«Schwabing war eine geistige Insel in der großen Welt, in Deutschland, meistens in München selbst», bemerkte der russische Maler Wassily Kandinsky, der von 1897 bis 1908 in dem Viertel wohnte. Erich Mühsam, ein Anarchist, der in der Münchner Revolution von 1918 eine maßgebliche Rolle spielen sollte, schrieb: «Ich denke an die freie seelische Luft, die Schwabing durchwehte und den Stadtteil zu einem kulturellen Begriff machte.» Solche Zitate spiegeln die Vorstellung, die sich die Allgemeinheit vom berühmten Künstlerviertel um die Jahrhundertwende herum machte, gut wider. Der bayerischen Hauptstadt sei mit diesem pulsierenden Stadtteil nördlich des Zentrums und der Universität, so hieß es, ein deutsches Montmartre oder Chelsea zugewachsen, eine freidenkerische, ungezwungene Gegenwelt zum Wilhelminischen Reich mit seinen steifen Obrigkeitsstrukturen. So gründlich setzte sich die Vorstellung von Schwabing als einem Bohèmeparadies in den Köpfen fest, daß noch fünfzig Jahre später, nachdem eine Menge sehr schmutzigen Wassers unter Münchens Brücken hindurchgeflossen war, der Physiker Werner Heisenberg, ein gebürtiger Würzburger, vom Schwabinger «Leben und Lebenlassen» und seinem «Geist der Toleranz» schwärmen konnte, der das Lebensgefühl der ganzen Stadt bestimmt habe.
Wie so viele Klischees hatte auch dieses eine gewisse Berechtigung: In Schwabing zu wohnen, war unzweifelhaft «schön», wie Viktor Mann, der jüngere Bruder von Thomas, in seinen Memoiren bekannte. Solche nostalgischen Gefühle überdeckten freilich die komplexen Realitäten, in die Schwabing in den Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs eingebettet war. Wie Kandinsky richtig erkannt hatte, war Schwabing selbst in München so etwas wie ein exterritoriales Gebiet, und viele «richtige» Münchner hatten für die Horden zugereister Künstler, Intellektuellen und Studenten, die das Viertel unsicher machten, wenig übrig. Von nicht wenigen Münchnern wurden die Bewohner Schwabings pauschal als «Schlawiner» tituliert und wegen ihres unorthodoxen Lebensstils eher schief angesehen.
Faschingsfest des Journalisten- und Schriftstellervereins, Schwabing 1905
Wie die «Nordlichter» in den Tagen Maximilians II. hatten auch die «Schlawiner» oft keine hohe Meinung von den Einheimischen. Dem aus Berlin zugezogenen Schriftsteller Theodor Lessing gefiel zwar die «sinnenfrohe Schlamperei» der Münchner, er fand sie aber ebenso «bärenhaft dumpf im Gehirn wie hochgewachsen in den Hüften». Lujo Brentano, ein importierter Gelehrter, bescheinigte der «einheimischen Rasse», sie sei «etwas entschieden Kulturfeindliches, deshalb auch dem Untergang Geweihtes – ähnlich wie die Sioux in Nordamerika». Sogar Thomas Mann, der 1894 aus Lübeck nach München gezogen war und eine echte Zuneigung zu seiner Wahlheimat empfand, konnte Klage darüber führen, daß München «die unliterarische Stadt par excellence» sei: «Banale Weiber und gesunde Männer – Gott weiß, welche Fülle von Mißachtung ich in das Wort ‹gesund› versenke!» Mann baute in seinen ersten Roman Buddenbrooks (1901) als Karikatur des typischen Münchners die Figur des Alois Permaneder ein, eines Hopfenhändlers, dessen Interessen sich darin erschöpfen, reich zu heiraten und täglich seine drei Liter Bier zu trinken.
Der wahre Schwabinger zog das Café dem Bierkeller vor. Das berühmteste unter den vielen Künstlercafés des Viertels war das Café Stefanie, dessen Besucher, eingehüllt in eine permanente Wolke aus Tabakrauch, literarische Werke deklamierten und die Probleme der Welt lösten. Reden war billig, und das war gut so, denn die meisten, die sich hier trafen, hatten kein Geld; der Oberkellner hatte ein zerfleddertes Notizbüchlein in der Tasche, in das er den jeweils neuesten Stand der Schulden eintrug, die nur selten beglichen wurden. «Wer hier eintrat, um … Stammgast zu werden, hatte den Rubikon seines Lebens überschritten», erinnerte sich später der Schriftsteller Richard Seewald. «Hier konnte er den Grund zu seinem späteren Ruhme legen oder zugrunde gehen. Hier konnte er in endlosen, Stunden und Nächte hindurch dauernden Gesprächen sich selber finden im Gestrüpp und Urwald der mit religiöser Inbrunst vorgetragenen Meinungen und Philosophien oder sich darin verlieren, um als ewiger Bohémien irgendwo in der Gosse zu verrecken.» Nicht ohne Grund wurde das Stefanie auch Café Größenwahn genannt.
