PROLOG
Auf dem Balkon ist es mucksmäuschenstill, dafür trommeln die Gedanken in meinem Kopf umso lauter. Dreimal habe ich mein Job-Tagebuch bereits gelesen. Jetzt liegt das rot-weiß gestreifte Buch vor mir auf dem Tisch, und aus den Seiten ragen die gelben Post-its heraus, als wollten sie mich ermahnen, sie nicht zu vergessen. Das wird wohl kaum möglich sein, nach dem was ich jetzt weiß.
Am Tag zuvor:
Donnerstag, 19. Mai 2016, 5:15 Uhr
Mein Sommerkleid weht leicht im Wind, während ich voll des Glücks auf einem riesigen Wildkräuterfeld tanze. Es riecht nach Breitwegerich und Hopfenklee, nach Quecke und Löffelkraut. Gerade pflücke ich eine Handvoll Schafgarbe, als in den Wolken ein gigantischer Vitamix Pro 3000 am Himmel erscheint. Das Streichensemble spielt auf, und begeistert strecke ich meine Hände nach oben, um dem Mixer zuzujubeln. Jaaa! Hieeeer! Komm zu mir, lieber Pro 3000. So lange habe ich auf dich gewartet, und endlich ist es soweit – endlich ist Smoothie-Zeit!
Der Wecker klingelt. In Windeseile ersticke ich das laute Geräusch unter der Bettdecke und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Streichensemble in meinem Hinterkopf wird vom lauten Schnarchen meines Ehemannes abgelöst, und überraschenderweise hängt auch kein gigantischer Mixer an unserer Schlafzimmerdecke. Ich rieche zwar weder Breitwegerich noch Schafgarbe, aber der Duft von Frühlingsmorgen ist auch nicht zu verachten. So sehr ich es auch hasse, um fünf Uhr morgens aufzustehen, so sehr liebe ich diesen Morgenduft.
Nun vollends in der Realität angekommen, stelle ich den Wecker geräuschlos zurück an seinen Platz und schäle mich aus dem Ehebett. Mein Mann schläft tief und fest, und so kann ich ruhigen Gewissens noch schnell meine Kleidung für den Tag aus dem Schrank ziehen. Eigentlich wollte ich mir meine Klamotten schon immer am Vorabend herauslegen, damit ich mir und ihm das Gewühle am Morgen ersparen kann. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich am Abend vorher schon weiß, was ich am nächsten Tag für die Arbeit anziehen will, geht quasi gegen null. Und so wurschtele ich mich auch heute Morgen wieder durch Businessblusen, -hosen und -kostüme, nur um am Ende doch wieder bei Rock und Strickjacke zu landen.
Auf meinem Weg zur Küche passiere ich die Kinderzimmer, und im Gegensatz zu meinem Mann haben meine Kinder gar keinen festen Schlaf. Ich schleiche mich also an ihren Türen vorbei und kann mit Stolz behaupten, hierbei absolut geräuschlos vorzugehen. Es mag ja sein, dass es Mütter gibt, die total darauf abfahren, die Kids in aller Herrgottsfrühe und im Businessoutfit am Hals zu haben, aber ich gehöre nicht dazu. Ich bin gerne alleine – gerade sehr früh am Morgen. Abgesehen davon habe ich mit meinem Mann einen Deal: Er kümmert sich um die Kinder am Morgen, ich übernehme den Nachmittag. Und ich begrüße es sehr, wenn sich alle an diese Abmachung halten.
Kurz vor der Küche fällt mir endlich die Erklärung zu meinem Kräuterfantasy-Traum ein: Ich habe gestern Abend gelesen, dass US-Topmanagerinnen ihren Arbeitstag mit Wildkräuter-Smoothies beginnen. Wobei explizit erwähnt wurde, dass es sich um Wildkräuter handeln muss. Denn nur dann wird der Smoothie zu einem Säftchen, das einen total dufte draufkommen lässt und somit für die nächsten zwölf Stunden die Falten aus dem Gesicht flext. Dafür dass ich den Artikel gestern Abend noch als völlig lächerlich abgestempelt habe, ist er mir überraschend nachhaltig im Gedächtnis geblieben.
Mit routinierten Arbeitsabläufen befördere ich Wurst, Butter und Brot auf den Küchentisch und frage mich, ob ich überhaupt jemals Schafgarbe oder Fingerkraut im Haus hatte. Wahrscheinlich nicht, denn ich weiß noch nicht einmal, wie das Zeug aussieht. Da guckt man seine halbe Kindheit Peter Lustigs „Löwenzahn“ und lernt rein gar nichts über Wildkräuter? Kann ja irgendwie auch nicht sein! In geübter Lieblosigkeit mache ich den Kindern das Schulbrot. Wenn ich überschlage, wie viele Salamischeiben die beiden seit Kindergartenbeginn schon auf ihren Stullen hatten, bin ich mir sicher, dass sie mit ihren gerade einmal sieben und neun Jahren wohl jeweils eine halbe Sau verspeist haben müssen. Wobei – wenn ich die Scheiben abziehe, die ich nach der Schule unangetastet in den Mülleimer werfe, dann müsste die Kilozahl hoffentlich noch im empfohlenen Jahresrahmen der Weltgesundheitsorganisation liegen. Ich wette, dass keine US-Karriere-Mom ihren Kleinen jemals so etwas Ungesundes wie Salami aufs Brot legen würde. Nun gut, muss sie ja auch nicht. Denn wenn sie sowieso schon um 4:12 Uhr wach ist, um sich den Smoothie zu pürieren, dann kann sie den Kleinen doch auch schnell noch ein Gemüseomelett mit Dinkelbrownies kredenzen. Etwas ruppiger als geplant stopfe ich die Brote in zu kleine Tupperboxen, und endlich ist es Zeit für einen Kaffee.
