Zuerst sollen nun die theoretischen Grundlagen skizziert werden, die die Entstehung der linguistischen Forschung zur Höflichkeit ermöglicht und wesentlich geprägt haben: Die Sprechakttheorie von Austin (1962) und Searle (1969, 1979), das Kooperationsprinzip von Grice (1975) und die soziologischen Betrachtungen von Goffman (1967).
Mit der Sprechakttheorie rückt der tatsächliche Sprachgebrauch (‚parole’) ins Zentrum des Interesses und etabliert sich als würdiges Forschungsobjekt[8]. Damit kommen automatisch situationsgebundene und individuelle Varianz in den Blickpunkt und das Augenmerk wird auf die allgegenwärtige Diskrepanz zwischen Form und Bedeutung in authentischen Äuβerungen gelenkt. Austin (1962) gelangt in seinen Beobachtungen zu der Ansicht, dass Äußerungen weit mehr sind, als die Summe der Einzelbedeutungen ihrer Bestandteile, weil sie nicht nur zur Abbildung der Wirklichkeit und Informationsübermittlung dienen, sondern tatsächliches Handlungspotential besitzen. Austin prägt den Begriff des Sprechakts[9], der sich aus Einzelakten zusammensetzt, die auf drei Ebenen simultan vollzogen werden: (1) Die ‚Lokution’ meint die Ausdrucksebene und bezieht sich auf die lautliche oder schriftliche Form der Äußerung. (2) Die ‚Illokution’ bezieht sich auf die Absicht, mit der sich ein Sprecher äußert. (3) Die ‚Perlokution’ bezeichnet die Wirkung, die die Äußerung auf den Adressaten hat. Sprache wird zweckrational eingesetzt, um eine bestimmte Wirkung (Perlokution) beim Adressaten zu erzielen. Das führt dazu, dass der strategische Aspekt des Sprachgebrauchs hervortritt. Das Konzept der Illokution als „vom Sprecher absichtlich kommuniziertes Handlungspotential“ (vgl. Held 1994: 52) avanciert zum Angelpunkt. Es bildet die Basis auf der Searle (1979) eine Klassifikation der Sprechakte ausarbeitet[10], die zwar auf der von Austin basiert, allerdings wesentlich systematischer und klarer gestaltet ist. Er erhält fünf übergeordnete Kategorien, auf die in der Höflichkeitsforschung immer wieder zurückgegriffen wird, wenn es gilt, eine Sprechhandlung zu definieren. Die Bitte fällt dabei in die Klasse der ‚Direktiva’ (vgl. Kap. 1.2. (c)).
All das hat für die Linguistik weitreichende Konsequenzen: (1) Die Sprechakttheorie liefert aufgrund der ausgeprägten Formorientierung ein effektives Instrumentarium zur Beschreibung von Funktionalität und Bedeutung tatsächlicher Äußerungen. (2) Die intensive Beschäftigung mit der Diskrepanz zwischen Form und Bedeutung führt zum zentralen Konzept der Indirektheit (Searle, 1969). (3) Dadurch wird einerseits die Frage aufgeworfen, warum Äuβerungen indirekt formuliert werden, wobei die Antwort in ihrer Funktion für die soziale Interaktion gesucht wird. Andererseits wird das Interesse darauf gerichtet, wie trotz allem eine richtige Interpretation gewährleistet werden kann. Das führt Searle (1969) zu seinen Überlegungen hinsichtlich der Konventionalisierung indirekter Sprechakte[11] und Grice zu seiner Theorie des Kooperationsprinzips und zu der Idee konversationeller Implikaturen (vgl. Grice Kap. 2.1.2). (4) Die Linguistik wird für den Kontext und die Produktionssituation sensibilisiert, da sie sich mit äuβerlich heterogenen Formen konfrontiert sieht, die ihre Bedeutung und Funktion allein aus dem Kontext erhalten (vgl. Held 1994). (5) Das wirft eine Reihe neuer Fragestellungen auf und führt zu der Entstehung zahlreicher Subdisziplinen (Soziolinguistik, Ethnolinguistik, Konversationsanalyse, etc.), die sich unterschiedlichen Aspekten und Funktionen von Sprache widmen und dank ihrer Erkenntnisse wesentliche Impulse für die Höflichkeitstheorie liefern. (6) Durch die Ausweitung der Sprechakttheorie auf die Sprechhandlungstheorie werden dann auch unterstützende Nebensprechhandlungen einbezogen, die auf der „Text- und Argumentationsebene“ (Held 1994: 54) das Illokutionspotential verstärken, abschwächen oder modifizieren können und so zum Erfolg der Hauptsprechhandlung beitragen. Eine Annäherung an die Komplexität authentischer Sprechhandlungen wird möglich, die ihre Umsetzungen in einschlägigen Untersuchungen der interkulturellen Forschung findet (z.B. Blum-Kulka et al. 1989, Trosborg 1995, Held 1994). Das Phänomen der Indirektheit wird zu einem der Kerngebiete der Höflichkeitsforschung und die Direktiva werden aufgrund von Searles (1969) Vorarbeit, ihrer klaren Abgrenzbarkeit zu anderen Sprechakten und ihres inhärent gesichtsbedrohenden Potentials zum prototypischen Exempel.
