in der Geschichte wie auch in der Anthropologie hatten sich also zu Beginn des 19. Jahrhunderts wegweisende Konzepte von langfristiger Prägewirkung durchgesetzt.

Im 19. Jahrhundert setzte in ganz Europa die Rezeption von Giambattista Vicos Scienza nuova von 1725 (bzw. 1744) ein, welche anthropologische und historische Einsichten gleichermaßen vermittelte.11 Wichtig war Vicos Gedanke, dass Menschen nur das erkennen können, was sie selber gemacht haben, und dass deshalb die Geschichte die Grundlage ihrer (Selbst-)Erkenntnis sein müsse. Damit regte Vico zu einer Vergeschichtlichung sozialer Phänomene an, die nun als technische Hervorbringungen, kulturelle Konstrukte und »Objektivationen« des Geistes »gelesen« werden konnten. Menschen haben eine Geschichte und – diese Umkehrung wurde dann von der Französischen Revolution exemplarisch exekutiert – sie können Geschichte machen. Im Gegensatz zu Descartes, dessen rationalistisches Weltbild eine Beschäftigung mit Geschichte als überflüssig erscheinen ließ, legte Vico seiner erst im 19. Jahrhundert zahlreicher werdenden Leserschaft nahe, Geschichte sei der Prozess fortschreitender Menschwerdung, weshalb historische Erkenntnis die tiefsten Einsichten vermitteln könne. Als die Erschaffer der »geschichtlichen Welt« könnten Menschen weit sicherere Aussagen über diese machen als über die natürliche Welt, zu der sie keinen genuinen Zugang hätten.12 Dabei ging Vico – womit er eine weitere, höchst einflussreiche These formulierte – von einer diskontinuierlichen Struktur dieses historischen Universums aus. Die drei großen Epochen, die er unterschied, waren durch jeweils andere Konventionen, Institutionen und Wertvorstellungen charakterisiert. Jedes Zeitalter war in sich geschlossen, es stellte einen spezifischen, jedoch begrenzten Möglichkeitsraum dar. Der Begriff des »Zeitgeistes«, der sich aus dieser Epochenvorstellung ableiten ließ, erfreute sich schnell großer Beliebtheit. Demgegenüber fand Vicos These, auch »die menschliche Natur« habe sich »im Laufe der Zeit tiefgreifend verändert, so dass den drei Zeitaltern, die er im zyklischen Ablauf der Geschichte feststellte, ›drei Arten der Natur‹ entsprechen«13, kaum Beachtung.

Exkurs: »M. Machine« Julien Offray de La Mettrie


An der neuen diskursiven Modellierung des Menschen waren im 18. Jahrhundert viele Autoren beteiligt. Einer, der zur Zeit, als er schrieb, auf weit mehr Beachtung stieß als Vico, der dann aber später weit weniger Resonanz fand als Letzterer, war Julien Offray de La Mettrie, einer der faszinierendsten Exponenten der aufklärerischen Selbstexploration des Menschen. 1709 in St. Malo geboren, setzte er sich in den 1740er Jahren mit seinen sarkastischen und philosophisch kompromisslosen Untersuchungen Kritik und Verfolgung aus; 1751 starb er im Exil, auf Sanssouci,...

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