Ich schalte den Kaffeevollautomaten ein und lege, wie üblich, ein Geschirrtuch und meinen Oberkörper über das Mahlwerk unserer Jura-Maschine. Wir befinden uns im Jahr 2016. Die technischen Entwicklungen der vergangenen Jahre können sich wirklich sehen lassen: Autos fahren von alleine, und die Armbanduhr ersetzt den Hausarzt. Aber was zum Teufel haben Unternehmen wie Krups, Saeco und Jura in den letzten Jahren gemacht? Wieso entwickeln sie immer noch Kaffeevollautomaten, die beim Kaffeemahlen die Dezibel eines Rasenmähers erreichen und damit unweigerlich auch noch das letzte tief schlummernde Kind aus dem Schlaf reißen?
Mit meiner Jumbotasse voll heißem Kaffee in der Hand gehe ich ins Bad, schalte Licht und Radio an und stelle mich unter die Dusche. Durch das Plätschern des Wassers dringt das Lied „Are you with me“ von Lost Frequency zu mir, das mir von den Radio-DJs seit gut einem Jahr als „aktueller Sommersong“ verkauft wird. Ich frage mich, ob es nicht eine Ironie des Schicksals ist, dass man sich eine Lost Frequency wünscht, wenn man Lost Frequency hört? Als ich nach dem Song auch noch von zwei hochgradig nervigen Schwaben dazu aufgerufen werde, ihr bescheuertes Müsli zu probieren, reicht es mir endgültig. Ich drehe das Wasser ab und steige aus der Dusche mit dem Ziel, mir meine beruhigende Wellness-CD anzumachen. Begleitet von Klängen eines tropischen Wasserfalls und Vogelgezwitscher trockne ich mich in Ruhe ab und gehe gedanklich meinen Arbeitstag durch.
Donnerstag ist bei mir ein absoluter Härtetag. Meetings von morgens bis abends. Den ganzen Tag werde ich von einem Termin zum anderen rennen und meine Mailbox zwischendrin nur in homöopathischen Dosen abarbeiten. Ich werde nichts schaffen, nur um schlussendlich heute Abend und hier zuhause dann den Job zu machen, für den ich eigentlich bezahlt werde, nämlich für die Weiterentwicklung unserer Mitarbeiter zu sorgen. Als Chefin der Trainingsabteilung wäre das theoretisch meine Hauptaufgabe. Praktisch habe ich die letzten zwei Jahre kein einziges Training mehr konzipiert, sondern ausschließlich von unserem amerikanischen Mutterkonzern implementiert. Aber sei’s drum.
Als ich nach der Niveacreme greife, streift mein Blick mein Spiegelbild, und ich bleibe abrupt daran hängen. Ich schaue mich lange im Spiegel an. Fixiere mich eine ganze Weile, bis ich mit meinem Gesicht ganz nah an den Spiegel herangehe und mein Gegenüber mit überzeugter Stimme wissen lasse: „Du hast keinen Bock. Null Bock hast du!“
Die Musik wechselt zu seichten Pianoklängen, und ich nehme wieder den üblichen Abstand zum Spiegel ein. Beim Griff zur Rundbürste geht, wie mittlerweile fast jeden Morgen, mein Gedankenkarussell los:
Was habe ich in letzter Zeit nur immer an meinem Job herumzumäkeln? Na ja, in letzter Zeit? Immerhin bin ich schon über achtzehn Jahre in dem Laden.
Eigentlich umso schlimmer! Warum gefällt es mir auf einmal nicht mehr? Oder ist das nur eine Phase?
Die dauert dann aber ganz schön lange. Na ja, ist ja auch kein Wunder. Mal ehrlich, was kann ich in meinem Job überhaupt noch bewirken? Es wird doch gar nicht gesehen, was ich dort leiste. Die Chefs sind nur mit sich selbst beschäftigt. Keiner da, der einen mal motiviert oder wertschätzt.
Autsch! Die Lockenbürste hat sich in meinen Haaren festgekrallt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rupfe ich das Ding aus meinen Haaren und ziehe es vor, die letzten Schritte meines Morgenrituals konzentriert durchzuführen. Zwanzig Minuten später sitze ich, eher mangelhaft onduliert, in meinem Wagen.
Die Fahrt zu meinem Arbeitgeber, einem Versicherungsdienstleister, dauert um diese Uhrzeit knapp fünfundzwanzig Minuten, die ich bei laut aufgedrehter Musik sehr genieße. Als ich auf die Autobahn auffahre, denke ich an meinen Traum zurück. Mir ist natürlich klar, dass dieser vor allem eins ist: der Beleg dafür, dass mit mir etwas nicht stimmt. Denn jetzt mal ehrlich: Über solche Artikel hätte ich mich früher kaputtgelacht, und sie hätten mich nicht die Bohne interessiert. Einen Scheiß hätte es mich gekümmert, was amerikanische Topmanagerinnen am Morgen trinken. Aber heute? Heute...