Das Tor zur Weisheit
Ein Erfahrungsbericht
Machet auf das Tor, machet auf das Tor,
es kommt ein goldener Wagen.
Was will er, will er denn,
was will er, will er denn?
Er will Charlotte holen,
in Poooolen.
Dieses Spiel aus meiner Kinderzeit, leicht abgewandelt, spiele ich mit meiner Klasse manchmal als Vorbereitung auf die Yogastunde, auf Stille-Übungen oder Traumreisen.
Zwei Kinder bilden mit nach oben ausgestreckten Armen und ineinander verschränkten Fingern ein Tor, durch das die anderen Kinder wandern. Die Kinder, die durch das Tor wandern, fassen sich an den Händen, bilden so eine lange Schlange und singen das Lied. Irgendwann zwischen „Poooo“ und „len“ schnappt das Tor zu.
Das Kind, das dann zwischen den Armen der beiden Torbogen-Kinder gefangen ist, hat nun die Möglichkeit, sich zwischen Himmel und Hölle zu entscheiden. Apfel oder Birne, Rose oder Nelke, Vogel oder Fisch – das richtige Schlüsselwort entscheidet nun über sein Schicksal. Birnen sind süßer als Äpfel, Rosen edler als Nelken, Vögel dem Himmel näher als Fische.
Die Spannung bleibt noch eine Weile erhalten, denn zunächst eröffnet die Entscheidung für eines der beiden Lösungswörter dem Kind lediglich, hinter welches der beiden Tor-Kinder es sich zu stellen hat. Doch ist dieses Kind der Engel oder der Teufel? Klar ist zunächst nur, mit welchen Kindern es sein Schicksal teilt. Endlich, wenn alle Kinder ihre Wahl getroffen haben, wird ihnen mitgeteilt, wer das Gute gewählt hat. Natürlich wollen alle Engel sein und auf den Armen der beiden Tor-Kinder in den Himmel gewiegt werden.
„Die Engel werden geschaukelt, gegaukelt, bis in den Himmel hinein“, sprechen die Kinder im Chor, während sich das Tor in die Himmelsschaukel verwandelt. Für die enttäuschten „Teufel“ jedoch verwandelt sich die Himmelsschaukel in einen Schüttelkasten und mit dem Spruch „Die Teufel werden geschüttelt, gerüttelt, bis in die Hölle hinein“ werden sie zwischen den Armen der beiden Kinder hin und her geworfen und schließlich unsanft in die Hölle befördert.
Die Idee, dieses alte Spiel so abzuwandeln, dass ich es in meinem Yogaunterricht einsetzen konnte, kam mir im Urlaub, weitab vom Alltagsstress, im Garten meiner Mecklenburger Zweitheimat. In meiner Textänderung ersetzte ich die Charlotte aus Polen durch die Frage nach der Herkunft und dem Ziel des goldenen Wagens und der Erwartung des Guten oder Bösen. Meine Klasse lernte das Lied und den Spielablauf, Apfelsaft wählten sie für die Hölle und Buntstift für den Himmel. Die Engel wurden sanft in den Himmel gewiegt, die Teufel in die Hölle befördert.
Nun kam meine Spielerweiterungsidee. Die Teufel sollten die Chance erhalten, aus der Hölle befreit zu werden, und zwar durch eine von den Engeln erdachte Yogahaltung.
Jedes Engelkind dachte sich eine Haltung aus, und nacheinander flüsterten sie den Teufeln ihre Erlösungsübung ins Ohr. Die Teufel machten die Übung und konnten durch das Tor der Weisheit ins Reich der Engel schreiten.
Bei den ersten beiden Teufeln klappte die Erlösung. Dem dritten Teufel wurde wohl statt der Yogaübung ein Schimpfwort ins Ohr geflüstert, denn mit einem lauten „Du Hurensohn!“ sprang der kleine Teufel auf den Engel los. Ehe ich mich versah, war eine Rauferei im Gange. Ich hatte bei meiner Planung nicht bedacht, dass einige Kinder von ihren Mitschülern wohl ganz gern in der Hölle gesehen werden.
In entspannter Urlaubsstimmung vergesse ich schnell die Dinge, die ich nicht wahrhaben möchte. Auch meine Yogaübungen führe ich in der stillen Abgeschiedenheit des kleinen mecklenburgischen Dörfchens sehr viel achtsamer aus. Dort übe ich Gelassenheit…
Jetzt bin ich gefordert, das Geübte anzuwenden. „Mulabandha, jalandhara-bandha setzen, Energien lenken, Kräfte sublimieren“, schießt es mir durch den Kopf… Doch keine Zeit, Eine Nase blutet schon. Ich muß zupacken, schlichten, Blut wegwischen, das verletzte Kind beschützen, verarzten, die anderen Kinder beruhigen, denn inzwischen ist ein wahrer Engel-Teufelreigen im Gange.
