1. Was HSP ausmacht
Sie als Coach brauchen meines Erachtens schon deshalb fundierte und möglichst umfassende Informationen zur Hochsensibilität, weil Sie es ganz sicher oft mit Coachees zu tun haben, die selbst schon viel zum Thema gehört und gelesen und sich darüber Wissen angeeignet haben. Als wie zuverlässig dieses Wissen gelten kann, hängt von den Informationsquellen Ihrer Coachees ab. So, wie ich es mitbekomme, kursieren unter anderem auch etliche Halbwahrheiten und verschiedenartig ideologisch gefärbte Ansichten. Deren Einfluss zu erkennen und gegebenenfalls auch anzusprechen sowie etwaige Fehlannahmen zurechtzurücken, sehe ich als eine der Aufgaben eines Coachs – natürlich insbesondere dann, wenn er sich auf HSP spezialisiert. In jedem Fall halte ich es für hilfreich, wenn der Coach in der Lage ist, zu einer „vernünftigen“ Aufklärung beizutragen und mögliche Fragen seiner Coachees „sachdienlich“ zu beantworten bzw. Hinweise zu geben, wo profunde Antworten zu finden sind. Seien Sie sich bewusst: Die Phase, in der sich jemand als hochsensibel erkennt, ist eine Phase des Umbruchs und Umdenkens. In welche Richtung sich das Selbstbild, das Bild von den Mitmenschen und das Bild von den persönlichen Beziehungen wandeln, hängt sehr davon ab, welcher Input aufgenommen wird und welche Sichtweisen und Interpretationen somit in das eigene Denken integriert werden.
Die knapp gehaltene Überschrift „Was HSP ausmacht“ möchte ich unbedingt gleich zu Anfang relativieren, um einem Schubladendenken und allzu klischeehaften Vorstellungen keinen Vorschub zu leisten. Niemand ist mit dem Merkmal Hochsensibilität auch nur annähernd vollständig charakterisiert und niemand sollte auf dieses Merkmal reduziert werden. Wann immer ich pauschal über „die hochsensiblen Menschen“ spreche, nehme ich eine eigentlich unzulässige Verallgemeinerung vor. Denn jeder Mensch und ebenso jeder hochsensible Mensch ist in erster Linie eine ganz einzigartige Persönlichkeit – ein Original. Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, werde ich an vielen Stellen die Wörter „häufig“, „meist“, „in der Regel“ usw. einbauen. Wo derartige Einschränkungen zugunsten eines flüssigeren Schreibstils und einer prägnanteren Aussage weggelassen wurden, denken Sie sie sich bitte hinzu.
Natürlich kann man nicht alle HSP über einen Kamm scheren! Das Merkmal Hochsensibilität ist zwar ein grundlegendes Wesensmerkmal, aber dennoch nur eine von vielen Charaktereigenschaften, die die individuelle Persönlichkeit formen. Zudem haben neben der Veranlagung die gesamte Lebensgeschichte, die Lebensumstände und die Lebensführung des Einzelnen Einfluss auf die Ausprägung der Hochsensibilität; Hochsensibilität kann sich dadurch verstärken oder abschwächen – wohlgemerkt nicht aber verschwinden. Trotz aller Unterschiede und Varianten gibt es jedoch unter den Menschen, die zur Gruppe der Hochsensiblen gehören, so viele Gemeinsamkeiten, dass sinnvoll „Typisches“ beschrieben werden kann.
Den Zusammenhang zwischen der Einzigartigkeit, der Originalität und der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Typus fand ich vortrefflich dargelegt im Buch Vom Typ zum Original des Existenzanalytikers Uwe Böschemeyer: „Ein Original ist etwas Ursprüngliches, etwas Echtes. Ein Original gibt es kein zweites Mal. […] Ein Typ ist kein Original. Ein Typ ist eine Struktur, die nicht nur einmal, sondern viele Male in Erscheinung tritt. Menschen sind Originale, weil in der Tat keiner dem anderen gleicht. Doch Menschen sind auch Typen. Sie haben Eigenschaften und Verhaltensweisen, die auch an anderen zum Vorschein kommen.“3
1.1 Wahrnehmung mit einem hohen Maß an Sensibilität
Bevor ich über Hochsensibilität spreche, scheint es mir angezeigt, zunächst auf Sensibilität zu schauen, also bei einer Gemeinsamkeit zwischen allen Menschen zu beginnen. Dass Hochsensibilität auf eine besondere Beschaffenheit des Nervensystems zurückzuführen ist und sich durch eine besondere Art der Wahrnehmung auszeichnet, scheint mir Grund genug, des Weiteren einen näheren Blick darauf zu werfen, wie Nervensystem, Sinnesorgane und Wahrnehmung überhaupt funktionieren. Meiner Ansicht nach ermöglicht das ein besseres Verständnis für die Besonderheiten bei Hochsensiblen.
Bei der Fülle der bahnbrechenden Erkenntnisse der modernen Neurobiologie möchte man annehmen, dass die Funktionsweise des Nervensystems mittlerweile vollständig erforscht sei. In Wahrheit ist vieles bisher nur teilweise entschlüsselt, Annahmen werden ständig korrigiert und erweitert. Diesen Hinweis in einem TV-Interview ausgerechnet aus dem Munde des für seine Arbeiten zur Bewusstseinsforschung bekannten Neurowissenschaftlers António Damásio zu hören, erstaunte mich. Aber so ist es wohl: Je mehr man sich mit einer Materie auskennt, desto besser weiß man um die Grenzen des Wissens.