Von ihren eigenen Phantasien angespornt, schlugen die Schwabinger endlose Schlachten auf den Feldern des Geistes. Die Straßen hallten wider von sektiererischen Streitgesprächen, persönlichen Fehden und ideologischen Grabenkriegen. Die Schwabinger führten sich auf, erinnerte sich ein Veteran der Szene, wie «fremde, feindliche Nomadenstämme im gleichen Schlaraffenland der Einbildung. Wenn ihre Kriegspfade sich begegneten, dann kreuzten sich die kühlen verächtlichen Blicke wie Schwertklingen.» Hier geschah es in den Anfangsjahren des neuen Jahrhunderts auch, daß ein russischer Emigrant namens Wladimir Iljitsch Uljanow sich das Pseudonym Lenin zulegte und eine revolutionäre Zeitschrift namens «Istra» («Der Funke») gründete. 1904 verbrachte Leo Trotzkij ein paar Monate in der Schwabinger Wohnung eines sozialdemokratischen Münchner Verlegers. Und nicht zu vergessen natürlich, daß hier auch der Mann, der später von Deutschland aus Europa in Schutt und Asche legen sollte, Adolf Hitler, eine kongeniale Heimstatt fand.
Als der Philosoph Ludwig Klages nach dem Zweiten Weltkrieg auf das Schwabing der Prinzregenten-Ära zurückblickte, kam er zu dem Schluß: «Hier und nur hier sind die Würfel gefallen, von denen der dreißigjährige Krieg 1914–1945 bloß die Exekutive darstellt.» Das war zweifellos eine Übertreibung, denn Schwabing und München waren keineswegs die einzigen geistigen Schmieden, in denen die Waffen für das heraufziehende ideologische Ringen geschärft wurden. Ein anderer Beobachter der Münchner Szenerie, der Kulturhistoriker Moritz Julius Bonn, kam der Wahrheit wohl näher, als er bemerkte: «Eine ganze Menge geistige Fäden verbinden [Hitler] mit dem Bohème-Völkchen, das mit der Zeit unter dem Namen Schwabings zum Begriff wurde.»
Die Gesellschaft für modernes Leben
Man kann sagen, daß die Geburtsstunde der Avantgardekultur von München-Schwabing am 18. Dezember 1890 schlug; an diesem Tag ließ sich eine Gruppierung, die sich «Gesellschaft für modernes Leben» nannte, als Verein bei der Münchner Polizei eintragen. Laut Satzung verfolgte diese «unpolitische literarisch-künstlerische Vereinigung» das Ziel, durch Vorträge, Bühnenproduktionen, Kunstausstellungen und regelmäßige Veröffentlichungen «den modernen schöpferischen Geist» zu pflegen und zu verbreiten. Die Gesellschaft lud all jene ein, bei ihr Mitglied zu werden, «welche die Kämpfe des modernen Geistes mit ehrlicher Anteilnahme verfolgen». Die erklärten Feinde der Gruppierung waren die Kulturtraditionalisten um den Münchner Dichterkreis Paul Heyses, der, obwohl noch unter Maximilian II. gegründet, nach wie vor beträchtlichen Einfluß ausübte. Als Feindin ausgesucht hatte man sich des weiteren die von der Kirche unterstützte Zentrumspartei, die ohnehin dazu neigte, alles Moderne in der Kunst mit politischer und religiöser Subversion gleichzusetzen.
Als die Gesellschaft für modernes Leben ihr Programm veröffentlichte, weckte dies so großes Interesse, daß bei ihrer ersten öffentlichen Veranstaltung, einem Vortragsabend am 29. Januar 1891, der Saal restlos ausverkauft war. Wie es in einem Polizeibericht hieß, waren unter den Anwesenden «zahlreiche Sozialdemokraten …, ebenso viele junge Geschäftsleute und Juden; auch zahlreiche elegant gekleidete Frauen, deren Toilette in dem Gedränge Schaden nahm».
Den Abend eröffnete der eigentliche Gründer der Vereinigung, Michael Georg Conrad, ein Journalist aus Franken, der sich in München mit seinem Eintreten für einen literarischen Naturalismus und mit seinen bissigen Attacken auf das konservative katholische Establishment einen Namen gemacht hatte. An diesem Abend zeigte er sich indes überraschend gemäßigt, ebenso wie die beiden anderen Vorstandsmitglieder, die das Wort ergriffen: die Literaten Otto Julius Bierbaum und Julius Schaumberger. Wer als Konservativer gekommen war, um sich zu entrüsten, erlebte bis dahin sicherlich eine Enttäuschung.
Doch dann lieferte der letzte Redner des Abends, ein junger Journalist und Dramatiker namens Hanns von...