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Wie ich
durch unglückliche Umstände
zunächst nicht geboren wurde
… dann aber mit gehöriger Verspätung
und dicht daneben
Leben ist Glückssache. Besonders am Anfang und am Ende. Wahrscheinlich wird es irgendwo ausgewürfelt, wann, wo und bei welchen Leuten man auf diese Welt kommt. Ebenso die Art und Weise, in der man sie wieder verlässt, sofern man sich nicht selbst um die Ecke bringt. Ich denke: Das Schicksal ist spielsüchtig und hat bisweilen nicht alle Tassen im Schrank. Erschwerend kommt hinzu, dass unser Leben genau genommen schon vor der Geburt beginnt. Mein erster großer Auftritt war bereits für das Jahr 1930 geplant, ist dann aber umständehalber verschoben worden. Die Ursachen dafür lagen unter anderem bei der französischen Artillerie. Aber der Reihe nach.
Meine vorgeburtliche Lebensgeschichte führt nach Leipzig. Ja, es ist wahr, ich bin ein Urberliner mit sächsischem Migrationshintergrund. Aber dieses Schicksal teilen viele Berliner Originale, nicht zuletzt der große und von mir sehr verehrte Heinrich Zille. Der kam mit seinen Eltern aus Radeburg bei Dresden. Ich bin ja wenigstens schon in Berlin geboren.
Zurück nach Leipzig um das Jahr 1910. Dort gab es die »Original-Leipziger Fritz Weber-Sänger«. Diese Truppe war eine fidele Mischung aus Operetten-Theater und Schlager-Revue, ein Vorbote der modernen Popkultur, die das 20. Jahrhundert noch derart prägen würde, dass man fürchtete, die Menschheit könnte sich schlussendlich zu Tode amüsieren. Eine völlig unbegründete Sorge, wie sich im Laufe der Zeit herausstellte. Als ausgesprochen lebensgefährlich hingegen – mitunter auch für meine Familie – erwiesen sich zwei ausgewachsene Weltkriege und zahlreiche kleinere Gemetzel.
Fritz Weber, der Prinzipal des Ensembles, war von der Vorsehung dazu auserkoren, mein Opa zu werden. Meine künftige Oma, Friedl Weber, besaß Autogrammkarten mit der Aufschrift »Frau Direktor Weber, Vortrags-Soubrette«. Sie war eine wirkliche Dame und ließ sich bis ins hohe Alter mit »Frau Direktor« ansprechen. Nur ich durfte später Oma zu ihr sagen. Aber ich greife wieder vor. Mein Erscheinen auf dieser Familienbühne zog sich etwas hin. Bis ich geboren werden konnte, sollte noch einiges passieren, anderes hätte besser nicht passieren sollen.
Es waren aufregende Zeiten an der Pleiße. Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal wurde eingeweiht, vielleicht ist das Weber-Ensemble ja im Rahmen der Feierlichkeiten aufgetreten. Oder zur Gründung des Deutschen Fußballbundes, ebenfalls in der Messestadt. Nicht auszudenken, wenn die durchaus erfolgreichen Fritz-Weber-Sänger ein Engagement auf dem neuen Super-Traumschiff »Titanic« bekommen hätten! Ich hätte keine Chance gehabt. Auch wenn sich meine potenzielle Soubretten-Großmutter in Enrico Caruso verliebt hätte, der in dieser Zeit zum ersten Plattenstar der Musikgeschichte wurde. Sie wäre vermutlich mit ihm durchgebrannt. In Leipzig bestand 1913 auch die reale Möglichkeit, von einem Löwen gefressen zu werden. Acht edle Raubkatzen des Zirkus »Barum« waren entwichen und trieben sich in der Stadt herum. Die meisten wurden erschossen. Durchaus denkbar, dass einer von ihnen sich an Friedl Weber verschluckt hätte. Sie soll sehr giftig gewesen sein. Das alles geschah Gott sei Dank nicht.
Die Schicksalslotterie sorgte dafür, dass »Frau Direktor« ihrem Fritz drei talentierte Kinder schenkte, die dann auch schon bald mit auf der Bühne standen: Erich, Trompete und Gesang; Herta, Sopran, und schließlich das Nesthäkchen Melitta, meine liebe Mama, am Piano. Mit ihrem Auftritt war ich meiner Existenz einen wesentlichen Schritt näher gekommen.
Opa Fritz blieb es erspart, in den ersten großen Krieg zu ziehen. Stattdessen stieg, wie immer in schlechten Zeiten, der Bedarf an guter Laune. Die Weber-Bühne zog in die Reichshauptstadt und feierte dort bescheidene Triumphe. Die zwanziger Jahre wurden auch für den Weber-Clan eine vergoldete Zeit.
