Einleitung Warum es sich lohnt, Ihr Gehirn besser kennenzulernen
«Warum hast du das bloß gesagt?», wiederholt Kai, dieses Mal lauter.
«Ich sag es noch mal: Es schien mir in dem Moment eine gute Idee!», antwortet Kais Gehirn. Es ist überhaupt nicht glücklich. Genauso wenig wie Kai.
Gemeinsam stolpern sie gerade die Treppe zu der Wohnung hinunter, aus der Susanne sie nach einem längeren Streitgespräch hinausbefördert hat.
«Eine gute Idee? Susanne fragt, woran ich denke, und du soufflierst mir: ‹Die Eurokrise›?»
«Es war nur wenig Zeit, eine gute Antwort zu formulieren. Das war eine spontane Eingebung», erklärt Kais Gehirn sachlich. «Es sollte intellektuell wirken.»
«Intellektuell wirken? Wir lagen im Bett!»
«Das habe ich in dem Moment nicht bedacht … Ich habe unter erschwerten Bedingungen gearbeitet: Du warst abgelenkt, da kann ich nicht alles richtig machen», fügt Kais Gehirn verschnupft hinzu.
Kai flucht: «Es würde reichen, wenn du etwas richtig machen würdest!!»
Sein Gehirn redet für den Rest der Woche nicht mehr mit ihm. Genauso wenig wie Susanne.
Wenn Sie Ihr Gehirn besser kennen würden, hätten Sie sehr viel mehr Geduld mit ihm. Das Gleiche gilt für Kai. Und die alltäglichen Probleme des menschlichen Zusammenlebens. Wir meistern sie besser, wenn wir unser Gehirn verstehen. Das sollte eigentlich nicht so schwer sein. Schließlich kennen wir unser Gehirn schon ziemlich lange und arbeiten tagein, tagaus eng mit ihm zusammen. Doch am Ende ist es wie mit dem Smartphone: Wir können es den ganzen Tag mit uns herumtragen, aber wenn uns jemand fragt, was dadrin vor sich geht, antworten wir: «Apps, Silizium … Zeugs?» Und dann wundern wir uns, wenn der Akku dauernd leer ist oder im Kino der Alarm losgeht.
Wenn Sie Ihr Smartphone durchschauen würden, wüssten Sie, was Ihren Akku aufbraucht oder Ihren Speicher füllt. Sie könnten die Phishingsoftware identifizieren, die Ihre Bankdaten ausspäht, oder Sie würden verstehen, warum Ihre Autokorrektur offensichtlich eine Meuterei plant.
Das Gleiche gilt für Ihr Gehirn. Sie hätten mehr Verständnis dafür, dass es zwar weiß, dass Sie etwas vergessen haben, aber nicht mehr was. Oder warum ihm die tollen Antworten immer erst einfallen, wenn Sie längst zu Hause sind und unter der Dusche stehen. Und warum es immer noch diese peinliche Erinnerung heraufbeschwört, die Sie längst vergessen wollten – vorzugsweise nachts um drei.
Sie könnten Ihr Gehirn auch ein bisschen mehr wertschätzen, seine Lernfähigkeit, die Flexibilität, die Dutzenden Rechenoperationen, die es jeden Tag vollzieht. Vor allem im Sozialleben. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Susanne noch mal mit Kai essen geht? Wenn man bedenkt, dass er – neben dem Fauxpas mit der Eurokrise – vorhin im Bett die Strümpfe angelassen hat? Was, wenn man beachtet, dass die beiden zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Monaten eine überwiegend glückliche Beziehung führen? Ihr Gehirn findet es leichter, diese Fragen zu beantworten als die, wann sich zwei Züge treffen, die mit jeweils 80 beziehungsweise 160 Stundenkilometern aus 100 Kilometer voneinander entfernten Städten losfahren. Dabei lässt sich letztere Aufgabe mit einer einfachen Formel lösen, während erstere bis heute kein Computer der Welt beantworten kann.
Menschen sind so unberechenbar, dass es jeden Service-Provider lahmlegen würde, das Gehirn aber offenbar nicht. Doch wie kommt das? Wie kann ein Organ Schlüsse über die Gedanken und Gefühle anderer Menschen ziehen, darauf eine einigermaßen passende Antwort formulieren, und das alles, bevor Ihr Gegenüber das Licht ausschaltet und entnervt ins Bett geht? Obwohl ihm über Ihre Sinnesorgane nur erschreckend wenige Informationen zur Verfügung stehen. Wie löst es diese Aufgabe? Was machen unsere 86 Milliarden Nervenzellen eigentlich den ganzen Tag?
Wenn wir das besser verstehen, verstehen wir vielleicht auch alles andere ein bisschen besser. Schließlich entspringen die meisten großen und kleinen Herausforderungen unseres Alltags alle irgendwann mal einem Kopf. Ziemlich häufig unserem eigenen. Ob Sie sich peinlich berührt fühlen, glücklich sind, leicht gereizt oder überbordend vor Energie – das koordiniert vor allem Ihr Gehirn. Es bestimmt auch mit, was Sie antreibt, ob Begeisterung oder hartnäckige Starrköpfigkeit, Konkurrenzkampf oder doch eine heimliche Anziehung. Immer mit dabei: Ihre gesammelten Erfahrungen, Moralvorstellungen und Erinnerungen, kurz: alles, was Sie eigentlich gerne mal entrümpeln würden. Daraus sollen Sie sich jetzt eine objektive Weltsicht basteln?
