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Ich hab Zeit, was hast du?

Mit dem Goggomobil auf der Suche nach dem entschleunigten Leben

AutorBianca Schäb
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644124219
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Weniger Tempo, mehr Leben: eine Einladung zur Entschleunigung Turbomanager, die in der Hängematte entspannen. Studenten, die Gärten zum Abschalten pachten. Ehemalige Workaholics, die pilgernd durch die Lande ziehen. Alle wollen entschleunigen. Bianca Schäb will eigentlich nur, dass ihr die Zeit ein bisschen langsamer vorkommt und das Leben ein bisschen länger. Mehr richtig statt schnell leben. Um herauszufinden, wie das geht, macht sich Bianca Schäb in ihrem Goggomobil (13 PS, Höchstgeschwindigkeit 50 km/h) auf die Suche nach Menschen, für die die Zeit nicht mehr so rast: Was macht es mit einem, wenn die Zeit stillzustehen scheint, wie in dem Kloster in den Bergen - oder aber den immergleichen Takt vorgibt, wie auf dem Bauernhof? Welche Tipps geben die Leute in der Burnout-Klinik ihren ausgebrannten Patienten? Lässt es sich in der Hängematte besser arbeiten und pilgernd besser leben? Vom bayerischen Dingolfing bis nach Berlin führt Bianca Schäb ihre Suche nach dem entschleunigten Leben. Sie frühstückt in der Google-Zentrale, meditiert auf dem Autobahnparkplatz, macht aus Versehen eine digitale Entgiftungskur (digital detox), absolviert ein Achtsamkeitstraining mit einer Rosine und redet wie ein Wasserfall im Schweigekloster. Und weiß am Ende, was Entschleunigung ganz sicher nicht ist: Verzicht.

Bianca Schäb, geboren 1985, ist freiberufliche User Interface Designerin in Frankfurt. Zuvor hat sie als Art Director für verschiedene Werbeagenturen und Unternehmen wie Jung von Matt, Interone, Leo Burnett oder McCann MRM gearbeitet. Im Juli 2015 startete sie mit ihrem Goggomobil zu einer dreitausend Kilometer langen, vierzigtägigen Entschleunigungstour quer durch Deutschland.

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Leseprobe

Kapitel 3 Die Sache mit der Rosine


Was du heute kannst besorgen, dass verschiebe nicht auf morgen: Ich wache auf und werde direkt daran erinnert, dass ich vergessen habe, Mückenspray zu kaufen. Man denkt ja, irgendwann hat man die maximale Anzahl an Mückenstichen erreicht. Von wegen. Ich bin übersät. Einer ist direkt auf dem Augenlid, das sich anscheinend auch entzündet hat. Es juckt höllisch. Und ich sehe aus wie nach einer üblen Schlägerei. Ich bin nicht besonders eitel, für ein Mädchen zumindest, aber gerade traue ich mich kaum aus meinem Anhänger raus. Wahrscheinlich wird mein Anblick die sicher sehr schicke Psychotherapeutin Eva, die mich heute besuchen will, ziemlich erschrecken, steigere ich mich rein. Am liebsten würde ich andere Menschen heute komplett meiden. Aber da muss ich jetzt wohl durch. Vielleicht ist auch diese Erfahrung ein Puzzleteil des großen Bildes der Entschleunigung, das sich am Ende der Tour sinnvoll zusammenfügt. Ich setze also die Brille auf und versuche nicht an den Juckreiz zu denken. Ein bisschen lächerlich komme ich mir in meiner Eitelkeit gerade schon vor …

 

Entschleunigung wird oft mit Achtsamkeit gleichgesetzt. Momentan bin ich sehr achtsam, was meinen Mückenstich betrifft. Das bringt mir jedoch überhaupt nichts, und ich denke, das kann unmöglich der Grundgedanke dieser ganzen Bewegung sein. Ein Freund hatte mir von seiner Bekannten in München erzählt, die sich beruflich mit den Themen Entschleunigung und Achtsamkeit beschäftigt. Eva hilft gestressten Menschen im Gespräch mit ihnen und durch gezielte Übungen aus ihrem «Trott» zu kommen. Um herauszufinden, ob die innere Einstellung tatsächlich dabei hilft, der Entschleunigung ein bisschen näher auf die Spur zu kommen, habe ich mich heute mit ihr verabredet.