Tochter Melitta, eine kleine, zierliche Person mit fast knabenhafter Figur, hatte in Berlin eine gute Partie gemacht, wie man damals sagte. Die Partie bestand aus dem wohlhabenden Direktor der Firma Siemens. So ein Mann war in den unsicheren zwanziger Jahren ein soziales Geschenk des Himmels … Und das Beste: Sie liebte ihn wirklich. Es war wohl die große Liebe ihres Lebens. Die beiden haben geheiratet, und Melitta freute sich auf die dem Hochzeitstage folgende Nacht. Das Paar hatte sich an damals bereits überkommene Konventionen gehalten und auf Sex vor der Ehe verzichtet. Oder im Stil der Zeit ausgedrückt: Es kam nicht zum Äußersten. Das war insofern ein fataler Fehler, als dass sich nun herausstellte, Melittas geliebter Direktor war im Verlaufe des Ersten Weltkrieges wesentlicher Körperteile verlustig gegangen. Der scharfkantige heiße Splitter einer französischen Mörsergranate hatte ihn seiner Männlichkeit beraubt. Daraus kann man dem Geschädigten keinen Vorwurf machen. Er hatte es allerdings verabsäumt, diese Tatsache seiner Braut frühzeitig mitzuteilen. Obwohl oder vielleicht gerade weil er wusste, was Melitta sich sehnlicher wünschte als alles andere auf der Welt: mich. Sie wünschte sich von ganzem Herzen ein Kind, einen Walter. Eine Waltraut wäre ihr sicher auch recht gewesen. Und ihr kriegsversehrter Ehemann machte ihr schließlich ein sehr modernes Angebot, er sagte: »Litti, such dir einen, der dir ein Kind macht – und das ist dann unseres. Ich werde es genau so lieb haben, als wär’s von mir.«
Ich denke, er hat meine Mutter mindestens so geliebt wie sie ihn. Sie war hin- und hergerissen, aber sie konnte nicht über ihren Schatten springen. So etwas Grausames wollte sie ihrem Mann nicht antun. Sie glaubte nicht, dass die kleine Familie auf diese Weise glücklich werden würde. Melitta verließ den Direktor, und ich wurde bis auf Weiteres nicht geboren. Der Direktor hätte mein Vater werden können, wenn er gekonnt hätte.
Die junge Pianistin kehrte auch künstlerisch zurück in den Schoß der Familie. Vater Fritz war eng befreundet mit einem absoluten Superstar, dem wahrscheinlich ersten deutschen Entertainer und Medienstar überhaupt, Otto Reutter. Seine Couplets sind bis heute nicht totzukriegen. Irgendeiner singt sie immer, zum Beispiel den »Überzieher« oder »In 50 Jahren ist alles vorbei«. Peter Frankenfeld hatte damit einen Riesenerfolg, und auch in meinem Leben sollte Reutter noch eine große Rolle spielen. Böse Zungen behaupten, ich wäre dem Alten mit den Jahren immer ähnlicher geworden. Das ist natürlich eine Unverschämtheit, vor allem wenn man weiß, wie Kurt Tucholsky Otto Reutter beschrieben hat: »Ein schlecht rasierter Mann mit Stielaugen, der aussieht wie ein Droschkenkutscher, betritt in einem unmöglichen Frack und ausgelatschten Stiefeln das Podium. Er guckt dämlich ins Publikum und hebt ganz leise so für sich zu singen an.« Auch wenn es nicht so klingt: Tucholsky war ein großer Bewunderer des schlecht rasierten Mannes mit den Stielaugen. Was meine eigene innige Beziehung zu Otto Reutter angeht, so wurden auch in diesem Falle die Weichen meines Schicksals erst mal ohne mich gestellt.
Otto Reutter kam zu Fritz Weber und bat quasi um die Hände seiner Tochter Melitta. Das heißt, er wollte sich die Pianistin des Unternehmens ausborgen, weil sein bisheriger Klavierspieler ausgefallen war. Opa Fritz konnte seinem berühmten Freund kaum etwas abschlagen, und Melitta begleitete den Vortragskünstler auf einigen Gastspielreisen kreuz und quer durch Deutschland. Die beiden müssen außerordentlich gut harmoniert haben, denn das Publikum war begeistert und die Säle waren ausverkauft. So dauerte es nicht lange und Reutter fragte an, ob er die höchst talentierte junge Frau nicht zu seiner ständigen Begleiterin machen könne. Dieses Anliegen von einem der ganz Großen kam einer Krönung gleich. Fritz Weber fühlte sich auch durchaus geehrt, zog aber seine ganz eigene Schlussfolgerung und beschied dem verblüfften Reutter: »Geld verdienen, mei’ lieber Otto, kann ich mit meiner Tochter ooch alleene.« Und das tat er dann auch. Meine Mutter kehrte also zurück zur Familie, aber diese kurze Episode mit dem legendären Otto Reutter hatte langfristig gravierende Folgen. Und zwar für mich und mein Leben. Aber das dauert noch.
Vorerst pflegten die Original Leipziger Weber-Sänger weiterhin die unpolitische Art der Bühnenunterhaltung, was sich zunächst auch bezahlt machte, denn als die Nazis an die Macht kamen, wurde eher das Kabarett verboten, nicht das Cabaret. Webers Truppe bot nicht nur musikalische Programme, auch Burlesken und Possen gehörten zum Repertoire. Sie stammten, so jedenfalls hat man es mir gesagt, aus der Feder von Onkel Ernst. Dieser war der Gatte meiner Sopran-Tante Herta. Die Stücke von Ernst Hofer hießen zum Beispiel »Die Gräfin auf Abwegen« oder auch »Etüden des Herzens«. Diese Titel lassen eine besonders amüsante Spielart von schwülstigem Unsinn vermuten. Die Vermutung wurde Gewissheit, als ich erfolglos versuchte, wenigstens eines dieser in meinem Besitz befindlichen Werke zu lesen. Das war sehr volkstümlich – aber wenigstens in keiner Weise völkisch.
Dann starb Fritz Weber unerwartet an Leberzirrhose. Unerwartet auch deshalb, weil der allseits beliebte Opa niemals getrunken hatte. Er gehörte zu den Glücklichen, die auch ohne Alkohol lustig sein können. Es hat ihm nichts genutzt. Onkel Ernst übernahm die Leitung des Unternehmens – und die Webers kämpften im folgenden Weltkrieg zunächst einmal an der heimatlichen Front der Unterhaltung.
Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, war für meinen Geschmack zwar herzlich unsympathisch und einer der größten...