1.1.1 Sensibilität
Der Begriff Sensibilität wird im allgemeinen Sprachgebrauch sowohl für die psychische als auch für die physische Sensibilität verwendet; beides hängt auch zusammen. In der psychologischen Bedeutung bezeichnet Sensibilität einerseits die emotionale Verletzlichkeit, andererseits die zur emotionalen Intelligenz gehörende soziale Fähigkeit, anderen Menschen empathisch und feinfühlig zu begegnen.
Dem allgemeinen Lexikonwissen zufolge ist Sensibilität in der physiologischen Bedeutung die Fähigkeit des Körpers, mithilfe von einzelnen oder in Organen zusammengefassten Sinneszellen unterschiedliche Reize wahrzunehmen. Etwas ausführlicher lässt sie sich auch als die Fähigkeit des Nervensystems, adäquate Reize aufzunehmen und in Form einer Wahrnehmung/Empfindung zu interpretieren bzw. in Eindrücke, Gefühle und Reflexe umzusetzen beschreiben. Das Nervensystem macht es also möglich, dass Informationen über die Umwelt und den Organismus aufgenommen und verarbeitet und lebensdienliche Reaktionen veranlasst werden. Eine Reaktion ist die Beantwortung eines Reizes, der von außen oder aus dem Organismus selbst kommen kann. Damit Informationen überhaupt empfangen werden können, bedarf es der Reizbarkeit, der Irritabilität – eben der Sensibilität – des Nervensystems.
Selbstverständlich sind im einen wie im anderen Wortsinn alle Menschen sensibel – nur nicht im selben Ausmaß. Bei hochsensiblen Menschen liegt aufgrund der veranlagungsbedingten Konstitution ihres Nervensystems ein sehr hohes Maß an Sensibilität vor, was sie von der Mehrzahl der Menschen unterscheidet. Dabei ist noch anzumerken, dass der Grad der Sensibilität auch nicht bei allen HSP identisch ist, es finden sich Abstufungen von wenig bis hin zu extrem hochsensibel. Wie sehr sich die hohe Sensibilität bemerkbar macht, hängt neben der Veranlagung noch von der gesamten lebensgeschichtlichen Entwicklung ab und schließlich auch von der momentanen Verfassung und der jeweiligen Situation.
Bemerkenswert finde ich die folgende Überlegung: Die Sensibilität des Nervensystems realisiert eine Grundeigenschaft alles Lebendigen. Sie ermöglicht es einem Lebewesen, sich auf verschiedenste Gegebenheiten und Ereignisse in der Umwelt einzustellen, sich von Gefahren fernzuhalten bzw. sie abzuwehren und Nützlichem entgegenzustreben, und ist somit lebensnotwendig. Im Laufe der Evolution scheint es sich für den Erhalt einer Art bewährt zu haben, dass ein kleiner Teil der Gesamtpopulation eine überdurchschnittliche Sensibilität aufweist. Forscher haben mittlerweile bei zahlreichen Tierarten feststellen können, dass circa ein Fünftel der Tiere deutlich sensibler ist als die Mehrheit der Artgenossen (siehe auch 1.3.4: Wissenschaftliche Erklärungsansätze).
Wichtig ist mir zu betonen: Hochsensiblen eine ausgeprägte Sensibilität zuzuschreiben, darf keinesfalls heißen, allen anderen jegliche Sensibilität abzusprechen. Das wäre schlichtweg sachlich falsch. HSP haben Sensibilität nicht für sich „gepachtet“ und sollten auch nicht verleitet werden, sich in arroganter Weise überlegen zu fühlen. Nach allem, was ich mitbekomme, sind HSP sogar leider allzu oft in ihrer Kommunikation alles andere als sensibel im Sinne von einfühlsam und feinfühlig. Die Hochsensibilität, von der in Elaine Arons Konzept die Rede ist, ist also nicht gleichzusetzen mit einem hohen Maß an Empathie, Fürsorglichkeit und Verletzlichkeit – sie umfasst mehr als das (siehe auch 1.4.3: Vier Indikatoren nach Elaine Aron).
1.1.2 Das Nervensystem
Die Grundeinheit des Nervensystems ist eine Nervenzelle (ein Neuron) mit all ihren Fortsätzen, eine Zelle, die auf Erregungsleitung und Erregungsübertragung spezialisiert ist. Die Gesamtheit des Nervengewebes im Organismus bildet das Nervensystem, ein Netzwerk aus Nervenbahnen. Dieses wird unterteilt in das zentrale Nervensystem, zu dem Gehirn und Rückenmark gehören, und das periphere Nervensystem, das alle übrigen Nervenbahnen umfasst.
Über Nervenbahnen werden von den Sinnesorganen aufgenommene Impulse ans Gehirn weitergeleitet und umgekehrt Impulse an verschiedenste Körperregionen, an die Organe und die Gliedmaßen, gegeben. Der Transport von Informationen geschieht, indem die Erregung durch ganz schwache elektrische Signale oder durch biochemische Botenstoffe (Neurotransmitter) von Nervenzelle zu Nervenzelle übertragen wird. Die Reaktionen können bewusst oder unbewusst sein, willkürlich (bestimmte Bewegungen) oder unwillkürlich (Körperfunktionen und Reflexe). Durch sich häufig wiederholende Abläufe sind verschiedene Reaktionsmuster wie Programme im Gedächtnis abgespeichert und werden durch bestimmte Auslöser aktiviert.
Die...