2.1.2. Grice und das Kooperationsprinzip
Die Sprechakttheorie konzentriert sich auf den Sprecher und die Produktion von Äußerungen. Searles Anliegen war es, in erster Linie zu erkunden, inwiefern Äußerungen ‚mehr’ bedeuten, als ihre Wörter vermuten lassen. Austins Schüler Grice hingegen interessiert sich vor allem für den Interpretationsprozess. Die Tatsache, dass der Adressat die indirekten, vagen und mehrdeutigen Aussagen für gewöhnlich problem- und fehlerlos interpretieren kann, führt zu der intensiven Suche nach vermittelnden Ordnungsprinzipien, die auf der Basis von Normen und Gesprächsmaximen eine sowohl kommunikativ wie auch sozial erfolgreiche verbale Interaktion ermöglichen (vgl. Held 1994: 69). Grice (1975) postuliert ein Prinzip der gegenseitigen Kooperation, dem die Gesprächsteilnehmer als rational agierende Individuen generell Folge leisten, um das gemeinsame Ziel des möglichst effektiven Informationsaustauschs zu gewährleisten[12]. Die Grundlage bilden die sogenannten Konversationsmaximen, die Grice in Anlehnung an Kants Erkenntnistheorie formuliert: (1) Maxime der Quantität, (2) Maxime der Qualität, (3) Maxime der Relation, (4) Maxime der Art und Weise (vgl. Grice 1975). Zusammenfassend bedeutet das für die Gesprächspartner, dass sie das, was sie zu sagen haben, zum richtigen Zeitpunkt und in angemessener Weise ausdrücken sollen (vgl. Grice 1975: 45). Die Existenz dieser Maximen ermöglicht darüber hinaus Implikaturen. Da nämlich der Hörer davon ausgehen kann, dass sich der Sprecher kooperativ und zweckrational verhält, wird er bei einem offensichtlichen Verstoß gegen eine oder mehrere der Maximen (‚flouting a maxim’) nach einer Zusatzbedeutung suchen, die den Sprecherbeitrag sinnvoll werden lässt und die Grice als ‚konversationelle Implikatur’ bezeichnet.
Für die Höflichkeitstheorie bilden die Überlegungen von Grice in zweierlei Hinsicht einen Ausgangspunkt: (1) Brown & Levinson (1978/87) stimmen mit Grice darin überein, dass die Bedingung für eine erfolgreiche Kommunikation die Fähigkeit der Individuen zu zweckrationalem Verhalten ist. Gleichzeitig bildet die Idee der konversationellen Implikatur die Basis, auf der ein Sprecher Höflichkeit vermitteln kann[13], die damit als eine offensichtliche Abweichung von den GRICEschen Konversationsmaximen gesehen wird, die den Adressaten dazu veranlasst, nach einer sozialen Zusatzbedeutung zu suchen. (2) In der Theorie von Grice bleibt die Funktion von Sprache zwar auf den effektiven Informationsaustausch reduziert, aber er selbst weist durch eben diese Einschränkung den Weg zur Erforschung des Phänomens der Höflichkeit. Er erkennt nämlich, dass gewisse Sprechhandlungen – darunter besonders solche, durch die der Adressat in irgendeiner Weise beeinflusst werden soll – die Befolgung ganz anderer Maximen (ästhetischer, sozialer oder moralischer Natur) verlangen[14]. An dieser Stelle wird, wie wir später noch sehen, Leech mit der Forderung nach einem Höflichkeitsprinzip anknüpfen (vgl. Leech 1983).
2.1.3. Goffmans soziologische Betrachtungen
Weshalb aber treten bei solchen Sprechhandlungen andere Maximen in Kraft? Worin liegt der entscheidende Unterschied zwischen bloßer Informationsvermittlung und der Bitte um einen Gefallen? Das Modell von Grice liefert dafür keine Erklärung, weil in ihm die soziale Funktion von Sprache hinter der informativen zurücktritt. Als Werkzeug für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen aber muss Sprache auch sozialen Anforderungen gerecht werden. Die Sprecher modifizieren ihre Äußerungen, um sie sowohl an ihr Gegenüber, als auch an den jeweiligen Kontext anzupassen[15]. Um diese feinen Mechanismen der Beziehungsgestaltung zu erklären, greifen Brown & Levinson (1987) später auf das zentrale Konzept des ‚face’ zurück, das Goffman von einem soziologischen Blickwinkel aus bereits in den 50er Jahren entwickelt und dann weiter ausgebaut hat.
(a) Das ‚face’-Konzept: Goffmann (1967) definiert ‚face’ als ein öffentliches Selbstbild, das jede Person für sich in Anspruch nimmt und das mit sozial akzeptierten Eigenschaften umschrieben werden kann[16]. Sozial angesehenes Verhalten wird auf der Grundlage gesellschaftlicher Wertvorstellungen beurteilt. Werte wie Stolz, Ehre, Würde, Rücksicht und Takt werden im Laufe der Sozialisation erlernt, ebenso wie das Selbst während dieses Prozesses geformt und immer wieder modifiziert wird (vgl. Bargiela-Chiappini 2003:...