Kapitel 1
Ich war fünfunddreißig, als mein erstes Kind geboren wurde. Julian war weiß Gott ein Wunschkind!
Sieben Jahre lang hatte ich mich Hormontherapien unterzogen. Alles, was die moderne Reproduktionsmedizin zu bieten hatte, hatte ich versucht. Unzählige künstliche Befruchtungen ließ ich über mich ergehen. Nach einer Fehlgeburt in der sechsten oder siebten Schwangerschaftswoche wollte ich einmal fast aufgeben. Ich war psychisch stark angeschlagen, und auch körperlich litt ich unter den starken Hormongaben. Unterleibsentzündungen und Zysten, die so schmerzhaft waren, dass ich mich kaum noch bewegen konnte, drückten nicht nur auf meinen Körper, sondern auch auf meine Seele.
Mein Freund Frank ließ endlose Untersuchungen beim Andrologen über sich ergehen, brachte ebenfalls eine Hormontherapie und eine Krampfaderverödung hinter sich.
Sieben Jahre lang bestand unsere Beziehung nur aus einem einzigen, allumfassenden Thema: unserem Wunsch nach einem Kind. Sieben Jahre lang widmeten wir uns mithilfe der Medizin ausschließlich der Zeugung eines gemeinsamen Babys.
Irgendwann fand ich mich damit ab, dass wir kein Kind bekommen würden, und dachte dabei an die Abtreibung zurück, für die ich mich mit zweiundzwanzig entschieden hatte, weil ich glaubte, dass ein Kind noch nicht in mein Leben passte. In Momenten der Trauer kam mir sogar oft der zerstörerische Gedanke, dass meine Kinderlosigkeit die gerechte Strafe für mein damaliges »Vergehen« sein könnte …
Als ich schließlich aufgeben wollte, weil ich körperlich und seelisch am Ende war, gerieten Frank und ich in eine schwere Krise. Ich hatte die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens erkannt und wollte um keinen Preis auch nur noch eine einzige Hormontablette schlucken. Da Frank sich darüber im Klaren war, dass unsere ungewollte Kinderlosigkeit wohl eher an ihm als an mir lag, hatte er große Angst, mich zu verlieren. Doch es gelang uns, unsere Beziehung noch einmal zu kitten.
Wir hatten uns auf ein Leben ohne Kind eingestellt, als im Mai 1993 meine Regel ausblieb. Eine Woche später machte ich einen Schwangerschaftstest und fiel aus allen Wolken. Ich war tatsächlich auf ganz natürliche Art schwanger geworden!
Überglücklich fiel ich Frank um den Hals. Wir würden ein Baby haben!
Obwohl ich täglich bangte und an einen glücklichen Ausgang nicht zu glauben wagte, verlief die Schwangerschaft weitgehend problemlos.
Sorgen bereitete mir in dieser Zeit nur mein Freund, der sich plötzlich verändert zu haben schien. Er war aggressiv und streitsüchtig, und oft kam es zwischen uns zu heftigen Auseinandersetzungen.
Nach einem besonders schlimmen Streit passierte es dann: In der 27. Woche setzten vorzeitig die Wehen ein.
Um die Schwangerschaft nicht zu gefährden, musste ich zehn Wochen lang liegen, aber das schien mir nach all den Jahren enttäuschter Hoffnungen ein geringer Preis für das Glück zu sein, ein eigenes Kind zu haben.
Zunächst lag ich im Krankenhaus am Tropf und war so wütend auf Frank, dass ich ihm in den ersten Tagen verbot, mich zu besuchen, weil ich mich vor weiteren Aufregungen schützen wollte.
Doch schließlich ließ ich ihn zu mir.
Er war zerknirscht und voller Reue und wusste sehr wohl, dass er unser Kind in diese lebensbedrohliche Lage gebracht hatte.
»Wenn dieses Kind stirbt, bring ich dich um!«, erklärte ich ihm und war mir bewusst, dass das neue Leben in mir bereits zu diesem Zeitpunkt größere Bedeutung für mich hatte als meine Beziehung zu Frank. »Fass mich nie wieder an!«
Er nickte nur und ging.
Einige Tage später wurde ich entlassen und musste zu Hause weiter liegen. Ich bekam wehenhemmende Mittel und durfte nur auf die Toilette und zum Arzt. Ansonsten lag ich auf der Couch und konnte nicht schlafen, weil die Wehenhemmer mir rasendes Herzklopfen verursachten und mein Baby meinen Bauch zu einem Turnstudio erklärt hatte. Offensichtlich war es ebenfalls schlaflos.
Die schönste Zeit für mich und das Baby war, wenn Frank um halb fünf aus dem Haus zur Arbeit ging. Bis elf Uhr, wenn er wieder heimkehrte, hatten wir unsere Ruhe.
Frank rührte mich zwar nie wieder an, aber er war sehr gereizt und schrie mich oft an. Ständig versuchte er, mich zu provozieren, und warf mir völlig irrationale Vorwürfe an den Kopf.
Ich schwieg zu all dem und ließ mir aus Angst um mein Baby schlimme Beleidigungen gefallen.
Ich hatte mich vollkommen von ihm zurückgezogen und sprach nur noch das Notwendigste mit ihm.
Von meiner Couch im Kinderzimmer aus schaute ich mir eine Talkshow nach der anderen an, die sich an Niveaulosigkeiten überboten.
