3.Neue Erkenntnisse über das Altern
Warum altert der Körper?
Eine meiner Patientinnen ist inzwischen 78 Jahre alt, eine feine ältere Dame mit einem aufrechten Gang, einer tadellosen Figur, blitzenden Augen und einem wachen Geist, der jeder 30-Jährigen alle Ehre machen würde. Und um allem die Krone aufzusetzen, das einzige körperliche Gebrechen, das man bei ihr feststellen kann, ist ein leicht verdicktes Fingergelenk am rechten Mittelfinger. Warum ich ausgerechnet diese Dame als Beispiel heranziehe? Ganz einfach, weil sie seit Jahren vieles umsetzt, was ihren Körper langsamer altern lässt. Sie isst leicht verdauliche, frische Nahrungsmittel, bewegt sich ausreichend, praktiziert seit über 30 Jahren Transzendentale Meditation und strahlt eine unerschütterliche Güte und innere Ruhe aus. Sie ist für mich und sicher für viele ihrer Mitmenschen ein beruhigendes Beispiel für das, was auch in unserem westlichen, hektischen, ungesunden Lebensraum offensichtlich möglich ist.
Warum aber sehen manche Menschen mit 70 Jahren aus wie 55 und warum gibt es andererseits 30-Jährige, die wirken, als seien sie schon uralt? Erst in den letzten beiden Jahrzehnten hat in der medizinischen Fachwelt ein wissenschaftlich fundiertes Konzept über den eigentlichen Alterungsvorgang seinen Siegeszug angetreten: die zerstörerische Wirkung freier Sauerstoff-Radikale auf unsere Zellwände und genetische Information innerhalb der Zellkerne.
Der Alterungsvorgang lässt sich verlangsamen oder sogar umkehren.
Sauerstoff – ein ganz besonderes Atom
Kein höheres Lebewesen kann ohne Sauerstoff existieren. Menschliches Leben wäre ohne ihn unmöglich, denn mit jedem Atemzug gewinnen wir aus ihm in sehr komplexen Stoffwechselschritten gebündelte Energie und Körperwärme. Gleichzeitig nutzen wir ihn in jeder Sekunde, ohne es auch nur zu ahnen, als hochpotente Waffe im Abwehrkampf gegen Bakterien, Viren sowie chemische Gifte und sichern so unser Überleben.
Sauerstoff ist ein ganz besonderes Atom mit faszinierenden Eigenschaften und Möglichkeiten. Denn Sauerstoff enthält in seinem Atomkern acht positive mini-elektrische Ladungen, die Protonen, und dazu wie jedes andere Atom ebenso viele negativ geladene Teilchen in der Atomhülle. Diese acht Elektronen umkreisen den Atomkern auf zwei Umlaufbahnen.
Bild 1: Sauerstoffatom
In der inneren Schale schwirren regelmäßig zwei negativ geladene Energieteilchen und in der äußeren Umlaufbahn sechs Elektronen, die in größerem Abstand paarweise den Atomkern umkreisen.
Generell sind nun nur diejenigen Atome ausgeglichen und stabil, auf deren äußerer Umlaufbahn acht Elektronen kreisen. Nur dann fühlen sich diese winzigen „Bausteine der Natur“ wohl und haben kein Bedürfnis, sich mit anderen Atomen aus der unmittelbaren Umgebung zu verbinden: Wie die Edelgase von Natur aus sind sie dann chemisch stabil und indifferent. Genau umgekehrt ist die Ausgangssituation beim Sauerstoff, denn ihm fehlt ein Elektronenpaar auf der äußeren Schale seiner Atomhülle, um chemisch zufrieden und träge zu sein.
Was liegt also näher, als dass das Sauerstoffatom sich an weitere Atome oder Moleküle wendet, damit sie zu seiner Zufriedenheit beitragen? (Moleküle bestehen aus vielen, bis zu mehreren hundert Atomen, die über gemeinsame Elektronenpaare miteinander verbunden sind.) Tatsächlich bedienen sich die recht reaktionsfreudigen Sauerstoffformen ständig bei ihren Nachbarn. Dazu borgen sie sich bei anderen Sauerstoffatomen die ihnen selbst fehlenden zwei Elektronen mal eben aus und nutzen sie zunächst friedlich gemeinsam. Sauerstoff ist also nur dann chemisch einigermaßen stabil, wenn er als Doppelatom zum Sauerstoffmolekül wird, in dem sich beide Atome jeweils ein Elektronenpaar teilen.
Bild 2: Das Sauerstoffmolekül = O2
Im Sauerstoffmolekül (O2) sind die beiden Sauerstoffatome durch zwei Elektronenpaare, eine Doppelbindung, verbunden.