Noch vor meiner Reise – als ich in der Psychotherapeutischen Praxis anrief, um zu erfahren, ob ich auch ohne Rezept eine Therapieeinheit auf meiner Tour bekomme – merkte ich, dass Eva sicher viele spannende Antworten auf meine Fragen haben wird. Aus einer sehr spannenden Perspektive allemal: Sie ist schließlich die Person, die tagtäglich mit Menschen spricht, die an ihrem eigenen Lebenstempo erkrankt sind. Männer und Frauen, mit vermutlich unterschiedlichsten Auslösern für ihr Leiden. Daraus schlussfolgere ich: Das Achtsamkeitstraining ist eine Methode, die persönlichkeitsübergreifend funktioniert. Ganz gleich, aus welchem beruflichen oder sozialen Umfeld man kommt und wo die Gründe für die Sehnsucht nach Entschleunigung liegen.

Psychotherapeuten neigen berufsbedingt dazu, einen geringeren Sprechanteil zu haben als ihr Klient und sich mit Tipps nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Der Klient soll bestenfalls selbst auf die Lösung kommen. Ich überlege, ob Achtsamkeit vielleicht bedeutet, dass man sich auf eine einzige Sache fokussiert und somit die Gedanken in eine Richtung lenkt. Für mich würde das heißen: weg von den Mückenstichen hin zu … Zu was eigentlich? Ich bin gespannt.

Von weitem sehe ich ein Auto, das aussieht wie der große Bruder vom Goggo. Es ist ein roter Mini mit weißem Dach, Münchner Kennzeichen. Das muss Evas sein. Es steigt eine zierliche, dunkelhaarige Frau aus. Hoffentlich gehört Eva zur redseligen Fraktion der Psychotherapeuten – mit einer einzigen Therapiestunde werde ich wohl kaum alleine hinter die Sache mit der Achtsamkeit kommen.

Der Kaffee, den ich mit meinem ultraleichten Campingkocher gebrüht habe, ist gerade fertig, und wir machen es uns am Camper gemütlich. Ich bin beruhigt, als sie gleich beginnt zu erklären: «Achtsamkeit bedeutet, dass man übt, konzentriert im Hier und Jetzt zu sein.»

Vom «Hier und Jetzt» wird mir oft erzählt, das scheint der Schlüssel zur ganzen Entschleunigungsnummer zu sein. Ganz vollständig erschließt sich mir dieser Begriff nicht. Aber er klingt verheißungsvoll. Ich verbinde damit ein Gefühl aus der Kindheit, in der man eigentlich immer nur von jetzt bis gleich gedacht hat. Deshalb hatte ich zum Beispiel einmal große Panik, als ich glaubte, meine Mutter im Kaufhaus verloren zu haben – nur weil ich sie kurz nicht sehen konnte. Ich dachte in diesem Moment: «Die finde ich nie wieder, jetzt muss ich ins Heim.» Vielleicht auch ein Grund, warum einem die Jahre in der Kindheit länger vorkommen, dieses rein intuitive Zeitgefühl, das man hat, verliert sich irgendwann.

Eva führt ihre Erklärungen fort: «Eine achtsame Grundhaltung bedeutet, auf akzeptierende Art und Weise die Dinge zu nehmen, wie sie eben kommen. Dabei versucht man, erst einmal nur zu beobachten und nicht gleich zu bewerten.»

Beobachten, ohne zu bewerten. Alles klar, das krieg ich hin.

«Bei deinem Mückenstich denkst du nicht gleich, das ist ja jetzt total ätzend, oder fragst dich, wie sieht das denn jetzt aus?»

Okay, bekomme ich in der Praxis wohl doch nicht so leicht hin. Ist es nicht normal, dass man es vermeidet, mit einem riesigen Mückenstich auf dem Auge in den Spiegel zu schauen, sich unwohl fühlt und sich ungern zeigt, wenn Mückenstiche, Pickel oder Beule gut sichtbar im Gesicht prangen? Ich würde mich als einigermaßen empathischen Menschen bezeichnen, und diese Stimme in mir sagt: «Es dient deinem eigenen Schutz, dass du dich fragst, wie das jetzt aussieht. Du bewertest das, andere werden es bewerten, und du möchtest dich dem nicht aussetzen.»

Eva sagt mir dazu: «Durch diese Bewertungen wird das Erleben stärker oder manchmal sogar beängstigender. Das heißt aber nicht, dass man jetzt alles total rational sehen soll und emotionsfrei durch die Gegend läuft. Man soll sich lediglich nicht direkt jedem Gefühl hingeben.»

Aha. Das klingt gut, so als könnte man mit diesem Training entspannter durchs Leben gehen und Mückenstich Mückenstich sein lassen. Und wie geht das?