Dennoch … ein paar Tage später wage ich einen neuen Versuch. Ein goldenes Kästchen erweckt die Neugier der Kinder sofort. Ich habe die erlösenden Yoga-Haltungen auf kleine Karten gemalt und diese in einen mit Goldfolie beklebten Schuhkarton gelegt. Den Deckel des Schuhkartons habe ich mit einer Öffnung versehen.
Damit die Kinder durch diese Öffnung in den Kasten greifen können, ohne die Karten zu sehen, habe ich von innen zwei sich überlappende Stoffstreifen gegen die Öffnung geklebt.
Das Goldkästchen wird bestaunt und jeder darf es einmal halten. Diesmal gelingt das Spiel so, wie ich es mir vorgestellt habe. Alle sind auf die Erlösung gespannt. Ein Engel reicht einem Teufel das Kästchen, damit dieser eine erlösende Karte ziehen kann. Jeder Teufel macht seine Yogaübung. Dann durchschreiten sie alle das Tor der Weisheit und werden ins Reich der Engel aufgenommen.
Diesmal bleibt alles friedlich und wir entspannen uns anschließend noch bei einer kleinen Traumgeschichte.
Das Singspiel
Machet auf das Tor, machet auf das Tor,
es kommt ein goldener Wagen.
Wo kommt der Wagen her?
Wo fährt der Wagen hin?
Das wirst du gleich erfahren,
erfahhhhren!
Vorbereitung: Kasten mit Goldpapier bekleben, eine Öffnung in den Deckel schneiden, so groß, dass die Kinder hineingreifen können. Die Öffnung von innen mit einander überlappenden Stoffstreifen bekleben. Die Kinder sollen in den Kasten greifen, aber nicht hineinschauen können.
Zwei Kinder werden ausgewählt. Sie bilden das Tor. Jedes der beiden Kinder überlegt sich einen Begriff. Gemeinsam entscheiden sie, welcher Begriff der Schlüssel zum Himmel und welcher der zur Hölle ist. Wenn sie sich einig sind, beginnt das Spiel.
Sie stellen sich einander gegenüber, strecken die Arme schräg nach oben, legen die Handflächen aneinander und verschränken die Finger. Die anderen Kinder halten sich an den Händen und wandern als Schlange durch das so gebildete Tor, während sie das Lied singen.
Zwischen „erfahhhh“ und „ren“ fangen die beiden Tor-Kinder eines der Schlangen-Kinder, indem sie die Arme senken und das Kind einschließen. Dieses Kind entscheidet sich nun für einen der beiden Begriffe und stellt sich hinter das Kind, das diesen Begriff gewählt hat. Das Spiel wird solange wiederholt, bis alle Kinder im Tor gefangen waren. Nun erfahren sie, ob sie sich für den Himmel oder für die Hölle entschieden haben.
„Die Engel werden geschaukelt, gegaukelt, bis in den Himmel hinein.“
Zu diesem Spruch werden alle, die das entsprechende Schlüsselwort gewählt haben, auf den Armen der Tor-Kinder gewiegt. Diese fassen sich dazu fest an den Unterarmen.
„Die Teufel werden gerüttelt, geschüttelt, bis in die Hölle hinein.“
Die Tor-Kinder halten sich fest an den Händen und nehmen jeden Teufel zwischen ihre Arme um ihn hin und her zu werfen.
Wenn alle Teufel in der Hölle und alle Engel im Himmel sind, beginnt die Rettungsaktion für die Teufel. Die Engel holen den goldenen Kasten und lassen jeden Teufel eine Karte herausziehen. Nacheinander stellen die Teufel die Yoga-Positionen nach, die auf ihren Karten abgebildet sind. Die Engel benennen die Position und erlösen damit die Teufel.
Zum Schluss schreiten die erlösten Teufel durch das Tor der Weisheit, das wieder von den Tor-Kindern gebildet wird, und werden von den Engeln aufgenommen. Dazu bilden die Engel einen Kreis hinter dem Tor und schließen diesen, wenn alle Kinder das Tor durchschritten haben.
Die Traumreise
Suche dir einen bequemen Platz … Entspanne dich … Schließe die Augen.
Stell dir vor, du sitzt auf einem goldenen Wagen … Du fährst auf einer goldenen Straße … Am Ende der Straße siehst du ein wunderschönes, glänzendes Tor … Es leuchtet in allen Farben … ist mit Edelsteinen verziert und mit Blumen berankt …
Ein süßer Duft liegt in der Luft … Du bist gespannt, wie es hinter dem Tor aussieht … Der Wagen kommt dem Tor immer näher … Als er kurz vor dem Tor angekommen ist, öffnet es sich langsam … Du staunst …
Vor dir liegt eine Wunderwelt … Der goldene Wagen fährt durch das Tor in diese Wunderwelt hinein … Du schaust dir alles an … Nach einer Weile hält der Wagen. Du kannst aussteigen...