Freie Sauerstoff-Radikale
Werden die beiden Sauerstoffatome durch äußere Einflüsse getrennt, kann das einzelne Sauerstoffatom im Stoffwechsel hochaggressiv werden. Dies geschieht dann, wenn sein voriger Partner während der abrupten Trennung ein einzelnes Elektron zurückbehalten hat, um es selbst in seiner Schale zu nutzen. Daraufhin wird der Beraubte selbst zum rücksichtslosen Elektronenräuber, den der Chemiker „freies Sauerstoff-Radikal“ nennt (= Singulett-Sauerstoff). In dieser Form ist er derart süchtig nach dem verloren gegangenen Elektron, dass er sich hemmungslos auf seine unmittelbare Umgebung stürzt, um wehrlosen Nachbarmolekülen das ihm fehlende Elektron zu entreißen. Dieser aggressive Sauerstoff kann darüber hinaus auch in Kombination mit anderen Atomen als sauerstoffhaltiges Molekül oder Bruchstück eines Moleküls vorkommen: allzeit bereit, aus der Umgebung Elektronen zu entwenden und zu hamstern. Natürlich zahlen die angegriffenen Moleküle in der Umgebung einen hohen Preis, denn Sauerstoff-Radikale schädigen stabile Strukturen dauerhaft, wenn nicht körpereigene Kontroll- und Reparaturenzyme den Schaden wieder gutmachen.
Radikale
Freie Radikale sind verschiedene Sauerstoffformen, die extrem reaktionsfreudig sind. Sie verbinden sich in Bruchteilen von Sekunden mit Molekülen in ihrer unmittelbaren Umgebung und verändern sie unwiderruflich. So zerstören sie Zellstrukturen und erzeugen Unsinnsmoleküle, die der Körper nicht weiter verwerten kann. Freie Radikale sind modernsten medizinischen Erkenntnissen zufolge für alle Alterungsvorgänge und 87 Prozent aller Krankheiten verantwortlich.
Sauerstoff kann als freies Radikal ein rücksichtsloser Elektronenräuber sein, der überall im Körper nachhaltige Zerstörung hinterlässt und damit für alle Alterungsvorgänge verantwortlich ist.
Gesättigt und damit friedlich ist ein Sauerstoff-Radikal erst dann, wenn es seine Schale vorübergehend mit fremden Federn schmückt und sie mit dem fehlenden Elektron aufstockt.
Sauerstoff erzeugt Energie
Sauerstoff ist also nicht ganz ungefährlich – genau genommen ist er wegen seiner ständig drohenden Radikalbildung sogar hochgiftig, so dass er im menschlichen Organismus nur unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen in die Körperzellen geschleust wird. Aus der Atemluft gelangt er über die Lunge ins strömende Blut, wo er fest an den roten Blutfarbstoff, das Hämoglobin, gebunden wird, damit er nicht ausreißen kann. Die rote Blutzelle sichert sich zusätzlich vor seiner potenziell zerstörerischen Wirkung durch Enzyme, die auf freien Sauerstoff spezialisiert sind. (Enzyme sind Eiweißverbindungen, die im Stoffwechsel vielfältige Umwandlungen vornehmen, indem sie aktiv Atome von einer Stelle eines Moleküls an eine andere setzen. Auf diese Weise können sie Verbindungen spalten oder zusammenfügen.) Zwei Enzyme, die Glutathion-Peroxidase und die Katalase, halten den Sauerstoff innerhalb der roten Blutkörperchen in Schach. Sie spielen immer dann eine Rolle, wenn der Körper sich vor freien Radikalen schützen muss. Auf diese Weise gesichert gelangt der lebenswichtige Sauerstoff in alle Körperzellen, bis in die Mitochondrien hinein, die winzigen Kraftwerke innerhalb jeder Zelle.
In einer Zelle können bis zu 2 000 Mitochondrien arbeiten. Sie erzeugen 90 Prozent der Energie unseres Körpers, die Wärme, die er für alle chemischen Umwandlungen braucht, und erhalten uns so am Leben. Dazu entziehen sie dem Sauerstoff nach und nach seine Energie, binden ihn zwischendurch an immer wieder andere Molekülverbindungen, lösen ihn wieder heraus und wandeln ihn in Bruchteilen von Sekunden in hochkomplexen chemischen Folgeschritten (Zitronensäurezyklus und Atmungskette) solange um, bis nur noch ein wenig ungefährliches Wasser übrig bleibt. Diese chemischen Zwischenschritte laufen unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen durch allzeit bereite Enzyme ab, die den Sauerstoff unter Kontrolle halten.
Bild 3: Der Aufbau der menschlichen Zelle
Der Zellkern enthält alle Baupläne des menschlichen Körpers in Form der DNS. Die Mitochondrien sind die Energielieferanten der Zelle. Lysosomen verdauen verschiedene Substanzen innerhalb der Zelle. Das Endoplasmatische Reticulum stellt Eiweiße her. Die Zelle ist von der Zellmembran umhüllt und mit Zytoplasma, der Zellflüssigkeit, gefüllt.
Mediziner schätzen, dass sich trotz dieser ausgeklügelten und vielfältigen Vorkehrungen immer noch ca. 2 Prozent des Luftsauerstoffs, den wir einatmen, durch Stoffwechselentgleisungen in freie Radikale verwandeln, die während der hochkomplexen Energiegewinnung aus dem Sauerstoff entstehen und sich dann wahllos auf Nachbarmoleküle stürzen und unwiderruflichen Schaden...