1. Ich muss Sie warnen
Wenn Sie erwarten, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches ein anderer Mensch sind, muss ich Sie enttäuschen. Und wenn Sie befürchten, dass Sie nach rund 250 Seiten wie Dieter Bohlen Spaß daran haben, ihre Mitmenschen zu demütigen, kann ich Sie beruhigen. Sie werden noch die Person sein, die Sie jetzt sind. Ob das ein Glück ist oder eine Tragödie, müssen Sie dann selbst entscheiden. Ich werde Ihnen auch nicht erzählen, was Sie tun müssen, um ein Egoist zu werden, auch wenn das Buch »Lob des Egoismus« heißt. Ich werde keinen Plan entwerfen, wie Sie Ihr Leben auf den Kopf stellen können. Ich weiß, das wird in der Ratgeberliteratur üblicherweise gemacht. Aber Sie und ich wissen, wie schwer es uns fällt, unser Leben zu ändern. Wir schaffen es ja kaum, dauerhaft ein paar Kilo abzunehmen oder regelmäßig die Klobrille hochzuklappen. Gewohnheiten hinter sich zu lassen und zu neuen Ufern aufzubrechen ist nichts, was wir durch die Lektüre eines Buches erreichen können. So etwas sind langwierige Prozesse, die durch Therapien, Meditation oder auch Schicksalsschläge eingeleitet werden und Übung, Übung, Übung brauchen. Trotzdem ist das Thema »Egoismus« ein existenzieller und höchst aufregender Gegenstand unseres täglichen Lebens. Es ist Gegenstand vieler Bücher, Talkshows und Sonntagspredigten.
Für die einen bedeutet Egoismus, zuallererst gut zu sich selbst zu sein, für sich selbst zu sorgen, sich selbst wichtig zu nehmen – wichtiger als andere. Für die einen also bedeutet Egoismus gut ist, was gut für mich ist, aber nicht zwangsläufig gut ist, was anderen schadet.
Für die anderen bedeutet Egoismus asoziale Selbstsucht, krankhafter Narzissmus, der an den Grundvereinbarungen einer Gemeinschaft rüttelt, heillose Fixierung auf materielle Werte, unterirdische sittliche Reife, anormale Unfähigkeit zu Mitleid und Nächstenliebe, was jeweils mit Ausstoß aus der Gesellschaft und/oder ewigem Höllenfeuer bestraft werden muss.
Die einen sehen im Egoismus die Quelle für freie Individuen, die selbstbewusst miteinander leben. Die anderen wollen den Egoismus abschaffen, operativ entfernen und in moralische Gulags verbannen. Aber im Grunde ist es doch so, wie David Copperfield fragt: Welches Leben werde ich leben, meines oder das eines anderen?
Das war auch die Frage, die mich anspornte, dieses Buch zu schreiben. Und als ich erste Gespräche zum Thema Egoismus führte, gab es durchaus ehrliches Interesse und sogar heimliche Bekenntnisse. Die waren, Sie können es sich vorstellen, nicht immer zustimmend und ermutigend. Im Gegenteil. Meistens war es, als würde ich mitten im Vatikan eine Diskussion über den Segen der Homosexualität beginnen. Ich wurde angegriffen, beleidigt, lächerlich gemacht und als berechnend dargestellt. Es wurde mir unwissenschaftliches Arbeiten (wo doch klar ist, dass das kein Fachbuch ist) und Verantwortungslosigkeit vorgeworfen. Ich würde, hieß es von manchen meiner Gesprächspartner, zum Zerfall der Gesellschaft beitragen, würde Kälte, Rücksichtslosigkeit und Gewissenlosigkeit befördern. Man warf mir vor, ich hätte keine Ahnung davon, was ich mit diesem Buch anrichten würde. Ich blieb dann stets ruhig und antwortete, dass es absurd und heuchlerisch sei, wenn der Egoismus verdammt werde. Wenn wir nämlich für einen Moment die moralische Brille absetzen, erkennen wir doch, dass wir selbst im heimlichen Kämmerchen unserer seelischen Unterwelt den Egoismus gut finden. Einfach weil Egoisten oft das kriegen, was wir auch gerne hätten: Geld, schöne Frauen, reiche Männer. Bewundern wir nicht sogar manchmal die verdammten Egoisten? Wenigstens ein kleines bisschen? Egoisten sind im Beruf erfolgreich, als Manager, Sportler oder Künstler. Sie ackern oder lassen andere für sich ackern und haben kein Problem damit, ganz vorne zu stehen. Sie haben nicht nur in materieller Hinsicht oft ein besseres Leben als wir anderen. Und dabei sind sie mit sich und der Welt im Reinen. Unter sich selbst jedenfalls leiden die Egoisten, mit denen ich gesprochen habe, am wenigsten.
Da stellt sich doch die Frage, wieso wir selbst es nicht schaffen, unser Licht leuchten zu lassen? Ist es, weil wir den Blick der Anderen, der Gesellschaft fürchten? Haben wir Angst davor, selbst für egoistisch gehalten zu werden, wenn wir unseren Eigennutz leben? An sich selbst zu denken, heißt allein zu sein – ein asozialer Mensch, unreif und unfähig für die Gemeinschaft, dem man mit erhobenem Zeigefinger droht. Man ist einfach untragbar. Den charismatischen Alpha-Tierchen gilt unsere ganze Verachtung. Unsere Neidreflexe sind jederzeit abrufbar, moralisch grundierte Empörung ist immerzu bereit zuzuschlagen. »Wir sind die Guten«, rufen wir den Egoisten entgegen! Und haben doch nur Angst, unseren eigenen Egoismus zu leben und dann gemieden, ausgestoßen, verfemt zu werden. Lieber erlösen wir uns im Dasein für andere. »Helfen macht high«, sagen wir, tarnen unsere Ichbezogenheit mit Altruismus und werden zu Opfern einer hinterhältigen Diffamierungsstrategie, die wir im Laufe der Zeit brav zu unserer eigenen gemacht haben.
