2. Bedeutungen und Funktionen des Dialekts
Rein sprachwissenschaftlich gesehen sind die Hauptmerkmale des Dialekts 18 im Gegensatz zur Standardsprache folgende: Der Dialekt gilt nur räumlich/regional begrenzt hat aber ein hohes Maß an Ähnlichkeit gegenüber der Standardsprache, wodurch man sich innerhalb von Deutschland ‚meistens’ verstehen kann. Zudem ist er nicht kodifiziert, das heißt nicht standardisiert und als Norm in standardsprachlichen Regelsammlungen, Wörterbücher und Grammatiken festgelegt (Vgl. Bußmann 2002: 162f., vgl. Huesmann 1998: 21; 29). Erweitert und ergänzt wird diese knappe Definition in der vorliegenden Arbeit durch die historisch begründetet Rekonstruktion der Symbolik und des Prestiges des Dialekts und einer funktionalen Bestimmung dessen. So erläutern die Soziolinguisten Klaus Mattheier (1980) und Wolfgang Steinig (1976) unabhängig voneinander, welche unterschiedlichen sozialen und kulturellen Bedeutungen der Dialekt seit dem 14. Jahrhundert in Deutschland erhält (Vgl. Mattheier 1980: 61ff.; Steinig 1976: 21ff.). Um das gegenwärtige Prestige des Dialekts zu begründen, werden ihre Ausführungen zusammenfassend dargestellt. Schon im 14. und 15. Jahrhundert gibt es Anzeichen einer Dichotomie zwischen einer „feinen/höfischen“ und einer „bäurischen“ (Mattheier 1980: 61) Sprechweise. Doch ausgeprägt und als Mittel der Distinktion tritt die Unterscheidung zwischen Dialekt und Standardsprache erst im 18. und 19. Jahrhundert in Kraft. Sie wird zum Erkennungszeichen für das aufstrebende Bürgertum, welches die literarische Sprache als „Mittel für soziale Anerkennung und sozialen Aufstieg“ (Steinig 1976: 21) erkennt und nutzt. Im 19. Jahrhundert herrscht das Bild - ‚Dialekt als Sprache der Ungebildeten’ - vor. Philipp
Wegener, ein Dialektforscher des 19. Jahrhunderts, untersucht diesen Zusammenhang und stellt ihn in konzentrischen Kreisen dar. In seiner Abbildung steht im Mittelpunkt die Schriftsprache. Es folgen die Dialekte der Gebildeten, die der Schriftsprache am nächsten sind. Ein weiterer Kreis zeigt die Dialekte der städtischen Halbgebildeten und der abschließende Kreis illustriert den breiten Dialekt des ländlichen und ‚niederen’ Volkes (Vgl. Mattheier 1980: 62). Der breite Dialekt ist demnach vor allem mit dem Stand der Bauern verbunden, die zu dieser Zeit von wenig Mobilität und einem geringen Bildungsstand gekennzeichnet waren. Ein anderer Dialektforscher, Paul Kretschmer, beschäftigt sich 40 Jahre später erneut mit dem Zusammenhang von Dialekt und sozialgesellschaftlichen Bedingungen. Er fügt in seiner Abhandlung eine funktionale Bestimmungen des Dialekts hinzu und erläutert, dass die Hochsprache vor allem als „Verkehrs-, Repräsentations- und Öffentlichkeitssprache“ (Ebd.: 63) fungiert. Gleichzeitig konstatiert er, dass jedoch auch in den Kreisen der ‚Gebildeten’ innerhalb der Familie Dialekt gesprochen wird. Diese Feststellung bezieht Kretschmer vor allem auf den süddeutschen Sprachraum. In Norddeutschland ist der Dialekt gemäß seiner Untersuchung weniger angesehen. In der Weiterentwicklung der Dialektforschung ist demnach ein Abstand zu der These Wegeners - DialektsprecherInnen sind ungebildet - zu erkennen. Kretschmer misst den Funktionen eine höhere Bedeutung bei, unterscheidet jedoch zwischen dem Prestige des Dialekts im Norden und im Süden des Landes. Festzuhalten ist jedoch, dass die gesellschaftlichen Gliederungsfaktoren „Ländlichkeit, Bildungsgrad und Regionalität“ (Mattheier 1980: 64) im Zusammenhang mit der sprachsoziologischen Charakterisierung des Dialekts bis heute bedeutsam sind. Spielt laut Mattheier zwischen 1930 und 1980 vor allem der Faktor ‚Bildung’, in der gesellschaftlichen Beurteilung des Dialekts eine Rolle, so ist es mit zunehmender Mobilität der Faktor ‚Regionalität’. Die Kommunikationsdichte und die regionale Durchmischung hat sich stark erhöht und lässt dadurch den Dialekt mehr und mehr zum Ausdruck bestimmter regional verorteter Bevölkerungsgruppen werden (Vgl. Steinig 1976: 22). Die alte Ortsmundart wird
