Erstes Kapitel
Von der Dualität – Vereinigung und Trennung
»Der freie Mensch handelt, ohne die Dinge schwarz oder weiß zu sehen.« Yoga Sutra IV. 7
Die positiven wie auch die negativen Kräfte sind in allen Dingen auf dieser Welt gleichermaßen zu finden, und ihr Wechselspiel bewirkt die Existenz des Lebens. Der Hinduismus nennt den Geist Purusha, das Göttliche, symbolisiert durch Shiva, und die Materie Prakriti, das Irdische, symbolisiert durch Shakti. Shiva ist der Himmel, Shakti die Erde, Shiva ist der Mann, Shakti die Frau. Sie schaffen durch ihre gleich starke Existenz die Balance im Universum und schließen durch ihre gegenseitige Anziehung den Kreis der Schöpfung. Der Geist ist also männlich, positiv und göttlich, die Materie ist weiblich, negativ und göttlich. Positiv mit gut und negativ mit schlecht gleichzusetzen würde bedeuten, die Kräfte mit moralisierendem Blick zu betrachten und dadurch dem Gleichgewicht zu schaden. Was wir als das Böse ansehen und fürchten, existiert im Kreislauf der kosmischen Ordnung nicht, denn alles in der Schöpfung ist erfüllt vom Göttlichen. Das so genannte Böse ist eine substanzlose Erscheinung, die nur leben kann, wenn sie einen Wirt findet, in dem sie sich wie ein Parasit entwickelt. So schleicht sie sich in den Kreislauf der Schöpfung ein und versucht, sich dem Negativen wie auch dem Positiven anzuhaften.
Leid ist eine negative Kraft, aber es ist keine schlechte Kraft. Freude ist eine positive Kraft, aber deshalb keine gute, also ethisch höher stehende Kraft. In allen Gefühlen ist die negative wie die positive Kraft enthalten. So kann es möglich sein, dass man im Zustand der Liebe am Anfang so viel Schmerz erfährt wie Glück. Wer den Schmerz aber ausklammern will, kann das Glück der Liebe nicht wirklich erleben. Denn Liebe besteht zunächst aus Vereinigung und Trennung, aus dem Zustand »vor der Vereinigung« und dem Zustand »nach der Vereinigung«. Diesen Kreislauf nennt man Bhoga, die Sinnlichkeit, und die meisten Menschen sind darin völlig unbewusst gefangen. Den Kreislauf als solchen wahrzunehmen und zu erkennen bedeutet, ihn verlassen zu haben. Dann wird aus der Dualität von Trennung und Vereinigung, aus Freude und Schmerz ein zusammenhängendes Phänomen, und alle Dinge werden in einem Rund sichtbar. Die Erfahrung »Alle Dinge sind eins« entsteht.
Leid ist die Umkehrung der Freude. Sind wir jedoch im Kreislauf eingeschlossen, ohne ihn als solchen wahrzunehmen, existieren die Dinge für uns immer nur als zusammenhanglose Gegensätze. Stehen wir außerhalb des Kreises als Betrachtende, können wir ihre gemeinsame Wurzel erkennen – alles ist zwar gespalten in weiblich-negativ und männlich-positiv; doch sind beide ein einziges göttliches Paar – Shivashakti. Den Kreislauf betrachten zu können und sich dabei gleichzeitig in ihn eingebunden zu sehen wird als Yoga bezeichnet. Bhoga hingegen, Sinnlichkeit, bedeutet, dass wir im Kreislauf eingeschlossen sind. Yoga betrachtet gleichmütig diese Sinnlichkeit, die von der Anziehung des Positiven und Negativen lebt.
Jedes Lebewesen hat Instinkte und Grundbedürfnisse – Hunger und Durst, Sexualität, Neugier, einen Überlebenstrieb und den Wunsch, zu kommunizieren. Gefühle und Instinkte bestehen zwar unabhängig voneinander, befinden sich aber in einem Wechselspiel miteinander. Sind wir verärgert, kann es passieren, dass wir das Essen gierig hinunterschlingen, ohne die Gier zu bemerken. Sind wir voller Mitempfinden für alle Lebewesen, kann das zu einem bewussten Umgang mit den Speisen führen. Auch die Instinkte können das Fühlen und Denken beeinflussen. Leiden wir an Hunger, können wir leicht verärgert werden oder auch größeres Mitempfinden für die Lebewesen entwickeln.
Obwohl ursprünglich eine Einheit, haben wir Denken und Fühlen in unserem durch die Naturwissenschaften geprägten Zeitalter weitgehend getrennt. Wir gehen so weit, dass wir das Ergründen mechanischer komplexer Vorgänge allein als »Denken« bezeichnen, während wir einen Zustand romantischer Schwelgerei oder Irrationalität »Fühlen« nennen. Um so stärker wird in uns der Wunsch wach, Denken und Fühlen wieder als Einheit zu erleben. Wir Menschen wenden uns dann der Meditation in der Hoffnung zu, dass sie die Kluft zwischen Denken und Fühlen überwindet. Meditation aber ist ein Weg, der voraussetzt, dass Fühlen und Denken schon eins sind. Dann erst kann die Versenkung in ein Thema als Dhyanam – Meditation – beginnen. Erst dann können wir zu Betrachtern des Kreislaufs der Sinnlichkeit werden.
