ERSTES KAPITEL
Herkommen. Ehrbarkeit. Hölderlin hält auf sich. Die Väter sterben, die Mutter bleibt. Götter der Kindheit. Mutterbeziehung. Köstlin. Wunderkind Schelling.
Friedrich Hölderlin, am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar geboren, wuchs auf im Milieu der schwäbischen »Ehrbarkeit«. So nannte sich selbstbewusst die Elite des höheren Mittelstandes, bestehend hauptsächlich aus Beamten des Staates und der evangelischen Landeskirche. Frommer Lebenswandel, wenigstens äußerlich, war hier Pflicht, man achtete untereinander streng darauf. Hier rekrutierte die Kirche ihren Nachwuchs, beaufsichtigt und finanziell gefördert vom Landesherrn. Man blieb gesellschaftlich unter sich, heiratete auch untereinander. So kam es zu weitverzweigten Verwandtschaftsbeziehungen im Milieu, und so konnte man auf eine gemeinsame Geschichte zurückblicken. Die Hölderlins gehörten zu dieser »Ehrbarkeit«, sogar auf besondere Weise. Denn Hölderlins Mutter, eine Pfarrerstochter aus dem Zabergäu, stammte ab von der sogenannten »schwäbischen Geistesmutter« Regina Bardili (1599–1669). Über sie war Friedrich Hölderlin weitläufig verwandt mit Schelling, Hegel, Uhland und Karl Friedrich Reinhard, auch ein ehemaliger Stiftler, der es im revolutionären Frankreich bis zum französischen Außenminister brachte.
In diesen Kreisen förderte man sich gegenseitig, achtete streng auf die Reputation, gab sich zumeist fromm, tüchtig, selbstbewusst und stolz auf die eigene Moral, mit der man sich absetzte von der beargwöhnten Sittenlosigkeit am Fürstenhof.
Der Vater Heinrich Friedrich war, wie schon der Großvater, Klosterhofmeister. Er verwaltete die Güter des säkularisierten Regiswindis-Klosters in Lauffen. Ein angesehener, einträglicher Posten. Schon der Großvater hatte es in seinem Amt zu einigem Vermögen gebracht, das Heinrich Friedrich, ein geschäftstüchtiger Jurist, zu mehren verstand. Doch viel Zeit hatte er nicht dafür, denn schon 1772, nur zwei Jahre nach Friedrich Hölderlins Geburt, starb dieser heitere, gesellige, den weltlichen Freuden zugewandte und bis dahin offenbar kerngesunde Mann ganz unerwartet an einem Schlaganfall.
Eine wirkliche Erinnerung an diesen frühen Verlust hatte Friedrich wohl nicht, auch wenn er im Knabenalter die Beerdigungsszene melodramatisch heraufbeschwört: Der Leichenreihen wandelte still hinan, Und Fakelnschimmer schien’ auf des Theuren Sarg, … Als ich ein schwacher stammelnder Knabe noch, O Vater! lieber Seeliger! dich verlohr.
Die junge Mutter blieb alleine zurück mit drei Kindern, Friedrich, einer einjährigen Schwester, die bald darauf starb, und der kurz nach dem Tod des Vaters geborenen Schwester Maria Eleonora Henrike, genannt Rike.
Die »schöne Witwe«, wie man die Mutter nannte, blieb nicht lange allein. Ein Freund des verstorbenen Vaters, Johann Christoph Gok, warb um sie. Er war Sohn eines einfachen Schulmeisters, zählte also noch nicht zur »Ehrbarkeit«, doch als tüchtiger Amtsschreiber in Lauffen war er auf gutem Weg dorthin. Gok war, wie auch zuvor Hölderlins Vater, eng befreundet mit dem einflussreichen Oberamtmann Bilfinger. Als der nach Nürtingen versetzt wurde, zog Gok nach und begründete dort mit Bilfingers Unterstützung eine Weinhandlung. Zwischen ihm und der »schönen Witwe« spann sich bald eine Beziehung an. Gok war wohl kein berechnender Mensch, er galt als aufrichtig und uneigennützig, und doch wird ihn die Aussicht auf eine sehr gute Partie beflügelt haben, denn die junge Witwe war eine vermögende Frau.