Was aber würde eigentlich passieren, wenn wir egoistisches Verhalten als etwas Positives erkennen könnten? Wenn ich mich fragen würde, wo ICH eigentlich hinkomme, wenn ICH zu mir komme? Wer könnte ICH sein, wenn ICH immer (oder zumindest immer öfter) ICH wäre?
Als ich einmal eine Ohrfeige für diese Frage bekam, verbunden mit der Aufforderung, bescheidener zu sein, spätestens in diesem Moment wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich dachte, wenn ein Vorhaben auf so viel Abwehr stößt, bevor auch nur das erste Wort geschrieben ist, dann muss ich weitermachen. Und so wie im Vatikan das Thema Homosexualität keines sein kann, weil es nicht sein darf, so wie dort also künstlich geschaffene Verbote und Gebote konserviert und fortgeschrieben werden, so gehen wir mit dem Thema Egoismus um.
Und Sie? Wie ist Ihre Meinung zum Thema Egoismus? Sind Sie eingeschriebenes Mitglied der Vereinigung der Egoisten oder tummeln Sie sich eher bei den Altruisten? Gehören Sie zu denen, die für sich da sind, oder zu denen, die für andere da sind? Haben Sie Angst, ihre Wünsche zu äußern und »Nein!« zu sagen? Weichen Sie zurück, um anderen Platz zu machen? Dienen Sie gerne oder lassen Sie sich bedienen? Halten Sie sich für besser, schöner, klüger als die Menschen in Ihrer Umgebung, oder denken Sie eher, dass Sie sowieso nichts können, scheiße aussehen und besser den Mund halten sollten? Leiden Sie unter Burn-out oder kommen Sie gerade von einem vierwöchigen Strand-, Berg- und Abenteuerurlaub zurück? Vermutlich sind Sie nicht sicher und wollen sich bei so einer heiklen Frage nicht festlegen (was den Verdacht nahelegt, dass Sie zur Liga der Altruisten gehören). Aber das macht nichts.
Es gibt einen einfachen Test, um die Wahrheit herauszufinden: Wenn Sie bei der Frage nach einer Weltmacht mit drei Buchstaben statt »USA« ohne die Spur eines Zweifels »ICH« ausrufen, sind Sie ein Egoist und können dieses Buch im Buchladen wieder ins Regal stellen oder bei Amazon ohne Begründung zurückschicken. Wenn Sie mit »mein Mann«, »meine Frau« oder »mein Chef« oder »Gott« antworten, haben Sie nicht nur die Frage falsch beantwortet (drei Buchstaben!), Sie sollten auch unbedingt dieses Buch lesen. Und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem ich es geschrieben habe: Sie sind nämlich hundertprozentig kein Egoist. Und das weiß ich so sicher, weil ein Egoist niemals ein Buch mit dem Titel »Ich. Lob des Egoismus« in die Hand nehmen würde. Das wäre so absurd wie ein Buch, das beweist, dass Einatmen fürs Überleben notwendig ist. Sie dagegen haben das Buch gekauft und sogar bis hierhin gelesen. Das heißt, Sie sind ein Altruist (in welchem Stadium auch immer – therapiefähig oder unheilbar) und vermutlich heimlich daran interessiert, mehr über einen Egoismus zu erfahren, der gesund ist, richtig, überlebensnotwendig und daher lobenswert. Das freut mich für Sie, weil es ein mutiger und tapferer Schritt ist. Aber gleichzeitig muss ich Sie warnen. Und zwar aus drei Gründen. Erstens werden Sie, wenn Sie auf der letzten Seite des Buches angekommen sind, vielleicht noch kein Egoist, keine Egoistin sein, aber sich unaufhaltsam auf dem Weg dorthin befinden, zweitens werden sie vermutlich weniger depressiv sein und drittens von den übrigen Altruisten als Ketzer und Verräter verfolgt werden.
Ich kann das so sicher behaupten, weil ich wie Sie bin. Nein, das stimmt nicht. Ich war wie Sie. Fast mein ganzes Leben lang. Bis am 18. Juli 2007 etwas Fürchterliches passierte. Mein jüngerer Bruder, der allen Menschen um ihn herum immer zu Diensten war, der sich sein Leben lang nicht gewehrt hatte, immer auf der Flucht vor den Nächsten, die Unmögliches von ihm forderten, brachte sich an diesem Tag um. Unerwartet und überraschend. Ich hatte zwei Tage zuvor noch mit ihm telefoniert, und er hatte mir von einer neuen Liebe und einem neuen Job berichtet. Und dann war er tot.
Der Schock hat mich monatelang festgehalten. Ich war unfähig zu denken, zu fühlen, zu handeln. Ich tat so, als würde der Suizid meines Bruders mich nicht betreffen. Ich kümmerte mich nicht um mich, sondern um meine trauernden Eltern. Das war zu diesem Zeitpunkt richtig und meine Rettung. Bis ich irgendwann zusammenbrach und nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Als ich nach Wochen wieder Boden unter die Füße bekam, versuchte ich, den Grund für die traurige Tat zu finden. Aber es gab nicht einen Grund, es gab viele. Chronische Krankheiten, das finstere Verhältnis meines Bruders zu unseren Eltern, eine Beziehungskrise, eine tiefe, verzweifelte Trauer....