Unser Sohn Julian kam fünf Tage vor dem errechneten Geburtstermin per Kaiserschnitt zur Welt. Der Muttermund hatte sich trotz zwölfstündiger Wehen immer noch nicht geöffnet, und als meine Kräfte mich allmählich verließen, entschied man sich, das Baby zu holen.
Es war völlig gesund, und ich hielt mich für die glücklichste Mutter der Welt. Die Folgen der Operation erforderten, dass ich knapp vierzehn Tage im Krankenhaus blieb, bevor für uns zu Hause der Alltag mit Kind begann.
Ich erlebte alles andere als eine glückliche Baby-Zeit, denn die Aggressivität meines Freundes hatte in keiner Weise nachgelassen.
Seit Julian auf die Welt gekommen war, stritten wir uns täglich. Ich war längst aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen und schlief nun im Kinderzimmer neben der Babywiege.
Meistens ging ich schon früh zu Bett, aber ich konnte erst ein Auge zumachen, wenn ich hörte, dass mein Freund sich ins Bett zurückzog. Sobald ich sein lautes Schnarchen hörte, schloss ich meine Tür ab, um ein paar Stunden Ruhe zu finden.
Einmal bemerkte Frank, dass ich mich eingeschlossen hatte. Wie ein Verrückter trat er gegen die Tür, tobte und schrie, dass er mich umbringen werde, wenn ich nicht sofort aufmachen würde.
Voller Panik öffnete ich ihm. Sofort ging er mir an den Hals. Während ich auf der einen Seite der Wiege und er auf der anderen stand, starrte uns unser Sohn mit weit aufgerissenen Augen angstvoll an. Bis heute reagiert mein Sohn panisch, wenn er beispielsweise eine Szene im Fernsehen sieht, in der jemand gewürgt wird.
Als mein Freund von mir abließ, riss ich das Telefon an mich und rief panisch meinen Schwager an, der mich sofort holte.
Was war aus Frank geworden? Woher kam diese Veränderung? Warum war er so gewalttätig, so rücksichtslos und launisch?
Ein paar Tage blieb ich bei meiner Schwester, bis mein Freund mich überreden konnte, zu ihm zurückzukehren.
Doch es änderte sich nichts.
Aus Angst um mein Baby ging ich irgendwann sogar mit einem Küchenmesser bewaffnet ins Bett.
Drei Monate nach der Geburt unseres Sohnes stellte ich mich der entsetzlichen Wahrheit: Mein Freund war nach fünfzehn Jahren Alkoholabstinenz wieder rückfällig geworden.
Meine Welt brach zusammen! Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht mit dem Naheliegendsten! Ein Alkoholiker bleibt sein ganzes Leben lang krank, und selbst nach Jahrzehnten kann die Krankheit wieder ausbrechen.
Als Frank mir weinend am Ostersonntag 1994 gestand, dass er rückfällig geworden sei, reagierte ich völlig ruhig. Ich war geschockt und wusste, dass ich überlegt und bedächtig handeln musste.
»Okay«, sagte ich. »Das ist ein Rückfall, ich helfe dir. Ich bringe dich auf der Stelle ins Krankenhaus! Nach der Entgiftung überlegen wir uns die Anschlusstherapie. Doch eines muss dir klar sein: Beim nächsten Rückfall bin ich weg, und zwar für immer!«
Wir fuhren mehrere Krankenhäuser ab, doch am Ende wollte Frank nirgendwo bleiben und verschwand in der Nacht.
Irgendwann kehrte er heim und machte ein furchtbares Theater im Flur, sodass ich schließlich gezwungen war, die Polizei zu rufen. Sie konnten Frank zwar nicht zwangsweise einweisen, doch sie überredeten ihn schließlich, mit ins Landeskrankenhaus zu kommen.
Rasch packte ich eine Tasche mit den nötigsten Utensilien und war froh, als ich die Wohnungstür schließen konnte.
Julian weinte in seinem Maxi Cosi, und ich nahm ihn zärtlich auf, um ihn zu stillen.
Endlich war Ruhe eingekehrt.
Die nächsten Tage verbrachte ich wie in Trance.
Ich saß nur im Wohnzimmer herum, kümmerte mich um Julian, aber nicht mehr um mich. Ich aß und schlief nicht, sondern saß nur da und weinte lautlos vor mich hin.
Meine Mutter rief sehr oft an und versuchte, mich zu trösten. »Mami, wenn er tot wäre, wäre das leichter zu ertragen! Aber das! Unsere Beziehung ist am Ende. Er wird es nie schaffen, das weiß ich.«
Ich sollte Recht behalten.
Im Juli 1994, als unser Sohn sieben Monate alt war, war unsere Beziehung schließlich ganz am Ende. Ich hatte versucht, meinem Freund zu helfen, hatte endlose Gespräche mit ihm und seinen Ärzten geführt, gehofft, vertraut, misstraut und schließlich aufgegeben.
Wir trennten uns, und ich zog vorübergehend mit meinem Sohn in eine Souterrainwohnung im Haus meiner Mutter. Eine konfliktreiche Zeit begann, und ich litt unter der Abhängigkeit von meiner Mutter. Dazu kam die Ungewissheit, wie es weitergehen würde. Ich hatte nur wenig Geld und zudem meine Arbeit verloren, weil meine ehemalige Firma sich aufgelöst hatte.
Es wurde ein heißer, schwerer Sommer für Julian und mich. Dennoch war ich erleichtert über die Trennung. Die Angst, die mein ständiger Begleiter geworden war, fiel von mir ab, und während der ersten Nacht in meinem Kellerappartement schwor ich mir, dass ich nie wieder Angst vor einem Mann haben...