Und als ob es in Ihrem eigenen Kopf nicht schon verwirrend genug zuginge, muss Ihr Gehirn den ganzen Tag auch noch mit anderen auskommen. Mit den Eltern, dem Partner, Kollegen und dem nervigen Typ in der S-Bahn, der seine Musik auf voller Lautstärke lässt. Während unsere Vorfahren lediglich über Feuermachen, Bären oder harte Winter nachdenken mussten, leben wir in einer hochkomplexen Gesellschaft. Wenn man bedenkt, dass diese Gesellschaft von Menschen für Menschen gestaltet wurde, ist es eigentlich überraschend, dass uns das Zusammenleben in dieser Welt so schwerfällt. Ständig geraten wir aneinander, diskutieren oder schmollen. Auf globaler Ebene sind die Konsequenzen gravierend und manchmal sogar lebensbedrohlich. Mit den Worten des Schriftstellers Douglas Adams: Wir Menschen sind bis jetzt nicht ausgestorben, aber es ist nicht so, dass wir es nicht versucht hätten.
Wussten Sie, dass 1958 ein amerikanisches Flugzeug versehentlich eine Atombombe über South Carolina abwarf? Glücklicherweise ist sie nicht explodiert. Das ist nur ein Beispiel unter vielen für menschliche Doofheit und Zerstörungswut. (Es sei denn, der Weltfrieden ist mittlerweile eingetreten. In dem Fall: Glückwunsch, lesen Sie ruhig etwas anderes. Vielleicht was mit Pferden.) Eigentlich ist es gar kein Wunder. Unser Gehirn konnte ja nicht ahnen, wie sich diese Gesellschaft mal verselbständigt. Die Koordination von ein paar Denkorganen leistet es ziemlich meisterhaft, aber 80 Millionen? Oder sieben Milliarden? Mit Internetverbindungen? Da steht unser Gehirn nun also vor den Geistern, die es rief, und soll über Leute nachdenken, die es nie gesehen hat. Oder aus einer Kurznachricht einen emotionalen Ton herausfiltern. Ständig soll es sich um irgendeine Deadline sorgen und all die Konsequenzen seiner Handlungen bedenken. Obwohl die mittlerweile wirklich unübersichtlich geworden sind. Wie soll es all das durchblicken? Das Problem ist Zeit. Die Welt verändert sich rasend schnell, und unser Gehirn hatte einfach nicht genug Zeit, sich anzupassen. Jetzt ist es überfordert, gerät ins Stolpern, und wir kommen gar nicht hinterher damit, die Scherben aufzukehren.
Aber hier kommt die gute Nachricht: Dank der Neurowissenschaft haben wir in den vergangenen Jahrzehnten eine ganze Menge über unser Gehirn gelernt. Wie es funktioniert, was es braucht und wie wir ihm unter die Arme greifen können, um uns selbst und andere besser zu verstehen.
Soziale Neurowissenschaftler beobachten Menschen, mal in freier Wildbahn, mal im Labor, aber fast immer im Zwiegespräch mit anderen. Vor allem gucken sie, was währenddessen im Kopf der Beteiligten passiert. Sie versuchen, zwei Gehirne zu verstehen, die versuchen, sich gegenseitig zu verstehen. Das verkompliziert die Gleichung natürlich: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber weißt du, dass ich nichts weiß? Und weißt du, dass ich weiß, dass du das weißt? Und fällt das überhaupt auf? So geht jeder Gedanke hin und her, wie eine stille Post. Ein menschliches Gehirn ist ein Labyrinth. Zwei davon sind ein Spiegelkabinett. Doch die Frage, wie die beiden miteinander umgehen, ist genau die, die wir für das Zusammenleben beantworten müssen.
Aber wenn die Forschung bis dato noch nicht einmal ein Gehirn richtig versteht, ergibt es da überhaupt Sinn, dass wir uns direkt mit mehreren befassen? Die Frage ist berechtigt. Trotzdem lohnt sich der Blick aufs soziale Gehirn.
Denn unser Gehirn arbeitet nicht still für sich in einem Vakuum. Und im Gegensatz zu Physikern können die Neurowissenschaften nicht mal so tun, als ob. Es interagiert mit der Außenwelt und passt sich ständig an. Die anderen sind das Topthema unserer Gedanken. Überlegen Sie nur mal, wie oft Sie selbst an Menschen denken. Wie könnten wir also verstehen, was unser Gehirn den ganzen Tag so tut, wenn wir es immer nur allein betrachten?
Dann also Gehirne im Plural. Fangen wir mit zweien an.
Was passiert, wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, und warum wird das oft so schnell kompliziert? Um das zu beantworten, schauen wir uns im ersten Teil des Buches Situationen an, in denen zwei Gehirne zusammenkommen, und versuchen nachzuvollziehen, was dabei in ihnen vorgeht. Wie verstehen wir, was der andere tut, was er fühlt und was er überlegt? Wie überlebt das Gehirn ein Arbeitsessen oder ein Paargespräch? Und wie schafft es das, dabei so selten mit Gegenständen um sich zu werfen? Wie funktioniert das in unserem Kopf? Wann und von wem haben wir das gelernt? Und vor allem: Was kann dabei schieflaufen? Beziehungsweise was können wir daran verbessern? Lieber mehr oder weniger auf die Hormone hören? Redet unser Verstand eigentlich mit unseren Gefühlen? Und wenn wir jetzt ein Trainingsprogramm bestellen, kriegen wir dann noch ein Gratis-Messerset dazu?
Fragen über Fragen, und die Suche nach Antworten führt uns auf eine Reise durch die sozialen Neurowissenschaften, vorbei an diversen Kleinkindern, irrationalen Ängsten, ein paar Abgründen,...