Fünf Finger repräsentieren die fünf Sinne
Hier kann die Liebe helfen. Wenn wir einem Menschen sagen, »Ich liebe dich«, sind Fühlen und Denken eins. Auf Grund der Hingabe an ein Objekt fühlen und denken wir in eine Richtung. Gibt es jedoch eine Störung, und wir können uns an das Objekt der Liebe nicht anbinden, fallen wir sofort in die Dualität von Denken und Fühlen zurück. Wir denken über unsere Gefühle nach, bewerten sie gar als nützlich oder nicht nützlich, oder wir empfinden unsere Gedanken als schwermütig und belastend. Schlimmstenfalls fangen wir an, beide gegeneinander auszuspielen. Wir manipulieren mit unseren Gedanken das Fühlen wie auch umgekehrt. Am Ende dieser Wahrnehmung, die aus unserem gespaltenen Bewusstsein entstanden ist, wollen wir entweder das Sinnliche überwinden oder gar zerstören – oder aber wir wollen das Geistige als intellektuelle Kraft zum Schweigen bringen, damit wir die Sinnlichkeit ausleben können. Die Erfahrung von Einheit rückt in weite Ferne, wodurch wir auch das Ziel des Yoga aus unserem Blick verlieren.
»Besteht keine Einheit, wird die Wahrnehmung durch die Gefühle und die Gedanken beeinflusst.« Yoga Sutra I. 4
Wenn Fühlen und Denken getrennt sind, wird auch die Wirklichkeit getrennt wahrgenommen oder durch die Trennung von Fühlen und Denken ständig bewertet. Wir teilen unsere Empfindungen in angenehm oder unangenehm und vergessen dabei, dass sie in einem Zusammenhang stehen. Dadurch erhalten wir auf die existentielle Frage, ob das, was wir wahrnehmen, die Wirklichkeit ist, eine widersprüchliche Antwort: Der ausgebildete Verstand sagt ja, diese Wirklichkeit ist die Wahrheit, das instinktive Gefühl jedoch empfindet anders. Das Herz spürt eine grenzenlose Weite hinter den vergänglichen Dingen, während der Verstand sich eine klar definierbare und abgegrenzte Welt vorstellt. Die Lehrschriften Indiens räumen deshalb den Emotionen eine zentrale Rolle ein und bezeichnen acht wesentliche Gefühle als Inkarnationen der Charaktereigenschaften verschiedener Götter. Fühlen erhebt sich damit zu einer Dimension, die unpersönlich und unvergänglich im Weltall ist und sich in den menschlichen Wesen vorübergehend ansiedelt. Das Denken fügt sich in diesen Prozess gleichsam wie Uferbänke an einen Wasserstrom, indem es das Fühlen bei der Wahrnehmung als untergeordnete, abwägende Instanz unterstützt.
»Einheit entsteht, wenn alles Fühlen und Denken zueinander findet.« Yoga Sutra I. 2
Das Denken verbindet sich mit einem Individuum auf die Weise, dass es von dessen Veranlagung und Prägung deutlich beeinflusst wird und eigenständig funktionieren möchte. Verselbstständigt es sich, so gewinnt es an Macht und will über das Fühlen herrschen. Hier liegt die Gefahr, in die Dualität, die Denken und Fühlen spaltet, zu fallen. Doch wenn wir aufmerksam sind, kann die Dualität als Wechselspiel zwischen dem Denken als passiver Reflexion und dem Fühlen als aktivem Antreiber wahrgenommen werden. Das Fühlen kann so zum Motor für das Denken werden, denn letztlich ist alles Denken nicht die gefühlte und gelebte Erfahrung und wird selbst nur gefühlt.
»Einheit lässt sich nicht erdenken oder erfühlen, sondern nur übend erfahren.« Yoga Sutra I. 1
Es gibt aber ein starkes Gefühl, das die Dualität auflösen kann – die Liebe. Erst wenn wir die Liebe jenseits von Freude und Schmerz, nicht als schwarz oder weiß, weder als von einem Menschen abhängende, noch als von einem Menschen unabhängige Kraft erfassen, werden wir sie in ihrem allumfassenden göttlichen Kern wahrnehmen. Das konstante Streben, das dieser Liebe innewohnt, führt uns zur Erkenntnis. Deshalb kann die Liebe ein Thema für die Meditation sein. Sie ist die Königin aller Gefühle.
Eine Geschichte zum Reflektieren
Ein armer Mann hatte einst eine schlechte Tat begangen. Er beschloss, mit einer Bettelschale und einem Stab zur Mutter Ganga zu pilgern und sich an ihren Ufern reinzuwaschen. Nach tagelangen Wanderungen kam er an einen kleinen Fluss und rief freudig: »O Mutter Ganga, ich bin zu dir gekommen, um mich von meinen Sünden reinzuwaschen!« Jeden Tag badete er mit Inbrunst und büßte...