laut Steinig in den 80 Jahren wieder als privilegierter ‚Soziolekt’ 19 der Einheimischen gesehen. Sie hat die Funktion der Abgrenzung und symbolisiert damit eine örtliche Identität. Der Rücktritt des Kategorisierungsfaktors ‚Bildung’ lässt sich durch eine zunehmende Sprachkompetenz begründen. So beschreibt der Volkskundler Hermann Bausinger in einem aktuellen Aufsatz über „Dialekt und Moderne“ (2004), dass gegenwärtig „die Leute nicht nur über eine Art des Redens verfügen“, sondern „immer wieder auf dialektale Varianten zurückgreifen“, sich also in einer „Surfbewegung im Raum zwischen Basisdialekt und Standardsprache“ (Bausinger 2004: 16) befinden. Somit „machen sie von einer stilistischen Möglichkeit Gebrauch, die [eine Variante] in dem betreffenden Kontext für geeigneter als andere zu halten“ (Ebd.: 14). Er stellt demzufolge fest, dass die Sprachkompetenz und das Bewusststein über eine adäquate Anwendung dieser Kompetenz innerhalb der heutigen differenzierten komplexen Gesellschaft größer geworden ist. Aus diesem Grund lässt sich gegenwärtig nicht mehr ableiten, ob eine DialektsprecherIn gebildet ist oder nicht. Für Bausinger steht der Dialekt in der heutigen Zeit mehr als Symbol für regionale Zugehörigkeit. Mehr noch - der Dialekt erweckt den Eindruck als „handle [es] sich dabei um eine kontinuierliche Tradition seit Urzeiten […] - das klingt nach einem Erbe, das man sich nicht erschleichen kann, ja das jedem verwehrt ist, der nicht dazu gehört: Man muß dazu geboren und bestimmt sein, oder es bleibt einem verweigert.“ (Bausinger 1981: 25). Der Dialekt fungiert seinen Beobachtungen nach aus gesellschaftlichen Sicht als eine Art ‚Ursprungscode’, der eine ‚regionale Echtheit’ vermittelt und damit tiefere Konnotationen herstellt, als nur regionale Zugehörigkeit. Denn so ist das Etikett ‚Schwabe’ und die Muttersprache ‚Schwäbisch’ nur durch die Herkunft aus der Region zu erlangen und damit für den Rest der Bevölkerung nicht zugänglich.
Meiner Ansicht nach wirkt dieses ‚urtümliche, traditionelle’ Wesen des Dialekts in der Postmoderne opportunistisch. Es gibt in Baden-Württemberg kein Dorf, welches noch in allein ‚einheimischer’ Konstellation vorhanden ist. Doch haben sich aus der historischen Entwicklung über die Symbolik und das Prestige des
Dialekts im gesellschaftlich-kulturellen Verständnis zwei Lager von SprecherInnen gebildet, die durch den Gebrauch oder Nicht Gebrauch des Dialekts soziokulturell erkannt und charakterisiert werden. → Zum einen das der DialektsprecherInnen: Diese gelten dann, im Falle des Schwäbischen Dialekts, als den Schwaben zugehörig. Sie sind in der als Heimat definierten Region verwurzelt. Sie gelten als echt und natürlich und nehmen den Dialekt als einen Ausdruck ihrer Identität wahr. → Zum andern das der Nicht-DialektsprecherInnen: Sie werden von den Schwaben als ‚Zugezogene’ und ‚Reingschmeckte’ bezeichnet und dadurch als ‚Neue’ markiert, die keine ursprüngliche Zugehörigkeit zum Ort und der Region vorweisen können.
Die Markierung fungiert als Abgrenzung, die eine Differenz herstellt und die vor allem am Sprachgebrauch erkannt wird. Diese Differenzierung betrifft sowohl Deutsche aus anderen Regionen, als auch die Mitmenschen aus anderen Ländern. Der Dialekt dient damit, als ‚Realitätsnachweis’ und ‚Echtheitsgarantie’ der lokalregionalen Zugehörigkeit mit samt seinem kulturellen Erbe. Er spiegelt ein regionales Selbstverständnis wider, welches an das Bewusstsein zu einer sozialen Gruppe zu gehören geknüpft ist (Vgl. Haug/Leonhard 2003: 176). Auf der Ebene der Funktionen wird dem Dialekt eine weitere herausragende Qualität zugesprochen, die sich auf die affektiven und kommunikativen Eigenschaften des Dialekts bezieht. Diese Eigenschaft wurde in dem bereits erwähnten Studienprojekt am Ludwig-Uhland Institut (2003) von den Studentinnen Simone Haug und Nina Kim Leonhard empirisch wie auch theoretisch untersucht und beschrieben. Ihre Nachforschungen über die Funktionen des Dialekts ergaben, dass ihm sowohl von gesellschaftlicher als auch von dialektologischer Seite eine hohe emotionale Qualität zugeschrieben wird. Aus diesem Grund sind „Witz und derbe Sprüche […] schon seit jeher Domänen des Dialekts“ (Haug/Leonhard 2003: 176). Als weitere Kommunikationsqualität des Dialekts gilt, dass sich unangenehme ‚Wahrheiten’ auch über hierarchische Schranken hinweg aussprechen lassen und vom Gesprächspartner, wenn er in den kulturellen Code ‚eingeweiht’ ist, einfacher angenommen werden (Vgl. ebd.: 176). Auch der Dialektforscher Heinrich Löffler bestätigt diese Eigenschaft des Dialekts, eine zusätzliche positive Kommunikationsebene herzustellen. So schafft der Dialekt „eine spontane und engere Beziehung zwischen den Partnern, und versucht den
anderen unmittelbar an Gefühlen, Eindrücken oder momentanen Affektlagen teilhaben zu lassen […]“ (Löffler 1994: 158). Demnach haben Dialektsprecher durch die affektiven Qualitäten des Dialekts, die man als Bestandteil des kulturellen Codes ansieht, in den alltäglichen Kommunikationssituationen mehr Möglichkeiten sich auf nonverbaler Ebene mitzuteilen. Denn der Dialekt schöpft aus einem kollektiven, regional geprägten Sprachbewusststein, welches einer Hochdeutsch-SprecherIn nicht zugänglich...