Eva holt eine Packung Rosinen hervor. Es wird spannend, von der Rosinenübung munkelt man immer wieder. Es ist eine Achtsamkeitsübung für alle Sinne. Wobei man von einer Rosine ja nichts hören kann, deshalb betrifft es eher fünf Sinne. Reicht mir auch, fürs Erste! Die Übung geht folgendermaßen: Man nähert sich der Rosine an, stellt sich vor, man sei jemand von einem anderen Planeten, und beschreibt sie, als würde man zum ersten Mal in seinem Leben eine Rosine sehen. Dabei darf man sie nicht bewerten.

«Versuche mal zu beschreiben, was du siehst, wie das aussieht, was du siehst», bittet mich Eva.

«Also, sie ist rund», beginne ich vorsichtig. «Runzelig. Hat eine Struktur und sieht aus wie aus Plastik.»

Hier bekomme ich die erste Rote Karte. «Sieht aus wie Plastik» ist natürlich eine Bewertung.

Eva fragt weiter, danach, wie die Rosine sich anfühlt.

«Wie ein Schwamm oder ein Kaugummi», finde ich. Es folgt sogleich die zweite Rote Karte: Vergleiche sind eine Bewertung und somit in der Achtsamkeitsübung verboten. Neuer Versuch: «Die Rosine fühlt sich glibberig an.»

Bewertung, Bewertung, Bewertung!

Ich fühle mich, als müsse ich der Rosine gegenüber politisch korrekt auftreten: Das Ganze ist ein großes Beschreibungsminenfeld, und ich weiß schon gar nicht mehr, was ich sagen darf und was nicht. Gar nicht mal so leicht, etwas wertungsfrei zu beschreiben. Verrückt, wie sehr man selbst bei der Betrachtung einer Trockenfrucht von seinem Hintergrund, seiner Erziehung und Sozialisierung geprägt ist, wie diese Vergleiche und Assoziationen beeinflussen und hervorrufen. Ich finde, so eine Rosine ist aber auch ein schwieriges Objekt; sie ist ja von Natur aus nicht sonderlich hübsch. Man könnte meinen, ich sei der Rosine gegenüber nicht gerade positiv eingestellt – und vermutlich stimmt das auch. Eva hat zum Glück Geduld mit mir und lässt sich nicht anmerken, dass ich die Übung überdurchschnittlich schlecht absolviere.

«Okay, jetzt kannst du die Rosine in den Mund nehmen, aber noch nicht kauen. Erst mal nur mit der Zunge fühlen.»

«Hmmm, ja. Ist nicht so meins. Ich verstehe, warum manche Leute Rosinen eklig finden.»

Und wieder: BEWERTUNG!

Ich frage mich langsam selbst, warum ich mich nicht besser im Griff habe. Ich habe immerhin in der Theorie verstanden, worum es geht, aber es gelingt mir nicht, meine Beschreibung von meinen bisherigen Erfahrungen mit Rosinen zu lösen und aus meinem Wortschatz wertfreie Begriffe zu fischen – vielleicht so etwas wie «rau, geriffelt, fest» anstatt «Plastik, glibberig, eklig». Beschreiben, nicht bewerten.

Neuer Versuch: Ich darf die Rosine nun kauen. Ich kaue sehr langsam, konzentriere mich auf ihren Geschmack – und stelle überrascht fest, dass sie sehr viel intensiver schmeckt, als ich es kenne. Bei diesem Teil der Übung liegt mein Fokus tatsächlich ganz auf der Rosine. Und obwohl ich die Rosinenübung mit hoher Fehlerquote bestritten habe, muss ich zugeben: Ich habe in den letzten zwei Minuten an nichts anderes gedacht als die Rosine. Ich war da, im Hier und Jetzt! Schon der angestrengte – und leider auch missglückte – Versuch, nicht zu bewerten, ist ein Erfolg in Sachen Achtsamkeit. Und ich nähere mich der Erkenntnis, weshalb Achtsamkeit, das Verbleiben im Hier und Jetzt, so guttut.

Ich denke an einen Begriff, den ich erst kürzlich gelernt habe, «Monkey Mind». Das bedeutet übertragen: Die Gedanken hüpfen vom einen Thema zum anderen, sie schwirren, sie lassen einen nicht zur Ruhe kommen. Besonders in Momenten, in denen wir gerade geistigen und tätigen Leerlauf haben – etwa vorm Einschlafen –, fängt unser Gehirn an zu «ruminieren». In Ruhepausen käuen wir wie die Kuh ihr Essen unsere...

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