Der Oberamtmann Bilfinger, Taufpate der Hölderlin-Kinder, riet zur Heirat, und die Mutter selbst war nicht abgeneigt. Sie sei, schreibt Hölderlins Halbbruder Karl rückblickend, bewogen worden, »durch die Sorge für die Erziehung ihrer Kinder u. für die Verwaltung ihres Vermögens … einem bewährten Freunde ihres frühverstorbenen Gatten, dem Kammer Rathe Gock, welcher kurz … vorher nach Nürtingen gezogen war, ihre Hand zu geben«. (Zit. n. Wittkop, 5)
»Kammerrat« war Gok allerdings vor der Heirat noch nicht. Den Titel kaufte ihm die angetraute Witwe. Sie investierte überhaupt einiges Geld in ihren zweiten Mann. Noch vor der Hochzeit erwarb sie ein größeres Anwesen in Nürtingen, den sogenannten »Schweizerhof« mit den dazugehörenden Ländereien. Der Weinkeller wurde reichlich mit Vorräten gefüllt, was sich allerdings als Verlustgeschäft erweisen sollte. Gok kannte sich im Weinhandel noch nicht gut aus; doch so war er eben, unbekümmert, tatendurstig und voller Selbstvertrauen. Der in großen Mengen gelagerte saure Wein verkaufte sich schlecht, was Johanna noch in ihrem späteren Testament tadelnd vermerkte, wie sie überhaupt ihrem zweiten Ehemann vorwarf, dass er zu großspurig mit dem Gelde wirtschaftete, das ihm nicht gehörte.
Mit Bilfingers Unterstützung und gesichert durch Johannas Vermögen, bemühte sich Gok erfolgreich um das Amt des Bürgermeisters von Nürtingen. 1776 wurde er gewählt. Selbstverständlich gab es Neider seines allzu schnellen Aufstiegs in die »Ehrbarkeit«, doch sonst amtete er zur allgemeinen Zufriedenheit. Johanna konnte stolz auf ihn sein. Rang und Ansehen zählten bei ihr viel, und diesen Ehrgeiz gab sie auch an den Sohn weiter, der stolz darauf war, zur »Ehrbarkeit« zu gehören. In der Tübinger Stifts-Zeit schlug er einmal einem sozial unter ihm stehenden Hilfslehrer den Hut vom Kopf, weil der sich geweigert hatte, ihn zuerst zu ziehen, wie es seine standesgemäße Pflicht gewesen wäre. Friedrich Hölderlin hielt sehr auf sich.
In dem weitläufigen, zugleich städtisch und landwirtschaftlich geprägten Anwesen des »Schweizerhofes« erlebte Friedrich eine Kindheit, an die er sich später gerne erinnert, ein Ort der Knabenfreude, der Stunden des Spiels und des Ruhelächelns. Rückblickend stellte er sich, etwa in dem Vers-Entwurf des »Hyperion«, als verträumten Knaben dar, der von seinen Spielgefährten immer wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt werden muss:
Oft sah und hört’ ich freilich nur zur Hälfte,
Und sollt’ ich rechtwärts gehn, so gieng ich links,
Und sollt ich eilig einen Becher bringen,
So bracht’ ich einen Korb, und hatt’ ich auch
Das richtige gehört, so waren, ehe noch
Gethan war, was ich sollte, meine Völker
Vor mich getreten, mich zum Rath, und Feinde,
Zu wiederholter Schlacht mich aufzufordern,
Und über dieser größern Sorg’ entfiel mir dann
Die kleinre, …
Diß kostete mich tausend kleine Leiden.
Verzeihlich war es immer, wenn mich oft
Die Klügeren mit herzlichem Gelächter
Aus meiner seeligen Ekstase schrökten, …
(MA I, 521; Vs. 218–227, 233–236)
Die Gärten der Kindheit um den »Schweizerhof« herum waren für Hölderlin im Rückblick der Ort der ersten Bekanntschaft mit dem Göttlichen:
Da ich ein Knabe war,
Rettet’ ein Gott mich oft
Vom Geschrei und der Ruthe der Menschen,
Da spielt’ ich sicher und gut
Mit den Blumen des Hains,
Und die Lüftchen des Himmels
Spielten mit mir
O all ihr treuen
Freundlichen Götter!
Daß ihr wüßtet,
Wie euch meine Seele geliebt!
Zwar damals rieff ich noch nicht
Euch mit Nahmen, auch ihr
Nanntet mich nie, wie die Menschen sich nennen
Als kennten sie sich.
Doch kannt’ ich euch besser,
Als ich je die Menschen gekannt,
Ich verstand die Stille des Aethers
Der Menschen Worte verstand ich nie.
Mich erzog der Wohllaut
Des säuselnden Hains
Und lieben lernt’ ich
Unter den Blumen.
Im Arme der Götter wuchs ich groß.
(MA I, 167f.; Vs. 1–7, 16–32)
Die Worte der Menschen um ihn herum, so erinnerte er sich, empfand er immer schon als zu laut in der Stille des Aethers. Ob er aber schon damals den Äther, also die Luft und Atmosphäre, als eine Art göttliche Naturmacht wirklich erlebt hat oder ob es sich hier zwanzig Jahre später um eine Rückprojektion handelt, lässt sich nicht entscheiden. Jedenfalls spielte der moralische Gott des pietistischen Milieus, in dem er aufwuchs, in den verklärenden Kindheitserinnerungen nur eine geringe Rolle. Er sieht sich vielmehr liebevoll behütet von den zahllosen,...